Tag 2

Berlinale-Tagebuch ..

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Ich muss dringend an meiner morgendlichen Performanz arbeiten. Doch es ist schwierig, wenn man – der vielen Filme und der inneren Chronistinnenpflicht wegen – erst nach zwei Uhr nachts dazu kommt, sich schlafen zu legen, aber bereits morgens um halb zehn mit Kaffee und Brötchen im Magen im ersten Film sitzen möchte.

Stattdessen stehe ich atemlos, mit einem großen, vollen Kaffeebecher in der Hand und einem belegten Bagel in der Tasche gerade noch rechtzeitig vorm Kinosaal. Ich setze mich auf den gleichen Platz wie gestern. Das ist ja so typisch bescheuert, dass man, sobald man häufiger irgendwo ist, sich seinen Platz heraussucht, es sich in der Gewohnheit und der damit vermeintlich einhergehenden Sicherheit bequem macht. Schon als ich mit neun Jahren ins immer gleiche Kino ging, hatte ich dort einen Stammplatz, in der fünften Reihe in der Mitte. Die Plätze noch weiter vorne nannten wir Rasiersitze. Als hätten wir eine Ahnung gehabt, wie man sich beim Friseur den Bart entfernen lässt.

Es ist nicht besonders voll und ich türme meine Habseligkeiten auf den Plätzen rechts und links von mir auf – Abschottung ist ja auch so ein typisch dämliches Ding –, damit ich anschließend in Ruhe frühstücken kann. Endlich fällt die Anspannung von mir ab. Wir alle sollten häufiger morgens ins Kino gehen, anstatt zur Arbeit und entgegen meiner Erwartung, tendiere ich trotz Müdigkeit überhaupt nicht dazu, einzuschlafen. Ich lasse mich in der wohligen Dunkelheit schon wieder nach Japan tragen.

Kazoku no kuni von Yang Yonghi erzählt von Sonho, der 25 Jahre nachdem er als in Japan lebender Koreaner wieder nach Nordkorea emigrierte, für drei Monate nach Tokio zu seiner Familie kommt, um sich – er hat einen Gehirntumor – einer Operation unterziehen zu können. Wie die meisten japanische Filme, die ich kenne, lebt auch dieser mehr von den Bildern als den Dialogen. Reduktion, Reduktion!

Unerfreulicherweise wird die ganze Familie nun ständig von einem nordkoreanischen Begleiter beobachtet und ist Sonhos Schwester anfangs noch glücklich, über seine temporäre Rückkehr, schlägt die Stimmung um, als dieser sie als Spitzel für Nordkorea anwerben möchte.

So weit weg ist das alles ja gar nicht von der deutschen Geschichte. Ich stelle mir vor, wie jemand auf Kurzurlaub von der DDR in den Westen reisen durfte, dort seiner Verwandtschaft ein ähnliches Angebot unterbreitete und bin mir beinahe sicher, dass es so etwas gegeben hat.

Es passiert nicht viel. Aber wir erfahren, dass sich Sunho irgendwann dafür entschieden hat, nicht mehr nachzudenken, weil er nur so vermeiden kann, verrückt zu werden. So geht es ihm jeden Tag in Nordkorea nur darum, zu überleben, nicht anzuecken und irgendwie durchzukommen. Das Ende des Films ist bedrückend: überraschend muss Sonho abreisen und kann nicht einmal mehr operiert werden.

http://30.media.tumblr.com/tumblr_luxi6anWUH1qc4abzo1_500.jpgNeben den eigentlichen Bildern, bleiben meine Augen immer wieder an Details hängen. An den dünnen Häuserwänden und den Fensterrahmen aus Metall, an den vorgelagerten Gittern, die das untere Drittel der Fenster schützen, am Fensterschließmechanismus. Ich sehe die Getränkeautomaten an den Straßenrändern, Misosuppenschüsseln, die Aufdrucke auf den Straßen, die der Begrenzung dienen, den abgesenkten Bereich im Wohnungseingang, wo alle ihre Schuhe abstellen, das Aussehen des Gasherdes, die niedrigen Tische, die dünnen Schiebetüren zwischen den Räumen, die beigebräunlichen Einbauschränke und Möbel, das Stromkabelwirrwarr über den Straßen. Alles ist noch vertraut, drei Monate sind keine lange Zeit.

Anschließend eile ich ins nächste Kino, hinein in die Rest-Aura der gestrigen Filmprominenz: zum ersten Mal sitze ich im Berlinale Palast, der natürlich in echt gar nicht so groß ist wie Fernsehübertragungen uns glauben lassen. Die Sessel sind weitaus unbequemer als die bisherigen, doch immerhin gelingt es auch hier, wenigstens rechts von mir einen Taschen-Jacken-Turm zu errichten. Hurra, ich bin bereit für die erste Hollywood-Schwarte!

http://img94.imageshack.us/img94/3382/safranv.jpgDen Titel von Stephen Daldrys Film Extremely Loud And Incredibly Close kann ich mir überhaupt nicht und niemals merken. Obwohl sogar die Buchvorlage von Jonathan Safran Foer (nur zu einem Drittel gelesen) in meinem Regal steht. Ich war seinerzeit nicht in Stimmung dafür und nun merke ich, dass ich nicht in Stimmung bin für den Film. Wir lernen Oskar kennen, dessen Vater am 11. Septempber im World Trade Center ums Leben kam und erfahren, wie er damit umgeht. Oskar ist so, wie ein echtes Kind niemals sein würde und sein Vater machte tolle Dinge mit ihm, die ein echter Vater nicht gemacht hätte. Oskar ist zudem ein anstrengendes Klugscheißerkind mit furchtbar vielen Neurosen und Phobien.

Der Film vermittelt ein “Irgendwie-ist-alles-Poesie”-Gefühl, das mir nach der Schlichtheit von Kazoku no kuni zu viel ist. Außerdem ist er im Vergleich zu allen Filmen, die ich bisher hier gesehen habe, zu glatt, zu schön, zu teuer, zu alles. Aber: das hält mich dennoch nicht davon ab, kurz vor Schluss, als eine kitschige Wende eintritt, gerührt ein bisschen zu weinen.

Draußen treffe ich einen motzenden Matthias Dell, der Extremely loud.. (ich musste schon wieder nachsehen) ebenfalls gesehen hat und schäme mich ob meiner rosamundepilcheresken Gefühlsanwandlung. Aber ich weine ja selbst, wenn sich Menschen im Fernsehen über Sachen freuen wie Millionengewinne, oder weil sie in Castings eine Runde weiter gekommen sind oder wenn sie mit einem verschollen geglaubten Familienmitglied überrascht werden.
Ich vergesse, Matthias zu fragen, wie es eigentlich geht, dass dieser Film im Wettbewerb läuft, aber den Vermerk "Außer Konkurrenz" hat, aber ich muss schnell in die dritte Vorstellung.


Im Kino ist es bereits so voll, dass ich entweder einen Rasiersitz wählen oder mich zu fremden Menschen auf einen Zweiersitz(!) begeben muss. Ich entscheide mich gegen die Nähe zur Leinwand und für die Nähe zu einem Unbekannten, baue den obligatorischen Turm dieses Mal zu meinen Füßen auf und esse während des Anfangs von My Brother the Devil ganz leise ein Brötchen. Das geht nur, indem man sehr vorsichtig abbeißt und kaut, eigentlich muss man das meiste irgendwie im Mund weich werden lassen, bis man es irgendwie mit der Zunge zerdrücken und anschließend runterschlucken kann. Ich muss mir für die kommenden Tagen dringend eine andere Ernährungsstrategie zulegen.

Der Film von Sally El Hosaini ist ein Gangsterstück mit Arabern und Schwarzen, das mal nicht in Amerika, sondern in England spielt, obwohl alle Figuren eine ähnliche Attitüde haben. So muss ich mich erst mal – Untertitel gibt es keine – an den britischen Akzent der Jungs gewöhnen, ich bin nämlich nur für Sachen wie The Wire geschult.

Wir lernen die Brüder Mo und Rashid kennen, schauen zu, wie der Ältere nach einer Schießerei mit Todesfolge dem Drogenhandel und dem Gangstertum abschwört und etwas aus seinem Leben machen möchte und der Jüngere hineinrutscht in jene gefährliche Welt.

Rashid ist so hübsch, dass ich die ganze Zeit das Bedürfnis habe, seinen Kopf in meinen Händen zu halten und sein Gesicht mit Küssen zu bedecken. Ist das normal?Das ist doch nicht normal! (Das muss der Irrsinn sein, den ich eigentlich erst gegen Ende der Berlinale erwartet hatte.) My Brother the Devil ist ein toller Film, obwohl er zu lange geht, als dass ich es noch in den nächsten auf meinem Terminplaner schaffen könnte.

Ich beschließe, erst einmal nach Hause zu fahren und später für den letzten Film wieder zum Potsdamer Platz zurückzukehren. Doch schon als ich im 200er-Bus sitze, weiß ich, dass ich mich belogen habe.

Gesichtete Promis: Matthias Dell (kch kch kch)

Terminplaner für morgen:
Barbara von Christian Petzold
Iron Sky von Timo Vuorensola
Avalon von Axel Petersen
In The Land of Blood And Honour von Angelina Jolie

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Maike Hank

Die Eulen sind nicht, was sie scheinen.

Maike Hank

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