Wir sind die Guten

Buchrezension Die Kritik am antirussischen Eskalationskurs hat nunmehr auch den Buchmarkt erreicht. Bröckers und Schreyer haben das richtige Buch zum passenden Zeitpunkt verfasst

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Auch auf dem Buchmarkt umkämpft – die Deutungshoheit im Ukraine-Russland-Konflikt
Auch auf dem Buchmarkt umkämpft – die Deutungshoheit im Ukraine-Russland-Konflikt

Foto: OLGA MALTSEVA/ AFP/ GettyImages

Die gute Nachricht zuerst: Dass der soeben erschienene Ukrainekrise-Titel von Mathias Bröckers und Paul Schreyer versickert, ohne Resonanz bleibt, ist kaum zu befürchten. Auskunft beim Telefonservice der Buchhandelskette Hugendubel: das Buch sei nicht nur vorrätig, sondern »stapelweise« vorhanden. Ein Titel also, für den ein Bedarf, eine Nachfrage zu existieren scheint. Mit Grund. Der Dissenz zwischen Bevölkerungsmeinung und Medienmeinung war nie so groß wie 2014. Die Ukraine-Frage berührt, beschäftigt, löst Auseinandersetzungen aus. Und macht besorgt. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger halten den Eskalationskurs, den der Westen gegenüber Russland in Szene setzt, für verantwortungslos, europäischen Interessen schadend, politisch-moralisch einseitig und darüber hinaus höchst gefährlich.

Was tun? Die Antwort der großen Leitmedien ist bekannt: mehr desselben, weiter wie bisher. Seltsamerweise hat auch der Buchmarkt – sonst quasi die letzte Hochburg für unkonforme Betrachtungen zu fast egalwas – alternative, kritische Sichtweisen zum Ukraine-Konflikt bislang weitgehend ignoriert. Frappierend ist die Einseitigkeit des diesbezüglichen Buchangebots insbesondere vor der Tatsache, dass ein anderes kritisches Thema – die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Reich und Arm – buchtiteltechnisch zwischenzeitlich so breit aufgestellt ist, dass man meinen könnte, Deutschland befände sich mittlerweile im Übergang Richtung Sozialstaatsmodell Marke Schweden. In Sachen Ukrainekrise indess – politische Monokultur, so weit das Auge reicht. Titel, deren Autor(inn)en dem sogenannten Euromaidan und seinen Akteuren sympathisierend gegenüberstanden, erschienen im Frühjahr und Sommer gleich im Dutzend. Beispiele: die Maidan-Textanthologien von Suhrkamp und Edition.fotoTAPETA Berlin, eine Reportage aus dem Umfeld der Welt-Redaktion, das Ukrainische Tagebuch von Andrej Kurkow, mit heißer Nadel aktualisierte und neu auf den Markt geworfene Allgemein-Sachtitel zu Historie und Gegenwart des Landes und schließlich, quasi über allen thronend, Boris Reitschusters personenzentrierte Abrechnung mit »Putins Demokratur«.

Nun also Bröckers und Schreyer. »Wer, wenn nicht sie?«, möchte man fast fragen. Beide Autoren haben sich als kritische, hartnäckige, investigative Rechercheure der US-Politik einen Namen gemacht. Schwerpunktmäßig haben sich die beiden in den vergangenen Jahren mit dem Thema 11. September beschäftigt – jenem historischen Ereignis also, das wie kein anderes die Parameter der aktuellen Geopolitik bestimmt. Und dessen Begleitumstände – allem Gerede von »Verschwörungstheorien« ungeachtet – nach wie vor nicht hinreichend aufgeklärt sind. Bröckers hat zu Nine-Eleven zwei Erfolgstitel veröffentlicht beim Branchenaußenseiter zweitausendeins. Schreyers Titel zum Thema sind etwas weniger bekannt; allerdings ist auch der Telepolis-Schreiber und Krimi-Autor hinreichend als Kritiker der US-Geopolitik profiliert.

Frage: Was genau liefert »Wir sind die Guten«? Wer eine lückenlose, möglichst detaillierte und prall mit Faktendetails angefüllte Widerlegung der im Zug der Krise getätigten Nachrichten-Spins erwartet (ähnlich etwa wie Austs/Laabs »Heimatschutz«-Fleißarbeit zum Thema NSU-Terror), wird tendenziell enttäuscht. Fakten und Hintergrundinfos liefern Bröckers und Schreyers zwar ausgiebig. Die Stärke von Wir sind die Guten ist allerdings die pointierte, argumentunterfütterte Auseinandersetzung mit der aktuellen US-Geopolitik. Sind »wir« – also der Westen, die NATO, die EU – tatsächlich die Guten? Das erste Buchkapitel beschäftigt sich einleitend mit der Genese eines Kampfbegriffs: des »Putinverstehers«. Bröckers und Schreyer widerlegen nicht nur die Propagandafunktion dieses Begriffs – als sei es auf der politischen Bühne ein Unding, irgendeine Entwicklung oder Handlungsweise verstehen zu wollen. Pointiert zeigen sie darüber hinaus auf, wie sich die Sichtweise auf Wladimir Putin aus östlicher Sicht, aus der Sicht ganz normaler Russen und Russinnen darstellt: ein Mann, der nicht nur dicke Fische in der Taiga fängt, Judo kann und zu Unterhaltungszwecken leidlich passabel Fats-Domino-Titel interpretiert, sondern einen geradezu beispielhaften wirtschaftlichen Aufschwung hinbekommen hat. Eine Tatsache, die nach den dunklen, von Raubtierkapitalismus pur geprägten Jahren der Jelzin-Ära durchaus etwas heißen will.

Das zweite Kapitel richtet den Spot auf das geografische Zentrum der Krise: die Ukraine. Die Informationen im kurzen historischen Abriss mögen informierten Lesern großteils bekannt sein – etwa der Gegensatz zwischen dem russisch geprägten südöstlichen und dem galizisch-nationalukrainischen Westen des Landes. Bröckers und Schreyer legen dar, dass eine einheitliche ukrainische Nationalität ein politisches Konstrukt ist. Und dass das Land als Ganzes nur eine Chance hat bei einer entsprechenden Ausbalancierung der widerstreitenden Interessen. Nicht Frontstaat, wie US-Hardliner, NATO und transatlantische Medien wollen, sondern vielmehr Brückenstaat. Ein Großteil der folgenden Kapitel beschäftigt sich mit der ökonomischen »Hardware« des Konflikts – genauer: den geostrategischen Interessen, denen die Ukraine anheimgefallen ist. Interessant sind vor allem die unterschiedlichen Szenarios in Sachen »Pipelinestan«: so etwa das Hickhack um den sogenannten South-Stream: eine umstrittene Erdgas-Pipeline, die durch Bulgarien bis nach Italien führen soll und von der EU aktuell torpediert wird respektive auf Eis gelegt ist.

Geostrategische Interessen, so Bröckers und Schreyer in weiteren Buchkapiteln, tangieren nicht nur auszubeutende Rohstoff-Ressourcen, zu präferierende Fördertechniken (Stichwort: Fracking) sowie (abgeschlossene, geplante oder auch, im Gegenzug, sabotierte) Pipeline-Deals. Auf der globalpolitischen Ebene haben in den letzten zwei Jahrzehnten mehr und mehr sogenannte Farben- und Frühlingsrevolutionen Furore gemacht. Ob Ukraine, Syrien oder Lybien: Die Autoren beschreiben, mit welchen Mitteln und Techniken Opposition hochgepampert wird gegen Regierungen, die den Kräften des freien Marktes gegenüber nicht willfährig genug sind. Ungeachtet dieser geopolitischen »Ausflüge« bleiben die Ukraine, Russland sowie das aktuelle Eskalationsszenario in Richtung Russland der stringente rote Faden im Buch – das Brennglas sozusagen, in dem sich die aktuelle Geopolitik des Westens fokussiert.

Die speziellen Parameter des Regime Changes in der Ukraine mit ihren zahlreichen Ungereimtheiten sind dabei ein zentraler wie aufschlußreicher Aspekt: die mysteriösen Sniper-Teams etwa während des Maidan-Umsturzes, die auf beide Seiten feuerten und anschließend wie vom Erdboden verschwunden waren. Oder auch die weiter bestehenden Widersprüchlichkeiten rund um den Absturz der malaiischen MH17. Wie wird Meinung gemacht, respektive: Wie werden Meinungen, Ansichten, Interessen zu »Wahrheiten«? Die Fronde der deutschen Leitmedien, die in diesem Konflikt wie nie zuvor auf Beeinflussung und Lesermanipulation setzte anstatt auf unvoreingenommene Information, wird von den Autoren ebensowenig ausgespart. Dezidiert und mit aufschlussreichen Hintergrundinfos leuchten Bröckers und Schreyer die Connections der transatlantischen Netzwerke aus. Ein Spezialthema, das bei diesen Verbindungen nahe liegt: der für Außenstehende seltsam erscheinende Einklang, in dem (sonst) renommierte Medien wie die Zeit, die Süddeutsche, der Spiegel oder auch ARD und ZDF agieren.

Die Friktionen und die Widersprüchlichkeiten, in die sich der aktuelle Leitmedienjournalismus in Deutschland hineinbegeben hat, werden mit klaren Worten beschrieben. Bröckers/Schreyer: »(…) Das beispiellose Putin-Bashing sowie die weitgehende Verleugnung einer agressiven westlichen Geopolitik gegenüber Russland führen, wie beschrieben, erstmals zu einer deutlich sichtbaren Spaltung zwischen Medien und großen Teilen des Publikums. Im (Eliten-)Mainstream zu verbleiben verlangt von Journalisten inzwischen ein extremes, vorher kaum gekanntes Maß an Einseitigkeit, das letztlich unvermeidlich an Realitätsverlust grenzt. Wer einen wachsenden Teil der Wirklichkeit mehr oder weniger ausblenden muss, um die gewünschte Interpretation der Welt aufrechtzuerhalten, dessen Analysefähigkeit nimmt Schaden – und dieser Schaden kann ab einem gewissen Punkt kaum mehr verborgen werden.«

Bleibt bei so viel Analyse und pointierter Faktendarstellung noch Platz für Perspektiven, für das Gute, oder immerhin die Guten, um die es im Buchtitel geht? »Im Bürgerkrieg in der Ukraine geht es nicht um Demokratie und Menschenrechte, sondern um die Macht im ›Großen Spiel‹« – so das eher ernüchternde Fazit im letzten Kapitel. Und: »Sind wir noch die Guten, wenn wir uns für Freiheit, Zivilgesellschaft, Menschenrechte, Homosexuelle oder Klimaschutz einsetzen, aber auf solche Mittel (Terror, Bürgerkrieg und Drogenhandel) oder solche Verbündeten (Islamisten, Faschisten und Mafia) zurückgreifen?« Die Frage, ob sich mit «wir« auch der Leser und die Leserin angeprochen fühlen mag, soll an der Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Fazit so: Mathias Bröckers und Paul Schreyer haben einen wichtigen Titel zur laufenden Auseinandersetzung vorgelegt. Das Buch beantwortet zwar nicht alle Fragen zur Krise. Allerdings liefert es wertvolle Aufmunitionierung: Argumente sowie eine Betrachtungsweise, die den Konflikt ausnahmsweise einmal aus der (eher nüchternen) Blickwarte US-amerikanischer Interessen durchdekliniert.

»Wir sind die Guten«: Die Guten, um auf den Titel zurückzukommen, sind letztlich wohl eher diejenigen, die sich dieser Politik widersetzen. Die, die auf Alternativen insistieren, diejenigen, die ein friedliches, auf Ausgleich und Verständigung ausgerichtetes Europa möchten. »Wandel durch Annäherung« – nicht umsonst wird der Architekt der sozialliberalen Ostpolitik, Egon Bahr, abschließend als positiver, politisch vorbildhafter Portagonist hervorgehoben.

Eine mögliche Perspektive? Vielleicht. Jedenfalls besser als die, welche derzeit als allen Kanälen als die einzige, die »gute« hingestellt wird.

Mathias Bröckers / Paul Schreyer: Wir sind die Guten. Westend Verlag, Frankfurt am Main, September 2014, 208 Seiten. ISBN 978-3-86489-080-2. € 16,99.

Mathias Bröckers:

freier Journalist, u. a. für taz und Telepolis. Bekannt wegen seiner kritischen Bücher zum 11. September.

Paul Schreyer:

freier Journalist, u. a. für Telepolis und Global Research. Buchtitel u. a. »Faktencheck 9/11«.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden