Steht die Welt auf dem Kopf?

Auf Asylsuche Der Whistleblower Edward Snowden müsste überall als unerschrockener Held gefeiert werden. Stattdessen wird er immer mehr zur tragischen, weil lästigen Figur
Einheit und Kampf der Gegensätze
Einheit und Kampf der Gegensätze

Foto: Ronny Hartmann / AFP / Getty Images

Der Bürgerechtler Edward Snowden gehört nirgendwo anders hin als in eine Hochburg der Menschenrechte, sollte man meinen. Wer anders als die Europäische Union käme in Betracht? Der aktuelle Friedensnobelpreisträger mit dem tadellosen Leumund, wie ihn die Festredner bei der Preisverleihung so gelobt haben. Wer könnte berufener sein, dem bedrängten Amerikaner ein sicheres Exil zu geben? Eigentlich müssten sich die EU-Staaten – besonders die großen und tonangebenden wie Deutschland und Frankreich – darum streiten, ihn aufzunehmen. Zunächst einmal aus Überzeugung, aber ebenso aus Dankbarkeit. Schließlich wäre den Europäern ohne Snowdens Mut und Wissen verborgen geblieben, wie gründlich sie durch US-Geheimdienste ausgeforscht werden.

Rote Teppiche ausrollen

Die Regierungen in der EU – ob sie nun von dieser Totalüberwachung wussten oder nicht – stehen unter Zugzwang. Sie müssen etwas dagegen tun, um größeren Schaden von ihren Bürgern abwenden und den Verfassungen wie Gesetzen ihrer Länder wieder Geltung zu verschaffen. In Deutschland zum Beispiel steht geheimdienstliche Agententätigkeit laut Paragraph 99 StGB unter Strafe. Daraus resultiert ein Auftrag zur Strafverfolgung. Wer den missachtet oder ignoriert, untergräbt die Autorität des Staates und schafft unerfreuliche Präzedenzfälle. Und davon will Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sicher nichts wissen, so sehr er ansonsten deutsche Interessen mit amerikanischen Argumentationen zu wahren pflegt.

Jedenfalls hat Edward Snowden viel ausgelöst und persönlich noch mehr aufgegeben. Wie kann es da sein, ihn als Schutzsuchenden abzuweisen? Warum ist er nicht längst in Paris oder Berlin, wo man einer Oligarchin wie Julia Timoschenko den roten Teppich ausrollen würde, wollten die ukrainischen Behörden die Staatsgefangene Nr. 1 nur ziehen lassen.

Die Instrumente zeigen

Steht die Welt Kopf, wenn Amerikas derzeitiger Staatsfeind Nr. 1 in Russland Asyl beantragen muss? Ausgerechnet dort, wo nach Ansicht der menschenrechtserprobten Europäer ein gestörtes Verhältnis zu den Menschenrechten besteht? Die Antwort ist schnell gefunden. Die Welt steht nicht auf dem Kopf. Der Fall Snowden zeigt genau das. Alle können vorführen, wie und wer sie wirklich sind – die USA und deren Verbündete. Aber auch Russland, das eine klare Entscheidung pro Asyl treffen könnte, jedoch laviert, weil zu viel Humanität den nationale Interessen nicht zu sehr schaden darf. Kaum hat Barack Obama bei Wladimir Putin telefonisch interveniert, wird aus dem tolerierten wieder ein lästiger Gast. Der US-Präsident hat offenkundig die Instrumente gezeigt und angedeutet, seinen Moskau-Trip vor dem G 20-Gipfel Anfang September in St. Petersburg absagen zu wollen. Er und Snowden in der gleichen Stadt? Der Friedensnobelpreisträger und der Bürgerrechtler? Unzumutbar!

Selten ließ sich besser begreifen, in welchen Scheinwelten wir leben und – um es zu wiederholen – wer und wie wir wirklich sind.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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