Es bietet sich an, im Blick auf Ägypten die Floskel von der permanenten Staatskrise oder der Unregierbarkeit eines erodierenden Staates zu bemühen. Oder man erkennt auf das Unvermögen von Präsident Mohammed Mursi und befindet: Der mag dazu fähig sein, obrigkeitshörige und disziplinierte Muslim-Brüder zu führen – der bleibt überfordert, eine aufgewühlte Gesellschaft und ein komplexes Land zu regieren. Dessen Entscheidungen, wenn er sie denn trifft, sind stattdessen dazu angetan, soziale Zerrissenheit und Gewaltausbrüche voranzutreiben.
Zu guter Letzt ließe sich eine dritte Deutung der Ereignisse vor dem 11. Februar – dem zweiten Jahrestag des Abgangs von Diktator Mubarak – geltend machen. Diese Version wäre mit der Metapher von der "unvollendeten Revolution" zu überschreiben. Wer sich dieses Interpretationsrasters versichert, sollte dann aber zugleich der Frage nachgehen, ob es einen Umsturz und folgenden Umbruch, der eine Gesellschaft aus den Angeln hebt, überhaupt gab.
Was ist erreicht von dem, was die Menschen auf dem Tahrir-Platz in Kairo wollten – Brot, Freiheit und Gerechtigkeit?
Fortsetzung der Autokratie
Wer die Vorgänge vor und nach der Demission Mubaraks emotionslos analysiert, dürfte zu dem Schluss kommen – es gab in Ägypten keinen Systembruch, der zu vollenden wäre. Es gab an jenem 11. Februar 2011 einen Staatsstreich, besser: einen Putsch. Die bis dahin Mubarak loyale Generalität entledigte sich ihres oberen Dienstherren, den Aufruhr und Protest der Straße zu viel Autorität gekostet hatten, um seinem Amt noch gewachsen zu sein. Statt deren Erhalt zu garantieren, stellte Mubarak eine Gefahr für die bestehenden Verhältnisse dar. Indem ihn die Obristen um Verteidigungsminister Hussein Tantawi ersetzten, nutzten sie sich selbst. Ihr Militärrat war als vorübergehend höchstes staatliches Gremium keine revolutionäre Instanz, sondern eine Fortsetzung der Mubarak-Autokratie mit andern – keinesfalls gravierend anderen – Mitteln.
Ein Muster, dem auch Mohammed Mursi treu blieb, als er Ende Juni 2012 – durch das Ergebnis der vorherigen Präsidentenwahl bestärkt – Marschall Tantawi in den Ruhestand schickte und eine Dominanz der Muslim-Brüder innerhalb der ägyptischen Staatsdynastie durchzusetzen begann. Sichtbarer Ausdruck dieser Ambition waren die Mursi-Dekrete „zum Schutz der Revolution“ vom 22. November 2012, die den Präsidenten vorübergehend für unantastbar erklärten und mit dem Justizwesen wie dessen Richtern eine der Zitadellen des Ancien Regime schleifen sollten. Auch diese Selbstermächtigung war nichts sonst als ein Putsch gegen die Republik und den bestenfalls vordemokratischen Staat – selbstverständlich unternommen im Namen der Revolution. Was es nicht gibt, lässt sich vorzüglich missbrauchen, um eigenes Handeln nach Belieben zu rechtfertigen. Es muss nie den Praxisbeweis antreten, wer behauptet, einer Revolution zu dienen, die es gar nicht gibt. Es reicht die Behauptung, man handle in deren Interesse. Sich auf Schimären berufen, hilft vollendete Tatsachen schaffen.
Nur ein Generalstreik
Und die bestehen nun unter anderem darin, dass Ägyptens Staatschef über die Städte Ismailia, Port Said und Suez den Ausnahmezustand verhängt und der Armee quasi die vollziehende Gewalt überträgt. Die Putschisten der zweiten Welle versichern sich ihrer Vorgänger. Hätte sich Mubarak anders verhalten? Eine rhetorische Frage. Es kann unter diesen Umständen gar nichts anders sein, als dass sich Millionen Ägypter – zumindest in den Städten – bewusst werden, in keiner postrevolutionären, geschweige denn revolutionären Gesellschaft zu leben, sondern einem Regime des Übergangs von der einen zur nächsten Autokratie ausgesetzt zu sein. Dagegen helfen nur Einigkeit und nur ein Generalstreik als Vorspiel zu einer tatsächlichen Revolution.
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