Auf halbem Weg ein Schritt zurück

Europa/Deutschland Wettbewerbsfähigkeit ist ein Schlüsselwort deutscher und europäischer Lebenswirklichkeit. Warum und wem gegenüber? Eine Reduktion

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Auf halbem Weg ein Schritt zurück

Foto: TOM GANDOLFINI/ AFP/ Getty Images

Die Worte, die der Chefredakteur der in Rom erscheinenden Tageszeitung La Repubblica wählte, trugen einen Hauch Pathos. Wie nie zuvor hätten „die Menschen und Staatskanzleien“ im Nachkriegseuropa so gebannt auf die Wahlergebnisse in Deutschland geschaut wie jetzt. Der Ton wird verständlich, wenn man sich die Mischung aus Selbstbewusstsein der vierten Industrienation Europas und der Furcht vor einer Entmündigung des zweithöchst verschuldeten Landes der EU durch eine Troika vorstellt. Noch nachvollziehbarer wird es für die, die sich zu der jeweiligen Befindlichkeit die Botschaft jeweils eines politischen Lagers hinzu denkt, was nicht ganz einfach ist.

Denn wo in Frankreich eine konservative UMP mit dem vormaligen Staatspräsidenten Sarkozy in dessen Wahlkampf zur gescheiterten Wiederwahl den engen Schulterschluss zu Merkel bis zum Vorwurf der „Deutschhörigkeit“ suchte, war man im Februar in Italien weitaus vorsichtiger. Der scheidenden Regierung von Sachverständigen unter dem Technokraten Mario Monti hing das Odium an, mehr als ein Exekutiv ein Exekutionsorgan europäischer, sprich deutscher Austeritätspolitik zu sein, während die Rechtspopulisten der Berlusconi-Partei Merkel sogar zum neuen, kolonialen Staatsfeind ausriefen. Nur die Sozialdemokraten der Demokratischen Partei plädierten (und plädieren) für eine gemäßigte Sparpolitik, die die Menschen nicht aus den Augen verliert.

Der Riss quer durch den Kontinent, der kurz vor der Wahl durch eine -> Leserumfrage von vier Tageszeitungen aus Großbritannien, Frankreich, Spanien und Italien aufgezeigt wurde, erweist sich in den Extremen seltsam paradox als identitätsstiftend im jeweiligen Land, geht aber durch die politischen Familien hindurch. Denn UMP, CDU/CSU und PdL treffen in der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) im Europaparlament zusammen. Es ist nicht die einzige Stelle, an der sich die Frage stellen ließe, was es mit dem europäischen Gedanken auf sich hat, wenn sich innerhalb eines postulierten politischen Grundkonsenses, der sich in einer Fraktion eine Form gibt, diametral entgegengesetzte Kräfte wirken. Oder anders ausgedrückt, sich Cousins und Cousinen gegenseitig behandeln wie die buchstäbliche bucklige Verwandtschaft.

Gebündelte Erwartungshaltung

Dass sich von dem „Hegemon Deutschland“ etwas erwartet wird, ob als mögliche Bedrohung oder als vermeintlicher Heilsbringer, ist von der tatsächlichen Anteilnahme aufgezeigt. Das ist eine Rolle, derer sich keine Regierung wird entziehen können, gleich wie sie strukturiert sein könnte. Und sie wird sich der Kritik stellen müssen, die, und das ist das eigentlich erstaunliche, ebenso grenzübergreifend einen Nenner gefunden hat.

Denn egal ob sich der ehemalige Chefkorrespondent der Zeit -> Gunter Hofmann in der Wochenzeitung der Freitag, die italienische Autorin Barbara Spinelli in der römischen La Repubblica oder der ehemalige Berlin-Korrespondent Arnaud Leparmentier von Le Monde in Paris zur Zukunft vor allem Europas im Verhältnis zu Deutschland ausbreiten: Es fallen beständig die Namen von Jürgen Habermas, Ulrich Beck, Robert Menasse, und es werden ihre Analysen angezogen, weil, so Spinelli, „die Intellektuellen deutscher Sprache die luzidesten sind.“

Hier hat sich nicht nur publizistisch eine schneidend analytische, kritische Grundstimmung gebildet, die in jeder Hinsicht proeuropäisch, in einem weiteren Sinne kosmopolitisch ist und nun um die Normativität ringt, deren Fehlen Habermas in der deutschen Europapolitik beklagt; die in den Worten Becks bislang nicht über das Stadium reiner Machtentfaltung („Methode Merkiavelli“) kaum hinausreicht.

Dass es dabei wie in jedem Projekt auch utopisch zugehen kann, hat Beck in seinem Manifest „Wir brauchen ein Europa der Bürger“ und zusammen mit Daniel Cohn-Bendit in „Der große Sprung zurück“ dargetan. Freilich in dieser Form schon alleine deswegen eine Utopie, weil heute dem Spruch von Helmut Schmidt („Wer eine Vision hat, soll zum Arzt gehen“) mehr Wahrheitsgehalt als die ursprünglich intendierte Ironie zugewiesen wird. Der technisierte Durchschnittspolitiker, der von Sachzwängen, Wirklichkeit und Alternativlosigkeit schwadroniert und sich damit das Alibi für seine Ideenlosigkeit verschafft, verbannt bereits den frommen Wunsch nach anderen Kontexten in die Welt der Ideologie und damit des Absurden.

Das Zauberwort von der Wettbewerbsfähigkeit

Dabei wäre schon am täglichen Sprachgebrauch zu messen, welche Prinzipien tatsächlich wirksam sind. In der Hinsicht ist noch vor Banken-, Schulden- und sonstigen Krisen im europäischen Leben der Begriff der „Wettbewerbsfähigkeit“ zu einem tragenden Mem avanciert. Und das Weltwirtschaftsforum (WEF) mit seinem Global Competitiveness Report nach der deutschen Kanzlerin und ihrem bisherigen Wirtschaftsminister dessen beständigster Verkünder. Wettbewerb intendiert aber a priori, so lauter er auch geführt sein mag, Gewinner und Verlierer; wenn kooperiert wird, ist es, weil die jeweiligen Partner die Abwesenheit von Konkurrenz zum wechselseitigen Vorteil als nützlich erachtet haben.

Welchen Sinn es machen soll, zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union den Wettbewerb der Volkswirtschaften auszurufen, ist nicht ausgemacht. Tatsächlich ist die Gründung der EWG, auch aus historischen Gründen der Stahl- und Kohleproduktion als konfliktträchtige Güter wie die Atomkraft, eine der wirtschaftlichen Kooperation statt Konfrontation und bis zur Behandlung einer eigenen europäischen Staatlichkeit auch die einer konsensualen politischen Entwicklung gewesen.

Sie hat in den vergangenen 10 Jahren aber einem Phänomen Platz gemacht, das als „unlauterer Wettbewerb“ nur ungenügend beschrieben ist. Denn mit der Präkarisierung der Arbeitsverhältnisse, die heute rund 7,5 Millionen Menschen in der Bundesrepublik betrifft und dem Ausbau der Arbeitnehmerüberlassung (2003: 327.000 AN; 2012: 908.000 AN, jeweils gerundet) hat sich ein Sektor der Unterbezahlung entwickelt, in der sich Menschen nicht ernähren, obwohl sie hart arbeiten. Die Folge ist deren zusätzliche, notwendige Alimentierung durch staatliche Zuwendungen, die nichts anderes sind als indirekte Subventionen zugunsten der Unternehmen, die sich der Niedriglohn-Modelle bedienen.

Diese Form ruinösen Wettbewerbs, die im allgemeinen Geschäftsleben als sittenwidrig wie der Verkauf unter Einstandspreisen zu rubrizieren wäre, ist also die Grundbedingung für „Wettbewerbsfähigkeit“, die keine Arbeit geschafft, sondern lediglich gestückelt umverteilt hat; so ganz unumwunden die Bilanz der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage von die Linke von Anfang 2013.

Von der Konkurrenz zur Konfrontation

Dass trotz der Weise der Wettbewerbsverzerrung das WEF 2013 weiterhin für Deutschland eine „mangelnde Flexibilität in der Lohnpolitik und die hohen Kosten für den Arbeitsplatzabbau“ beklagt, die „die Schaffung neuer Jobs, besonders während konjunktureller Abschwungphasen“ behindere, verdeutlicht das dem auf Volkswirtschaften gemünzten Begriff der Wettbewerbsfähigkeit innewohnende abartige Moment: Die weitere Reduzierung der Menschen auf eine Rolle als Kostenfaktor, staatlich gestützt nicht auf Lebenswerte, sondern gerade einmal überlebensnotwendige wie unwürdige Mindestbedingungen im Namen eines Gemeinwesens, das sich in einem Konkurrenzverhältnis wähnt.

Ruinös ist der Wettbewerb jedoch nicht nur, weil er das Ziel des Wohlergehens auf immer weniger Profiteure im eigenen Land bündelt, sondern weil er die so gekorenen „Mitbewerber“, die „anderen“ Länder zu den gleichen Maßnahmen der Konkurrenz zwingt oder zwingen will. Die Folge ist ein Wettlauf "von Staats wegen" um die möglichst billige menschliche Kraft, gesetzt in nationalen Grenzen, der sich aber grenzüberschreitend auswirkt. Das Ergebnis kann beinahe täglich betrachtet werden, wenn die Arbeitnehmer eines Werkes vor die Alternative gestellt werden, dass ihr lokaler Betrieb zugunsten eines anderen Standorts geschlossen wird, wenn sie nicht in den Abbau ihres Gegenwertes einwilligen. Und bezieht vor allem Standorte innerhalb der EU ein, die der gleichen erpresserischen Logik folgen.

Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, so kann nach dem letzten Jahrzehnt festgestellt werden, ist gleichbedeutend mit Entsolidarisierung. Die Gleichgültigkeit, mindestens aber Sprachlosigkeit mit denen der neuen Armut, der in jeder Hinsicht ausbeuterischen Tendenz einer sog. postindustriellen Gesellschaft, den schier nicht mehr erträglichen Härten von Existenzen unterhalb des Minimums begegnet wird, ist ganz sicher nicht das Deutschland, erst recht nicht das Europa der Bürger. Aber eine Hausaufgabe, ihr entgegen zu wirken.

Gerade da erweist sich die christliche als politische Familie begriffen besonders renitent. Kurz vor den Wahlen haben Bayern und Hessen in Karlsruhe Klage gegen den Länderfinanzausgleich eingereicht und dies als „Akt politischer Notwehr“ bezeichnet. Dass es in Wahrheit ein Akt politischer Aggression ist, verdeutlicht sich an der Haltung von Bayerns (noch) Finanzminister Markus Söder, der im gleichen Atemzug einen „Steuerwettbewerb unter den Bundesländern“ propagiert. Der deutsche verkleinert sich auf den bajuwarischen Hegemon.

Wettbewerb als Hebel gegen Verfasstheit und Vertrauen

Völlig vergessen ist damit nicht nur das verfassungsrechtliche Gebot aus Art. 107 Grundgesetz, „die unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessen“ auszugleichen. Oder die Tatsache, dass nur die mehr als 30-jährigen Nettozuwendungen an Bayern den Freistaat vom rückständigsten Agrarstaat zum ambitionierten Technologie- und Industriestandort verholfen haben. Vergessen gemacht wird vielmehr das Grundvertrauen, das dem Umverteilungsmechanismus zugrunde liegt: Unabhängig von einer politischen Couleur jeweiliger Landesregierungen Gelder zu gewähren, damit diese eigenständige Politik ohne Bevormundung betreiben können. Mit den Worten der Christsozialen in Bayern und den Christdemokraten in Hessen ist dies mehr als Misstrauen zu einem Grund der Beugung geworden, der sich in einer Binnenkonkurrenz manifestieren wird.

Das Verhältnis der deutschen Bundesländer zueinander und zum Bund ist, cum grano salis, im Kleinen das, was das Verhältnis der EU27 im Großen kennzeichnet. Zutiefst föderal angelegt, hat gerade die Kooperation besser und nachhaltiger gewirkt als jedes Diktat von Bedingungen. Die Wirklichkeit, die in den letzten Jahren von „Wettbewerb“ gestaltet worden ist (von der Bonität von früher als mündelsicher bezeichneten Staatspapieren über die Kujonierung parlamentarischer Prärogativen wie die Haushaltshoheit bis hin zum Überlebenskampf des kleinsten Handwerkerbetriebs) ist aber, die Menschen einem solchen formal-ökonomischen Diktat ausgesetzt zu haben. Es verhindert, dass das föderale Europa zu seiner Vervollkommnung gelangt, da es mindestens synallagmatisch kooperative Austauschverhältnisse voraussetzte. Die Rückbesinnung wäre also nicht nur, in welche Art europäischen Kontextes wir uns weiter einschreiben, sondern erst recht wie wir unser ureigenes Gemeinwesen erleben wollen.

Menschen wie Söder haben das ganz genau erkannt und wollen diese Phase der Orientierung nutzen, um der Partikularisierung, der Zersplitterung zu weiterer Blüte zu verhelfen. Der föderale wird so zum provinziellen Gedanken, das „Europa der Regionen“ vom Reiz der Einheit in Vielfalt zum uniformen Dasein im Schatten der (vermeintlich) Starken transformiert.

Es beginnt also bei dem Wort, an das wir uns bereits gewöhnt zu haben scheinen. Es offensichtlich auch lieben, nachdem mit dem Leitmotiv „uns geht es gut“ Wahlen überwältigend gewonnen worden sind. Und das uns veranlasst, ganz gottgegeben in dieser christlichen Familie, nicht über die Verlierer zu sprechen außer in der moralischen Anwandlung von „selbst verschuldet“. Wenn sich die Zivilgesellschaft ihren Namen verdienen soll, dann in dem Maß, wie sie sich der aufgesetzten Logik dieses allseitigen Verdrängungswettbewerb entzieht. Die luziden Denker sind dazu vorausgegangen; an uns es in die Tat umzusetzen. MS

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

Marian Schraube

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