Kein sozialer Friedensstifter

Friedensnobelpreis Wer als Staatenbund eine solche Auszeichnung erhält, sollte guten Gewissens erklären können: Geltende Verträge und Verpflichtungen werden eingehalten. Kann das die EU?
Einen sozialen Frieden kann das Nobelpreiskomitee mit seiner Verleihung kaum gemeint haben, denn die EU kümmert sich vor allem um Hochfinanz und setzt soziale Existenzen aufs Spiel
Einen sozialen Frieden kann das Nobelpreiskomitee mit seiner Verleihung kaum gemeint haben, denn die EU kümmert sich vor allem um Hochfinanz und setzt soziale Existenzen aufs Spiel

Foto: Pedro Armestre/AFP/Getty Images

Es gibt ein mythisches und ein reales Europa. Das mythische – man könnte auch sagen: das Europa der Politiker – hat am 10. Dezember 2012 in Oslo den Friedensnobelpreis erhalten. Gefeiert und hofiert, als sei dieser Staatenbund augenblicklich mehr als ein Heilversprechen auf ein glimpfliches und irgendwann eintretendes Ende der Eurokrise, mehr als der Statthalter einer in die Jahre gekommenen Idee, mehr als ein Artist auf dem Hochseil der Großversprechen.

Thorbjørn Jagland, Chef des norwegischen Nobelkomitees, befand in seiner Laudatio, „dass Europa von einem Kontinent des Kriegs zu einem Kontinent des Friedens geworden ist". Einen sozialen Frieden kann er damit kaum gemeint haben. Als sozialer Friedensstifter kann sich die Europäische Union weniger denn je rühmen, geschweige denn für eine solche Auszeichnung empfehlen. Millionen ihrer Bürger haben in den vergangenen Jahren erfahren müssen, wie rücksichtslos ihre soziale Existenz und Identität geschleift werden können. Dieses reale Europa lässt keinen Raum für all die prächtigen Visionen, wie sie im Rathaus von Oslo beschworen wurden. Es folgt den Imperativen der Hochfinanz und eines Unternehmertums, das im Neoliberalismus – und zwar dem durch die Eurokrise noch einmal auf die Spitze getriebenen – die Gewähr für seine Gewinntranchen weiß. Dieses Europa verweigert sich – ob in Griechenland, Spanien, Portugal, Ungarn oder Italien und nicht nur dort – der sozialen Gerechtigkeit für seine Bürger und offenbart ein Glaubwürdigkeitsdefizit, das eines Nobelpreisträgers unwürdig ist. Wer durch eine Preisverleihung dieser Kategorie erhöht wird, sollte die nötige politische Integrität besitzen, um guten Gewissens sagen zu können: Wenn auch die Finanzkrise dazu führt, dass Europa viele Verheißungen schuldig bleibt – an die geltenden Verträge hält sich dieser Staatenbund. Das gilt, komme, was da wolle.

Gilt noch die Sozialcharta?

Nichts dergleichen ist der Fall. Es sei daran erinnert, dass mit dem 2007 geschlossenen und seit 2009 wirksamen Vertrag von Lissabon, der die 2005 gescheiterte EU-Verfassung ersetzt, auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Kraft gesetzt wurde, die sowohl die Menschenrechtskonvention als auch die Europäische Sozialcharta in sich aufnimmt. Damit ist ein Prinzipien- und Wertekatalog gemeint, der erstmals 1961 zustande kam und 1996 novelliert wurde. Darin haben sich alle Mitgliedsstaaten der EU dazu bekannt, dass es ein Recht auf Arbeit, ein Recht auf Wohnen, auf soziale Sicherheit und den sozialen Schutz der Familie gibt. Wanderarbeitern oder eben Arbeitsmigranten, wie sie in der EU inzwischen millionenfach unterwegs sind, wurden gesonderte Schutzrechte zugestanden.

Man halte sich vor Augen, dass es heute in der EU als Teil eines sinnvollen und erfolgversprechenden Anti-Krisenmanagements gilt, genau dieses Recht zu missachten oder als bestenfalls zweitklassig zu behandeln. Noch im März 2000 hatte es der EU-Gipfel von Lissabon zum Ziel der Union erklärt, bis zum Jahr 2010 in allen Mitgliedsstaaten Vollbeschäftigung zu erreichen und das mit „qualitativ hochwertigen Arbeitsplätzen und sozialer Qualität“. Die EU-Gipfeltreffen von Amsterdam und Luxemburg hatten gar „beschäftigungspolitische Leitlinien“ verabschiedet, um die Aufmerksamkeit der EU-Staaten auf eine entsprechende Arbeitsmarktpolitisch zu lenken.

Wer von den EU-Granden die gestern in Oslo den Nobelpreis entgegen nahmen, könnte es wagen, heute noch davon zu reden. Oder es sich wünschen, daran erinnert zu werden? Vielleicht EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, der am Tag von Oslo davor gewarnt hat, den sozialen Frieden in Europa zu zerstören.

Nein, der fatale Kurs der Markt-Rigorismus, der schon 1992 mit dem Vertrag von Maastricht eingeschlagen wurde, hat diesen Kontinent so tief gespalten, das von einem vereinten Europa nicht mehr die Rede sein kann. Und das wurde doch wohl in Oslo prämiert. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger leben in Angst um ihr Einkommen und ihre Existenz. Ihr Europa ist eines des Verzicht und der Verunsicherung und in dieser Hinsicht sehr real – mit den gestern beschworenen Mythen hat es wenig bis gar nichts zu tun.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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