Kräftiger Mann am Bosporus

Türkei/EU Premier Erdogan hat sich selbst eine EU-Warteschleife von mindestens zehn Jahren auferlegt. Das riecht nach einem Abschied, zumindest einer Abkehr von Europa
Tayyip Erdogan bekam in Berlin die bekannten Argumente gegen eine EU-Aufnahme seines Landes zu hören
Tayyip Erdogan bekam in Berlin die bekannten Argumente gegen eine EU-Aufnahme seines Landes zu hören

Foto: Adam Berry/Getty Images

Tayyip Erdogan lässt der EU eine fast großzügig anmutende Gnaden- besser: Versöhnungsfrist. Noch bis 2023 habe sie Zeit. Spätestens dann aber – zum 100. Jahrestag der türkischen Republik – müsse sein Land endlich von ihr aufgenommen sein. Diese Erwartung ausgerechnet in Berlin zu verkünden, wo jemand wie Angela Merkel regiert, der solcherart Partnerschaft mit Gegnerschaft ahndet – und das seit Jahren –, was heißt das? Deuten sich mit der selbstauferlegten Warteschleife im Dekaden-Format Resignation und Europa-Frust an beim türkischen Regierungschef? Ausgeschlossen werden kann das nicht, aber Stolz und regionaler Geltungsbedarf verbieten es Erdogan, die türkischen EU-Ambitionen so einfach abzuschreiben. Er geriete damit sofort in den Geruch, ein Kapitulant zu sein. So ohne weiteres will und kann er die wenig gewogenen Europäer – besonders die deutsche Regierung – nicht davonkommen lassen. Deshalb die Botschaft, wir bleiben euch als Kandidat erhalten und sind beleidigt: Warum demnächst Kroatien, weshalb irgendwann Serbien, aber nicht wir? Doch es hilft nichts – der Abstand zwischen Brüssel und Ankara wirkt derzeit wie ein Abgrund, über den sich keine Brücke schlagen lässt, soviel auch ergebnisoffene Beitrittsgespräche beschworen werden.

Ausweiten und überdehnen

Ob sich diese Kluft in zehn Jahren einebnen lässt von einer europäischen Gemeinschaft, die selbst nicht weiß, was von ihr bis dahin übrig bleibt, davon kann die Regierung in Ankara nicht wirklich überzeugt sein. Mit dem in Berlin ausgerufenen Jahrzehnt des Übergangs wird einem Prestigeverlust der Regierung Erdogan vorgebeugt, einem Gesichtsverlust ihres ersten Mannes erst recht. Das indirekte Eingeständnis, wir müssen uns eben gedulden, lässt sich kaum überhören, auch wenn es nur anklingt.

So ungünstig wie im Augenblick waren die Rahmenbedingungen für einen EU-Beitritt noch nie. Lange galten die USA als eifriger Befürworter eine abendländischen Einhegung der Regionalmacht am Bosporus. Es gab in der Zeit des Präsidenten George W. Bush die Hoffnung, je mehr sich die EU ausweite, desto mehr gehe das zu Lasten ihres Entscheidungsvermögens. Wenn sich das vereinte Europa mit der Türkei gar nach Asien aus- und womöglich überdehne – um so besser. Der Wunsch zur Emanzipation von der USA werde damit zum frommen Wunsch. Wenn die Türkei in Brüssel endgültig angekommen sei – so das Kalkül in Washington –, werde die EU ständig an ihrer Irak-, Iran-, Syrien- und vor allem Nahost-Politik zu feilen haben. Handelt es sich mit der türkischen doch dann um die eigene Nachbarschaft. Die Türkei werde ein solches Eigengewicht auf die Brüsseler Waage werfen, dass man immer einen Abgleich zwischen deren Interessen und den Bedürfnissen der EU suchen müsse. Das werde dauern, sei zermürbend, könne einer EU der 28 schwer zu schaffen machen.

Man kannte im Weißen Haus den türkischen Eigensinn zur Genüge und schätzte ihn absolut nicht. Um nur eine Episode zu erinnern: Die Bush-Regierung reagierte sichtlich genervt, als die Stationierung von US-Truppen vor der Irak-Intervention 2003 in Ankara auf Unbehagen, teilweise Widerstand stieß.

Egozentrisch und abenteuerlustig

Jüngst wirkte auch die Obama-Administration nicht sonderlich amüsiert, als die türkische Armee mit ihren Gefechten an der Grenze zu Syrien für das erste Flackern der großen Flammen zu sorgen schien. Es entstand der Eindruck, als sollten die USA oder die NATO in eine Syrien-Operation hinein gedrängt werden, weil ihnen die Solidarität mit dem Bündnispartner keine Wahl ließ. Bekanntlich ließ sich die Allianz davon nur politisch vereinnahmen nicht oder noch nicht militärisch. Tayyip Erdogan bewies, wie unberechenbar, egozentrisch und abenteuerlustig er sein kann. Deutschland wie auch andere EU-Staaten dürfte das nicht angespornt haben, diesen Neuzugang im Europäischen Haus mit unbändiger Freude zu erwarten.

Tayyip Erdogan hat durch seine Syrien-Politik den Blick für die Risiken einer EU-Mitgliedschaft geschärft. Das heißt, die von Kanzlerin Merkel zumindest offiziell favorisierte „privilegierte Partnerschaft“ sollte nicht gesetzt sein. Sinnvoller erscheint eine Vertragsgemeinschaft wie sie die EU auch mit Russland anstrebt. Eines allerdings muss jede Bundesregierung begreifen, wenn sich die Türkei von Europa abkehrt und das zur Doktrin erhebt, dann hat die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer über drei Millionen Menschen zählenden türkischen Community einen innenpolitischen Konfliktherd dazu gewonnen.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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