Das Parlament in die Knie gezwungen

Parlamentarismus Seit acht Wochen ist der deutsche Bundestag an seiner Arbeit gehindert – eine schallende Ohrfeige für die repräsentative Demokratie

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Zwei Monate ist es nun her, dass sich die Deutschen ein neues Parlament gegeben haben. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen. Denn mit den neuen Abgeordneten hat auch ein gewandeltes Selbstverständnis der Legislative Einzug gehalten. Wie anders wäre es sonst zu erklären, dass der Bundestag, seiner institutionellen Rolle gemäß die Versammlung „der Vertreter des gesamten Volkes“ und damit zentraler Ort der repräsentativen Demokratie, sich bis zur Handlungsunfähigkeit hat bescheiden lassen?

Die Rede ist von den Ausschüssen, die seit dieser Zeit nicht neu besetzt bzw. gebildet worden sind. Jenen Gremien also, in denen die späteren Entscheidungen des Plenums wie etwa Gesetze fachlich und politisch vorbereitet werden. Sie sind, wenn das Parlament das Forum ist, dessen Werkbänke. Und sie haben Verfassungsrang, wie unschwer den Artikeln 45 ff. Grundgesetz zu entnehmen ist. Nicht eine Regierung bestellt sie, sondern der Bundestag.

Dass die Neuformierung eine Frage von Personalien ist, steht außer Diskussion. Freilich nicht mit Blick auf den parteilichen Proporz. Die Geschäftsordnung des Bundestages lässt hier kaum Spielraum, da die „Zusammensetzung der Ausschüsse sowie die Regelung des Vorsitzes in den Ausschüssen im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen“ ist.

Sondern wer tatsächlich als Person in den Ausschüssen sitzen oder ihnen vorsitzen wird, ist vielmehr die erhebliche Klippe. Mitglieder eines künftigen Exekutivs können ihnen nicht angehören. Berücksichtigt werden also die, die in der Regierung keine unmittelbare Rolle spielen werden - entweder als Trostpflaster für den Umstand, nicht am Kabinettstisch sitzen zu dürfen oder mit Blick auf regierungsamtliche Verlässlichkeit, in deren Sinne die Ausschussarbeit beeinflussen zu können.

Ein Revirement frühzeitig getroffener Personalentscheidungen in der Zeit nach der Regierungsbildung wäre damit vor allem eines: Lästig für die Machtarithmetik einer Kanzlerschaft Merkel III. Nur dass die verfassungsmäßige Ordnung „Lästigkeit“ in der Konstruktion der Gewaltenteilung nicht kennt, sondern die Kontrolle der Exekutive durch das Parlament. Sie wird seit nunmehr acht Wochen unterlaufen, Ende offen.

Die polternde Kritik von Bundestagspräsident Norbert Lammert ist dazu nur das schlecht kaschierende Feigenblatt. Denn natürlich hat der CDU-Mann im neunten Jahr seines Amtes recht, wenn er verlauten lässt, er halte es weder für plausibel noch notwendig, die Entscheidung zu den von der Verfassung vorgesehenen Ausschüssen bis nach der Kanzlerwahl zu vertagen.

Die korrumpierende Kraft der Macht

Dass Lammert nun einem „vorläufigen Superausschuss“ das Wort redet in Derogation nicht nur stringenter Verfassungsbestimmungen, sondern des parlamentarischen Selbstverständnisses, mehr als etwas nur Provisorisches zu sein, zeigt aber überdeutlich die Affinität zur Macht der Kanzlerin. Es ist der vorauseilende Gehorsam des höchsten Vertreters der Parlamentarier, der einer supra partes sein will und sich dem Willen einer noch nicht einmal gebildeten Regierung beugt.

Lammert hat damit gleichzeitig dem Amt, das er als das zweite im Staat noch vor einem Regierungschef verstanden wissen möchte, schweren Schaden zugefügt. Das Schweigen seiner Stellvertreter kann nur als beschämend bezeichnet werden.

Der eigentliche Skandal aber ist das Verhalten der Abgeordneten der SPD. Mitinitiatoren des evidenten Verfassungsbruchs per „Superausschuss“, setzen sie zwanglos die unselige Linie fort, die sie bereits in der konstituierenden Sitzung des Bundestags angedeutet hatten – die Bereitschaft, um der Posten willen demokratische Rechte wie Gepflogenheiten über Bord zu werfen. Waren es am 22. Oktober die Rechte der Opposition, die -> zielgerichtet übergangen wurden, sind es nun die des Parlaments insgesamt, die ohne Not ausgehebelt werden.

Ohne Not ist auch hier wörtlich zu verstehen. Denn ein Fall, wonach aufgrund von Konflikt oder sonstiger Zwangslage das Parlament nicht zusammentreten könnte, liegt nicht vor. Kaum auszudenken, was passierte, wenn er einträte und welche Rolle dann dem Parlament zugedacht würde, wenn jetzt schon alleine Lästigkeitserwägungen das letzte Wort haben. Und es ist nicht wirklich beruhigend, dass unter diesem Aspekt zwei Fraktionen über eine Mehrheit verfügen, die beliebig Bestimmungen des Grundgesetzes außer Kraft setzen können, begrenzt allenfalls noch von der Ewigkeitsklausel ex Art. 79 GG.

Man mag sich in Deutschland an die unzähligen Verfassungsverstöße der voraufgegangenen Legislativen gewöhnt haben. Gegebenenfalls wird sich in Sicherheit gewogen, dass es letztinstanzlich ein Bundesverfassungsgericht mit einem weisenden Urteil noch richten wird, wenn auch erst in ein paar Jahren.

Ein Richterspruch aber ersetzt nicht hier und jetzt das Gewissen jedes einzelnen Parlamentariers, dem allein er als „Vertreter des ganzen Volkes“ unterworfen ist und nicht an „Weisungen oder Aufträge gebunden“ – nicht an solche aus Parteizentralen und erst recht nicht mit Blick auf ein künftiges Exekutiv, das er im Gegenteil zu überwachen haben wird. Ein Richterspruch kann damit auch kaum dem Bewusstsein der Abgeordneten aufhelfen, selbst Repräsentanten zu sein und nicht lediglich verlängerte Module von Regierungs- oder Parteiapparaten.

Sich daran zu erinnern stünde besonders denjenigen gut zu Gesicht, die in den vergangenen vier Jahren die Präpotenz und Herablassungen einer Regierung Merkel II zu Recht kritisiert haben. Sich ihnen jetzt per Nachahmung zu fügen ist einer der Gründe, warum in Deutschland zunehmend mehr Menschen Neuwahlen als wünschenswerte Option sehen.

Denn es stellt sich aus dieser Warte immer dringender die Frage, wie weit alleine die Aussicht auf Teilhabe an der Macht korrumpierend wirken mag. In dieser Hinsicht hat sich die Mehrheit des Bundestags bereits ein miserables Führungszeugnis ausgestellt. Dabei ist über Inhalte noch nicht einmal gesprochen. MS

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

Marian Schraube

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden