Bedrohungslage

Maßregeln Immer mehr Menschen in Deutschland verlieren ihre Bewegungsfreiheit, weil sie als „Gefahr“ eingestuft werden. Dazu reicht in Bayern ein Satz

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Bedrohungslage

Foto: Christof Stache/AFP/Getty Image

Ziemlich bekannt ist Ursula Gresser geworden mit ihrem Tweet vom vergangenen Juni. Inhalt: „Wann Mollath freikommt? Diese Frage könnte man Frau Merk am Mo. 10.06.13 um 19 Uhr im Landgasthof Hofolding stellen.“

Aufgegriffen von Richard Gutjahr auf seinem Blog machte die Geschichte schnell die Runde: Von einem reichlich seltsamen Besuch von Polizeibeamten bei Frau Gresser, über ein telefonisches Interview mit dem Polizeipräsidium München. In dem wurde ausdrücklich bestätigt, dass Anlass der Ausforschung zur Gefahrenlage die Kurzmitteilung gewesen war. Bis zu den nachträglich übereinstimmenden Presseerklärungen des Polizeipräsidiums München und des Bayerischen Justizministeriums, die unisono und in teilweise identischem Wortlaut einen Zusammenhang mit dem Tweet in Abrede stellten. Ein Wunderwerk der Kooperation zwischen Inneres und Justiz. Und vielleicht haben ihr Bekanntheitsgrad und ihre akademische Tätigkeit Frau Gresser davor bewahrt, die Fragen woanders als zuhause beantworten zu dürfen.

Nicht ganz so glimpflich ist die Sache für Claudia M. ausgegangen. Sie hatte sich per Telefax direkt an den Bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer gewandt und ist dafür umgehend in der Psychiatrie gelandet.

Der alltägliche „Wahnsinn“

M., 49 Jahre alt und schwerbehindert sowie ihre 72-jährige Mutter waren für den 29.07. von der Zwangsräumung ihrer Wohnung durch den Gerichtsvollzieher bedroht. Am 20.7. wandte sich Frau M. erstmals per Fax an den Ministerpräsidenten, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Als keine Reaktion folgte, legte sie am 25.7. fernschriftlich nach:

„Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

heute wende ich mich ein letztes Mal an Sie.

Leider ist durch die Verfahrensverschleppung von Seiten des Amtsgerichts Ro-senheim und in der Berufung von Seiten des Landgerichts Traunstein die Zwangsräumung nach Berliner Modell nicht mehr aufzuhalten. Die bayerische Justiz hat meine Mutter und mich gezielt in die Zwangsräumung am 29.07.2013 gebracht.

Meine 72-jährige kranke Mutter und ich (schwerbehindert mit voller Erwerbs-unfähigkeitsrente) werden diesen Tag nicht überleben.

Wir haben an Eides Statt versichert, dass wir aus gesundheitlichen Gründen spätestens im Oktober 2013 aus den Mieträumen ausziehen werden. Auch das wurde ignoriert!!!

Der Vermieter hat mit krimineller Energie die Heizungs-/Warmwasser- Hausstation manipuliert und die Justiz verweigert eine Beweisaufnahme und unterstützt das Vorgehen des Vermieters. Der Vermieter verweigerte eine Mängelbeseitigung, sodass meine Mutter aufgrund einer Sprunggelenksverlet-zung seitdem gehbehindert ist, etc. Unsere Existenz wurde ruiniert, was haben wir noch zu verlieren?

Am 29.07.2013 um 08:30 Uhr wird ein Unglück passieren!!!

Mit freundlichen Grüßen

Claudia M[...]“

Nun ging es Schlag auf Schlag: Vermutlich von der Staatskanzlei direkt benachrichtigt, gab das Landratsamt Rosenheim ein Ferngutachten in Auftrag, das am 26.7. eine „konkrete Suizidgefährdung“ diagnostizierte. Am gleichen Vormittag wandte sich das Landratsamt kraft des Gutachtens an das Amtsgericht Rosenheim, das prompt die „vorläufige Unterbringung der Betroffenen in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses“ anordnete. Um 12:00 Uhr erschien die Mitarbeiterin des Landratsamtes in Begleitung von zwei Polizisten in der Wohnung, um 13:00 Uhr befand sich Frau M. bereits in der geschlossenen Abteilung des Inn-Salzach-Klinikums in Wasserburg. Nur eines fand erst mit erheblicher Verspätung statt: Die gesetzlich zwingend vorgeschriebene Anhörung der Betroffenen.

Den Sachverhalt hat Gerhard Strate dokumentiert. In seiner „Erklärung der Verteidigung vom 27.7.2013 - dieses Mal nicht zu Mollath“ und den Papieren zu „Neues aus Rosenheim“ kommt der bekannte Anwalt „in der Sache der vielen anderen Mollaths“ zu dem Ergebnis: „Vorsicht mit Eingaben beim bayerischen Ministerpräsidenten – es besteht unmittelbare Unterbringungsgefahr!

Der inkompetente Richter in Kollusion mit dem verantwortungslosen Gutachter

Das Geschehen wirft natürlich die Frage auf, wie schnell es geht, in Deutschland in der Psychiatrie zu landen. Sie wurde einem breiteren Publikum zugänglich gemacht, als bei Beckmann am 15. August nicht nur Gustl Mollath zu Gast war, sondern auch die Psychiaterin Hannah Ziegert. Sie sprach zentral das Unwesen von "Gutachten nach Aktenlage" an, also die Diagnosen und/oder Prognosen, die ohne Mitwirkung des oder der Betroffenen zustande kommen und eine Jahre lange Unterbringung empfehlen oder zementieren.

Claudia M. wirft indes den Kern des Problems auf seine Ursprünge zurück, den Unterbringungsgrund. Und der lautet: Eine Gefahr darzustellen. Denn gleich, ob eine bestimmte (angebliche) Straftat Anlass ist, um die Unterbringung im Strafprozess auszusprechen oder es sich um eine Unterbringungssache nach FamFG in „Familiensachen und Angelegenheit der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ handelt – die „Gefahr“ für sich oder die Allgemeinheit ist stets der normative Kern der gesetzlich so genannten freiheitsentziehenden Maßregeln und nicht lediglich ein ärztliches Attest.

Dass der letztendliche Entscheider, der Richter mit dieser normativen Wertung überfordert ist, ist schon lange keine akademische Diskussion mehr und hinreichend bekannt. Geradezu vernichtend in der Beziehung fällt die Bestandsaufnahme von Hinrich Rüping aus, mittlerweile emeritierter Professor für Straf- und Strafprozessrecht.

Richter erschienen alleine mit der Beurteilung der Wertigkeit von Forschungsmethoden überfordert, wenn es um die fachliche Kompetenz des auszuwählenden Gutachters geht. Mehr noch vollziehe sich aber im Gerichtssaal die Verständigungsschwierigkeit der Spezialisten aus Justiz und Psychiatrie, die einen Rollentausch bewirke:

„Gerade in diesem Bereich ist anerkennt, dass sich die Rolle des Sachverständigen keineswegs auf eine dem Gehilfen eigentümliche Zuliefertätigkeit für den Richter beschränkt, sondern in der Praxis weitgehend die gerichtliche Entscheidung determiniert und den Richter auf eine Plausibilitätskontrolle verweist.“

Weiter:

Der Grundsatz, der Richter habe auch über schwierige Fachfragen der Psychiatrie selbst zu entscheiden, gerät auf diese Weise zur Ausnahme.“

Und damit das dicke Brett, an dem Fachleute wie Frau Ziegert seit Jahrzehnten bohren, in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit: Ist in der Praxis der Anordnung der Richter noch der gesetzliche, wie es das Justizgrundrecht gemäß Art. 101 I 2 Grundgesetz (GG) vorsieht, wenn es um eine Unterbringung in Ansehung einer „Gefährlichkeit“ geht? Oder ist es tatsächlich ein, zumal potentiell fehlerhaft ausgewählter und ebenso tätig werdender Gutachter, der als eigentlicher Herr des Verfahrens sich zur Not sogar mit dem Hinweis aus seiner Pflicht stehlen kann, er werde persönlich bedroht, wie es noch jüngst bei Gustl Mollath der Fall war?

In einem Satz: Der „Störer“

Wer sich die Zeit nimmt, das umfangreiche Material zur Causa Mollath durchzulesen, wird unweigerlich auf dessen Aussage in der mündlichen Verhandlung vom 22.4.2004 stoßen: „Ich trete aus dem Rechtsstaat aus“. Er erschien dem damaligen Amtsgericht derart bedeutsam, dass es ihn protokollierte. Und dem schließlich entscheidenden Landgericht, an das das Verfahren abgegeben worden war, sogar für entscheidungsrelevant, ihn in das unterbringende Urteil vom 8.8.2006 aufzunehmen, obwohl keiner der drei Richter den Satz je gehört hatte. Und er findet sich selbst im Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft Regensburg vom 18.3.2013 wieder.

War/ist das nicht der Beleg einer prinzipiellen Abweichung? Denn wer ist so kriminell und/oder verrückt (oder beides), sich als Angeklagter von den Garantien des Rechtsstaats und seiner Verfahren abzuwenden, sich damit aber gleichzeitig für eben diesen gefährlich zu machen, indem er ihn prinzipiell in Zweifel zieht? Und müsste der Satz nicht jetzt bemäntelt werden, da es mit der Wiederaufnahme des Verfahrens um die Rehabilitation Mollaths geht? Der Gedanke, dass sich hier lediglich schiere Verzweiflung artikuliert haben könnte, entzieht sich freilich in einer kategorischen Denkweise, die sich ausschließlich zwischen den Extremen Gefahr und deren Prävention bewegt.

Was zur letzten Frage führt, der des rechtlichen Gehörs. Denn was nach (streng einzuhaltendem) Verfahrensgrundsatz klingt, der (dann doch) durchbrochen werden könne, wenn „Gefahr in Verzug“ sei, ist nicht lediglich ein „Recht“ oder eine Formalie, sondern Ausdruck einfache Notwendigkeit, sich mit der Person auseinander zu setzen. Dem hatte sich bei Mollath der richtende Otto Brixner entschlagen, der den vermeintlichen Delinquenten „malträtierte und provozierte“, ihn zum Schweigen und zur Unperson degradierte und einen verheerenden Eindruck hinterließ, wie es Zeitzeugen berichten.

Claudia M. hätte ebenfalls Anlass gegeben. Denn es konnte keinem Zweifel unterliegen, dass an dem genannten Tag tatsächlich „ein Unglück passiert“ ist. Ein größeres als für zwei, zumal erwerbsunfähige Frauen, das Dach über dem Kopf zu verlieren, ist nicht vorstellbar: Es ist buchstäblich, aus dem Leben gerissen zu werden. Das menschlichste aller Dinge, das Gespräch zwischen Menschen mit Klärungsbedarf, tritt freilich immer mehr in den Hintergrund, je mehr die Person als „Gefahrenquelle“ oder „Störer“ nicht nur (per Gesetz) tituliert, sondern tatsächlich so wahrgenommen wird. Dafür reichen mittlerweile in Bayern einzelne Sätze, ein Tweet, und ein besonders anfälliger Adressat: Der anherrschende Richter, die um die eigene Sicherheit besorgte Ministerin oder eine fürsorgliche Staatskanzlei. Und damit der eigentliche Ausdruck autoritären Wesens: Sprachlosigkeit im Gewand der Legalität, da es nicht mehr um das Miteinander-Reden geht, sondern allenfalls um ein zu gewährendes Gehör samt dessen Beschränkung.

Zitat aus WikipediA:

„Im Jahr 2009 wurden von 114.578 Verfahren über unterbringungsähnliche Maßnahmen im Sinne von § 1906 Abs. 4 BGB 96.062 genehmigt und 7.516 abgelehnt; von 56.011 Verfahren über eine Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 und 2 BGB wurden 54.131 genehmigt und 1.880 abgelehnt.“

Die Zahlen werden von der jüngsten Antwort der Bayerischen Justizministeriums vom Januar (Drucksache 16/15490, S.7 f.) auf eine Anfrage der Abgeordneten Christine Stahl (Bündnis90/Die Grünen) weitgehend bestätigt.

Vielleicht bedarf es ja noch eines weiteren Äquivalents zu einer deutschen Großstadt, überwölbt und mit festen Mauern, um eine Antwort darauf zu erhalten: Was uns konkret droht, wenn wir auch nur unbedacht sind. MS

[Nachtrag, 05.09.2013: Heute Vormittag hat das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung zur Verfassungsbeschwerde von Gustl Mollath veröffentlicht, mit der die Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts Bayreuth aus dem Jahr 2011 angegriffen wurden. Sie hatten seinen Verbleib in der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und sind nun vom BVerfG aufgehoben worden. Das Zusammenspiel zwischen Gericht und Gutachter ist einer der wesentlichen Punkte lt. Pressmitteilung:

„Entscheidungen über den Entzug der persönlichen Freiheit müssen auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben. Insbesondere darf der Strafvollstreckungsrichter die Prognoseentscheidung nicht dem Sachverständigen überlassen, sondern hat diese selbst zu treffen".

Und:

„Bei langdauernden Unterbringungen wirkt sich das zunehmende Gewicht des Freiheitsanspruchs auch auf die Anforderungen aus, die an die Begründung einer Entscheidung zu stellen sind. In diesen Fällen engt sich der Bewertungsrahmen des Strafvollstreckungsrichters ein; mit dem immer stärker werdenden Freiheitseingriff wächst die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte."

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26.08.2013, Az.: 2 BvR 371/12 (Pressemitteilung, Entscheidung)]

[2. Nachtrag, 05.09.2013: Die SZ vermeldet online, dass Hanna Ziegert „Nach Kritik kaltgestellt“ worden sei. Binnen kürzester Zeit nach ihrem Auftritt bei Beckmann habe die Staatsanwaltschaft drei Mal mit gleicher Begründung gegenüber Gerichten Antrag auf Ablehnung von Ziegert wegen Besorgnis der Befangenheit gestellt. Der auch im Paper (S. 52) veröffentlichte Artikel geht näher auf eine schon lange währende Resistenz der Münchner Strafverfolgungsbehörden auf eine gutachterliche Tätigkeit ein, die nicht zu Gefallen ist und nicht zur Verfügung steht. In seinem Kommentar („Wehleidige Staatsanwälte“, S. 49) zu diesem vehementen Ausbruch meint Hans Holzhaider:

„Die Münchner Psychiaterin Hanna Ziegert wird von den meisten Sachkennern als eine hervorragend fachkundige, außerordentlich sorgfältig arbeitende Gutachterin geschätzt. Sie ist allerdings auch dafür bekannt, dass sie kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn sie Defizite, sei es bei ihren eigenen Kollegen oder im Umgang der Justiz, mit psychisch kranken Straftätern beschreibt. Dass Richter und Staatsanwälte bestimmte Erwartungen an psychiatrische Sachverständige haben und dass diese sich in vielen Fällen an diesen Erwartungen orientieren, ist keine böswillige Unterstellung, sondern tägliche Realität […]Wenn Hanna Ziegert sich in einer Fernsehsendung in diesem Sinn äußert, würde man sich wünschen, dass die Betroffenen vielleicht mal selbstkritisch in sich gehen. Aber das ist nicht die Art der Münchner Staatsanwaltschaft.“

Das von Olaf Przybilla und Uwe Ritzer („Die Affäre Mollath“) diagnostizierte multiple Organversagen setzt sich unvermindert fort.]

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Geschrieben von

Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

Marian Schraube

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