Zuviel und zu wenig: Moment organischer Krise

Krise, Erschöpfung Verunsicherung und Erschöpfung sind die Rückseite neoliberaler Anrufung von Eigenverantwortung und fortschreitender Flexibilisierung.

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Sie sind das Ergebnis von über 30 Jahren Verallgemeinerung prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse (zu den subjektiven Auswirkungen vgl. Candeias 2008). „Jeder Zweite klagt über Stress, jeder Dritte hat das Gefühl, sich zerreißen zu müssen. [...] Fast jeder kennt einen Kollegen mit Burn-out, egal ob Wirtschaftsprüfer oder Automechaniker“ oder Arbeitslose – Ergebnisse der jüngsten Studie von Financial Times Deutschland und GfK Verein (FTD 9.11.12, 31).

Unter dem Druck von Globalisierung und Liberalisierung konnte die Stellung der Gewerkschaften zurück gedrängt werden. Die verschärfte Konkurrenz auf den Arbeitsmärkten trifft auf eine Flexibilisierung und Individualisierung von Arbeitsverhältnissen, die gemeinsame (Klassen)Positionen auflöst. Die massive Ausweitung eines Niedriglohnsektors, ermöglicht nicht zuletzt die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt – allerdings zu schlechten Bedingungen. Sogenannte Workfare-Reformen wie die Agenda 2010 erzwingen dies auch: sie relativieren in fast allen Industriestaaten das Recht auf ein staatlich garantiertes armutsfestes Existenzminimum und binden seine Einlösung an Pflichten: fordern statt fördern. In diesen prekären Bereichen ist der größte Teil der Lebenszeit davon geprägt, an die Beschaffung eines Jobs, an die Organisation der Zeit zu denken, daran, wie man mit dem Geld auskommen könnte, wo noch etwas zu sparen, wo noch etwas hinzuzuverdienen wäre etc. Es reicht in der Regel kaum für das Notwendigste. Schon für eine halbwegs akzeptable Wohnung muss größtenteils deutlich mehr als die Hälfte der Einkommen gezahlt werden. Um zu überleben füllen die working poor häufig mehrere Jobs aus – wo das Geld nicht ausreicht, stocken staatliche Stellen die Löhne auf das Existenzminimum auf. Dies alles gilt auch für andere Formen prekärer Arbeits- und Lebensbedingungen wie Leiharbeit mit erzwungener Mobilität oder Solo-Selbständigkeit. Entsprechend sind längst nicht nur formal „niedrig“ qualifizierte Arbeitskräfte betroffen, sondern auch Facharbeiter und Hochqualifizierte. Nicht zuletzt unter jungen Akademikerinnen und Akademikern ist das Niveau der Prekarität hoch.

Mit dem Einsatz von Leiharbeit, unbezahlten Praktika oder Projektarbeit wiederum wird Druck auf die vermeintlich sicheren Kernbelegschaften ausgeübt: Waren prekäre Randbelegschaften zunächst erwünschter Flexibilisierungspuffer, schleicht sich ein diffuses Gefühl der Ersetzbarkeit ein, da sich die Externen in kurzer Zeit als mindestens ebenso leistungsfähig, flexibler, gefügiger und v.a. billiger erweisen. Ihre Präsenz wirkt disziplinierend. Letztlich sind in den Jahren vor der Krise auch die Verhältnisse der unbefristet Festangestellten unsicher geworden. Die permanenten Angriffe von Kapitalseite, selbst in den Hochburgen gewerkschaftlicher Organisierung, den Großunternehmen der Automobilindustrie, haben quasi allen Arbeitsverhältnissen nur noch temporäre Gültigkeit verliehen: die mühsam ausgehandelten Beschäftigungsgarantien, meist gegen Lohnverzicht und längere Arbeitszeiten, gelten für wenige Jahre, d.h. nur soweit sich die Lage des Unternehmens nicht verändert haben sollte. Oft haben diese Beschäftigungsgarantien nur ein paar Monate Bestand. Die Angst lähmt und macht die Leute kaputt, v.a. seit Hartz-IV. Schon mit Ende 40 ist es schwer noch einen neuen Job zu finden und dann droht der Abstieg. Das produziert Stress, bis in die Familien hinein.

In den USA sind die Reallöhne über die letzten 30 Jahre gefallen, in der Bundesrepublik stagnieren sie – im Niedriglohnsektor allerdings fielen die Löhne zwischen den Jahren 2000 und 2010 um bis zu 30 Prozent (DIW 2011). Der Versuch, das Niveau des Lebensstandards zu halten oder steigende Anforderungen für Weiterbildung, Gesundheitskosten, Gebühren für die Bildung der Kinder, zunehmende Wohn- und Energiekosten bezahlen zu können, führt in Ländern wie den USA, Irland oder Spanien (auch bei z.T. Steigenden Lohnniveaus) zu einer rasant steigenden Überschuldung der Haushalte – billige Kredite machen es möglich.

Darüber hinaus führt die Intensivierung der Arbeit in allen Bereichen zu massiver Überforderung: durch mehrere, flexibel zu kombinierende Jobs bei Niedriglöhnerinnen, die dennoch kaum für das Notwendigste ausreichen; durch Anziehen der Produktivitätsschraube und Arbeitsverdichtung von Seite der Unternehmen in der Automobilindustrie, Krankenhäusern oder bei Pflegediensten; durch Entgrenzung der Arbeitszeit bei hoch autonomen Beschäftigungsformen im Kreativ- oder IT-Bereich, die angesichts überbordender Anforderungen und individualisierter Konkurrenzverhältnisse zu „Selbstausbeutung“ führt: frei, flexibel, fertig von der Arbeit.

Die Intensivierung der Arbeit steigert die Reproduktionserfordernisse; gleichzeitig verkürzen erhöhte zeitliche Ansprüche der Erwerbsarbeit die verfügbare Zeit für die Reproduktion von eigener und neuer Arbeitskraft. Beides muss in immer kürzerer Zeit geleistet werden und setzt die Betroffenen einem gesteigerten zeitlichen Stress aus: insbesondere bei Frauen geht – trotz häufiger Teilzeitarbeit – die reale Arbeitszeit inklusive der notwendigen Erziehungs- und Hausarbeit häufig deutlich über 70 Stunden in der Woche hinaus, hoch flexibel im Zeitmanagement zwischen Job, Schule, Kita, Zuhause und den Großeltern, die ab und zu helfen. Die Ausdünnung (und Verteuerung) öffentlicher Dienstleistungen verschärfen das Problem. Die Verdichtung der Arbeit in Bereichen wie Gesundheit oder Bildung führt zudem zu sinkender Qualität der Leistungen. Folge: Zuerst wird die eigene Reproduktion vernachlässigt, dann die nötigen Erziehungs- und Sorgearbeiten und schließlich ist auch die Arbeitsleistung bedroht: Erschöpfungssyndrome sind Allgemeingut geworden. Für die Einzelnen ist die „Krise“ der Reproduktion seit langem Alltag.

Reproduktionskrisen und Verdichtung

Dieser lange Prozess molekularer (vielerorts, langsamer, nicht unmittelbar sichtbarer) Verallgemeinerung prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse im Sinne wachsender Probleme individueller Reproduktion wird durch die große Krise seit 2007 verschärft.

In den USA verdichten sich die Probleme der working poor, der Millionen ohne ausreichenden Gesundheitsschutz, der Perspektivlosigkeit der hoch ausgebildeten Kindern der bedrohten „Mittelklasse“ ohne Jobperspektive (vgl. Ehrenreich 2006) und der enormen Ungleichheit mit Ausbruch der Hypothekenkrise: Die Überschuldung bei Hausbesitzerinnen, Studenten und Konsumenten, schlägt um in Massenarmut, Zwangsräumungen, Pfändungen. Die individuellen Reproduktionsbedingungen brechen weg. Dies ist der Boden auf dem Unzufriedenheit und Scham angesichts der skandalösen Rettung der Finanzinstitute sich zur Wut entwickeln und sich bei Teilen der Bevölkerung in politisches Engagement übersetzt – und zur Mobilisierung von Occupy Wall Street führt.

Ähnlich zuvor in Spanien: dort waren bereits 2003 ca. 90% aller neugeschaffenen Arbeitsplätze prekäre Jobs. Bezahlbare Mietwohnungen waren vor allem in Großstädten nicht mehr vorhanden – entweder hieß es auch im Alter von 30 Jahren noch zuhause zu wohnen oder Wohneigentum auch ohne Grundkapital auf Kredit zu erwerben. Eine rudimentäre Sozialversicherung führt bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit schnell zu enormen Kosten für die Betroffenen. Um überhaupt Zeit für die Arbeit zu finden, müssen Eltern Kosten für die Kindertagesstätte in Höhe von 400-600 € pro Monat schultern. Mit dem Platzen der Immobilien- und Finanzblase werden auch die (fiktiven) Werte der Immobilien zerstört. Steigende Zinsen überfordern die überschuldeten Haushalte. Krise und extreme Kürzungspolitiken führen zu Massenarbeitslosigkeit und einer massiven Einschränkung der sozialen Infrastrukturen. Der Zusammenbruch individueller Reproduktionsperspektiven führte zur Mobilisierung der Idignad@as. Vergleich entwickelte sich die Lage in Griechenland.

Bekanntermaßen zeigte auch die Entwicklung in Nordafrika – obwohl unter so gänzlich anderen Bedingungen – durchaus Parallelen: Eine zunehmend höher ausgebildete Klasse junger Lohnabhängiger hat die über moderne Medien und ein vielfältiges Warenangebot Zugang zu anderen Lebens- und Konsumstilen gefunden, ohne diese selbst leben zu können. Ohne Jobs, ohne Perspektiven, ohne demokratische Ausdrucksmöglichkeiten verdichtete sich die Unzufriedenheit, als selbst eine armselige Reproduktion aufgrund steigender Lebensmittel- und Benzinpreise gefährdet schien. Die Selbstverbrennung eines akademisch ausgebildeten Gemüsehändlers gab den Anstoß für die Arabellion, die wiederum den Impuls gab für die Indignad@as und Occupy.

Auch in der Bundesrepublik war vor der Krise das Gefühl verbreitet, so könne es nicht weiter gehen mit Prekarisierung, Arbeitsintensivierung und Austrocknung der sozialen Infrastrukturen. Doch war vieles bereits in den letzten 10 Jahren vorweggenommen, was in Südeuropa gerade krisenhaft durchgesetzt wird. Zudem sind Krisenkorporatismus und -management in Deutschland vergleichsweise erfolgreich. Zugleich wirken Krise und Angst vor Arbeitslosigkeit disziplinierend (vgl. Candeias, 2011a). Der rasche Wiederanstieg der Exporte (v.a. nach China) stützte die Konjunktur. Nach der Sicherung von Jobs durch Kurzarbeitergeld, wurden auch die über 400.000 zuvor entlassenen Leiharbeiterinnen wieder eingestellt. Neue Jobs wurden geschaffen, auch wenn zwei Drittel davon prekär sind. Tariflöhne stiegen wieder, wenn auch nur nominal – also reale Stagnation der Lohneinkommen. Auch gesellschaftliche, familiäre oder individuelle Reproduktionserfordernisse werden weiter systematisch vernachlässigt. Krisenpolitik war dabei vor allem patriarchale Politik: Rettung von Banken und vorwiegend männlichen Industriearbeitsplätzen, nicht aber von Dienstleistungsjobs, keine Investitionen in öffentliche Leistungen und Sorgearbeit. Und die nicht mehr aushaltbare Intensivierung der Arbeit? Es wird weiter verdichtet und Beschäftigte versuchen durchzuhalten – alles scheint besser als Krise und Arbeitslosigkeit. Krisenproteste bleiben bislang marginal. Die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung, die besondere Position der deutschen Ökonomie verhindert eine Verdichtung der Krise bislang.

Wessen Krise?

Eine Krise der Reproduktion auf subjektiver Ebene ist noch keine gesellschaftliche Krise der Reproduktion. Als vereinzelte Phänomene sind molekularen Veränderungen solche beherrschbar. Solche generischen Krisenmomente gehören organisch zur Reproduktion kapitalistischer Produktionsweise. Da sie ständig wirksam sind, so Demirovic (1987, 118), ist es weder berechtigt, sie selbst schon als Krise zu sehen, noch dahinter ein teleologisches Prinzip zu vermuten, das quasi automatisch zur „wirklichen“ Krise hinführt. Doch diese Form der molekularen Veränderungen trägt immer auch die Möglichkeit zur Verschiebung von Widersprüchen und Kräfteverhältnissen und damit zur Verdichtung in „großen“ strukturellen bzw. organischen Krisen in sich, berühren Fragen der Hegemonie und Legitimität. Die „kleinen“ Krisen - verbreitete, sich verallgemeinernde individuelle Reproduktionsprobleme - sind nicht an sich bestandsgefährdend, sie schüren jedoch gesellschaftliche Konflikte. Aufgrund der Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse sind sie in letzter Konsequenz unkalkulierbar, ihre Überwindung nicht selbstverständlich. Im Moment des Zusammenfallens mit anderen Krisen, wie der Finanz- und Wirtschaftskrise beispielsweise, werden sie zur Reproduktionskrise. Darin liegt der krisenhaften Charakter solcher molekularer Bewegungen – insbesondere wenn sich unterschiedliche Krisenelemente verschränken und sich in einem Ereignis verdichten, wie etwa in Griechenland. Auch in den Finanzkrisen 1998ff von Asien bis Argentinien gerieten ganze Gesellschaften an der kapitalistischen Peripherie an den Rand der Reproduktionsfähigkeit. Dann werden auch politische und ökonomische Verhältnisse als Ganze in Frage gestellt – aktuell in der Überschuldungs- und Bildungskrise in Chile. In einigen Fällen führt dies zur Abkehr vom Neoliberalismus und zu unterschiedlichen Versuchen der Transformation – wie in Lateinamerika. In Asien erfolgte eher eine Hinwendung zum Modell des chinesischen staatsinterventionistischen Kapitalismus.

Mit dem Blick auf die Krisen der Reproduktion geht es also nicht mehr nur um die Auswirkungen z.B. ökonomischer Krisen auf die Reproduktion der Subjekte, sondern um die Rückwirkung, das Wechselverhältnis, die Verschränkung und mögliche Verdichtung unterschiedlicher Prozesse und Krisen. Verbreitete, sich verallgemeinernde individuelle Reproduktionsprobleme werden zu einer Reproduktionskrise im Moment des Zusammenfallens mit anderen Krisen wie der Finanz- und Wirtschaftskrise. Dann können schlagen unterschiedliche, nur vermittelt verbundene Krisenphänomene um in eine Legitimations- und Repräsentationskrise. Um dies im Bereich der Reproduktion zu vermeiden, wird mit widersprüchlichen Versuchen der Ausweitung und Reform experimentiert: von den Ganztagesschulen und dem Anspruch auf einen Kindergartenplatz ab nach dem ersten Lebensjahr bis zur sog. Herdprämie oder den Einsatz von mehr, aber niedriger qualifizierten, also billigeren Erzieherinnen (also von Ursula von der Leyen bis Kristina Schröder). Auch in den USA wird auf Seite des demokratischen Spektrums über einen New Public Deal diskutiert, der Notwendigkeit der Ausweitung des Öffentlichen, allerdings eher über Formen des Public-Private-Partnership.

Zusammenhang von ökonomischer und Reproduktionskrise

Im Prozess molekularer Verdichtung finden sich bereits Hinweise, wie die Krise der Reproduktion – nicht nur im Bereich der reproduktiven Arbeit (vgl. Frederici, LuXemburg 4/12), sondern mit Blick auf die allgemeinen Reproduktionsbedingungen – selbst auf die Ökonomie zurück wirkt, die sich seit langem auf eine Überakkumulationkrise hin zu bewegte. Dieser Tendenz zur Überakkumulation wurde begegnet, indem neben der ständigen Verfeinerung der Finanzmarktinstrumente und -strategien die Suche nach neuen Verwertungsmöglichkeiten durch Einbeziehung neuer Räume (etwa Ostasien), und die Erschließung bisher nicht inwertgesetzter Bereiche (z.B. genetische Ressourcen, allgemeines Wissen und intellektuelles Eigentum, Verschmutzungsrechte) oder der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen betrieben wurde. Eine weitere Möglichkeit war und ist die Entwicklung neuer Produkte und Produktionsmittel (z.B. den Informationstechnologien und der so genannten New Economy). Hinzu kommt, die Reproduktion der Arbeiterklasse immer umfassender zu einem unmittelbaren Bestandteil der Kapitalverwertung zu formen, immer neue (Konsum)Bedürfnisse zu schaffen, vom Flachbildschirm bis zum Eigenheim. Erheblich dazu beigetragen haben nicht zuletzt Finanzinnovationen zur Integration der Arbeiterklasse in Kreditverhältnisse: über die Einführung und Ausweitung von Ratenzahlungen, Konsumentenkrediten, Hypotheken- und Bausparkrediten mit entsprechenden staatlichen Förderungen, der Erfindung der Kreditkarten oder der Privatisierung der Rentenversicherung (auf Kapitalbasis) – oder eben die so genannten Sub-Prime-Kredite. All diese Strategien haben nicht verhindert, dass sich eine immer größere »Plethora des Kapitals« (Marx, MEW 25, 261) aufbaut, von überakkumuliertem Kapital, für welches es an ausreichenden Investitions- und Verwertungsmöglichkeiten mangelt und »dadurch auf die Bahn der Abenteurer gedrängt: Spekulation, Kreditschwindel, Aktienschwindel, Krisen« (ebd.).

Steigende Renditen lassen sich nur noch durch fortwährende Umverteilung zu Lasten der Lohnabhängigen, des Staates und der national oder regional beschränkten Kapitale realisieren, während immer größere Bereiche gesellschaftlich notwendiger Arbeit, der öffentlichen Infrastrukturen, der sozialen Dienste – also der allgemeinen (Re)Produktionsbedingungen – austrocknen. Während die Überakkumulation nicht nachhaltig abgebaut werden kann, sich nicht ausreichend neue Investitionsfelder eröffnen, spitzt sich eine Reproduktionskrise des Gesellschaftlichen zu, die auch die Grundlagen der Akkumulation selbst gefährdet (mangelnde Infrastrukturen, mangelnde Qualifikationen, mangelnder Zusammenhalt, mangelnde Profitaussichten etc.).

In Deutschland wird der Investitionsbedarf für Infrastrukturen bis 2020 auf über 700 Mrd. Euro geschätzt, dies entspricht jährlichen Investitionen von ca. 47 Mrd. Euro (Reidenbach u.a. 2008). Tatsächlich sinken jedoch insbesondere die kommunalen Investitionen seit Jahren. Bereits im Jahr 2005 lag die Unterfinanzierung bei etwa 20%. Im Zuge der Krise sinken die Investitionen nach Ablauf der Konjunkturprogramme durch die gesetzliche Schuldenbremse und Kürzungszwang weiter ab. Noch dramatischer sieht die Investitionslücke in den USA aus. Die OECD beziffert den weltweiten Bedarf an Infrastrukturinvestitionen bis zum Jahr 2030 auf mindestens 41 Bio. US-Dollar. Pro Jahr entspricht dies rund zwei Bio. US-Dollar – dem gegenüber werden jährlich nur rund eine Bio. US-Dollar investiert, vorwiegend durch die öffentliche Hand. In diesen Berechnungen geht es v.a. um physische Infrastrukturen, nur unzureichend enthalten sind Investitionen in soziale Infrastrukturen wie Pflege, Gesundheit, Erziehung und Bildung.

Doch auch die gesamtwirtschaftlichen Investitionsraten in der Bundesrepublik sinken weiter und tragen zwischen den Jahren 2001 und 2008 mit -0,1 Prozent überhaupt nicht mehr zum Wirtschaftswachstum bei. Die realen Nettoinvestitionen (also Bruttoinvestitionen minus Kapitalentwertung) fielen laut Eurostat von 8% auf 2,7%, in den USA von 9% auf 2,8% des BIP – in der Industrie gibt es in beiden Ländern reale Desinvestitionen. Trotz des Investitionsbooms in Brasilien, Indien, China oder anderen aufstrebenden Ökonomien ist laut Angaben der Weltbank die Tendenz der Weltinvestitionsrate im Verhältnis zur (sinkenden!) Wachstumsrate seit 1979 fallend: Nach schroffem Absturz in den 1980er Jahren konnte sie sich bis Anfang nach der Krise 1990 kurzzeitig stabilisieren, blieb dann flach bis zu einem kleinen Investitionsboom im Zuge der New Economy Blase. Seither sind die Bruttoinvestitionen weiter gesunken und liegen im Jahr 2008 mit rund 20% des globalen BIP auf einem historischen Tiefpunkt, 4% unter dem Wert von 1979. „Investitionen im Ausland kompensieren die schwache inländische Investitionsdynamik nicht“ (Husson 2010). Investitionen und damit Wachstum bleiben trotz steigender Mehrwertrate zurück – eine Annäherung an die Mehrwertrate in der bürgerliche Ökonomie entspricht der Anteil der Gewinne am gesamtwirtschaftlichen Bruttoeinkommen, die etwa in Deutschland von 1982 bis 2010 um 12% gesteigert werden konnte. Artus und Virard (2007) sprachen angesichts der historisch schwachen Investitionen schon vor der Krise von einem »Kapitalismus ohne Projekt«, die Substanz der allgemeinen Reproduktionsbedingungen wird ausgezehrt.

Vor diesem Hintergrund erhalten auch andere molekulare Veränderungen, die für sich genommen nicht bestandsgefährdend für die neoliberale Hegemonie sein mögen, eine andere Beleuchtung, wirken krisenverschärfend. Etwa die Erschöpfung der neuen Produktivkräfte:

So wurden in den letzten Jahren neue Formen der Arbeitsorganisation zurückgeschraubt, erreichen ihre Grenzen. Von Kapitalseite erfolgt ein Rückbau von Autonomiespielräumen, Verschärfung von Kontrolle, Intensivierung und Prekarisierung der Arbeit sowie Überausbeutung. Auf der Seite der Lohnabhängigen führt dies zu breiter Demotivierung und Kreativitätssperren, sowohl durch die „Selbstausbeutung“ in flexiblen, enthierarchisierten Arbeitsverhältnissen, als auch durch die engen Grenzen der betrieblichen Vorgaben und Despotismus (vor allem im Niedriglohnsektor) oder mangelnde Perspektiven. Dies bedeutet in vielen Fällen Erschöpfung, Verunsicherung, burn out, mangelnde Requalifizierung. Die subjektiven Probleme der Reproduktion schlagen um in ökonomische Probleme: Im Ergebnis liegt die Arbeitsproduktivität in den letzten zehn Jahren – trotz New Economy Boom – in Deutschland unter 2%, fluktuiert meist um die 1%. In den USA ist das Wachstum der Arbeitsproduktivität von 2000 bis 2007 im Durchschnitt auf 0,5% gesunken. Erst durch Massenentlassungen in der Krise konnte sie laut Bureau of Labour Statistics (statistisch) auf durchschnittlich 2% verbessert werden.

Die Kapitalproduktivität entwickelt sich noch schlechter: von 1980 bis 1992 konnte sie noch deutlich gesteigert werden, mit der Rezession Anfang der 1990 fiel sie dann wieder und konnte erst mit dem New Economy Boom noch einmal kurzfristig gesteigert werden. Seit der Krise 2000/2001 fällt sie deutlich ab (erreichte das Niveau von 1979). Die Bundesbank bestätigt: „In der Tendenz entspricht die sinkende Kapitalproduktivität [...] dem langfristigen Trend, der den überproportional wachsenden Kapitaleinsatz (Substitution von Arbeit durch Kapital)“ widerspiegelt – in der Krise 2008 fällt die Kapitalproduktivität noch einmal um 6,6% deutlich ab (Arbeitsproduktivität –4,9%; Deutsche Bundesbank 2010: 16f). In den USA sinkt die Kapitalproduktivität bereits seit dem Jahr 2000 (Cámara 2009: 5). Trotz fallender Investitionen und sinkender Lohnquote steigt die Kapitalintensität bei zurückgehender Arbeits- und Kapitalproduktivität bzw. steigendem Kapitalkoeffizienten (Kapitalstock durch Inlandsprodukt) – einem starken Indikator für die rasch steigende organische Zusammensetzung des Kapitals. „Die Profitrate steigt, wenn das Wachstum der Reallöhne niedriger ausfällt als … der gewichtete Durchschnitt von Arbeits- und Kapitalproduktivität“ – doch „es ist dieser doppelte Verfall der Arbeitsproduktivität im Verhältnis zum Kapitaleinsatz pro Kopf, aber auch im Verhältnis zu den Löhnen, der den Fall der Profitrate einleitet“ (Husson 2010). Spätestens seit 1999 können Steigerungen der Profitrate weder auf erhöhte Wachstumsraten noch auf wachsende Produktivität zurückgeführt werden. Die jeweiligen Stabilisierungen und Steigerungen der Profite nach einem Einbruch erfolgen durch Umverteilung des Mehrwerts. Die Potenziale der neuen Produktivkräfte lassen sich unter den neoliberalen Produktionsverhältnissen nicht weiter realisieren.

Die Überlagerung von weiter wachsender finanzieller Überakkumulation, mangelnder Investitionsaussichten aufgrund von Eurokrise und Kürzungspolitiken, Problemen der neuen Produktionsweise und Schwierigkeiten der Reproduktion der Arbeitskraft (vgl. Winker, LuXemburg 4/12) erzwingt einen tiefen Einbruch mit massiver Kapitalvernichtung und/oder einen umkämpften Transformationsprozess.

Transformation wohin?

Wir haben vorgeschlagen, den Reproduktionsbereich ins Zentrum eines sozialistischen Transformationsprozesses zu stellen (IfG 2011, 29): eine Care Revolution (Winker 2010). Schon jetzt macht nach Schätzungen der UN die unbezahlte, zumeist von Frauen geleistete Reproduktionsarbeit die Hälfte aller gesellschaftlich geleisteten Arbeit aus. Weitere ca. 30% der gesellschaftlich geleisteten Arbeit wird in mehr oder weniger kommodifizierten Formen innerhalb des staatlichen Sektors erbracht. Hinzu kommen die Arbeiten innerhalb des nicht profit-orientierten sog. Dritten Sektors, im Genossenschaftswesen und ehrenamtliche geleistete Arbeiten. Die im engen Sinne profitorientierte kapitalistische Produktion macht mit Blick auf die gesellschaftlich geleistete Arbeit nur 20-25% der Ökonomie aus – formspezifisch bleibt sie bislang weiter dominant. Gesellschaftlich notwendige Arbeit ist also aus dem engen, verkürzten Korsett der fürs Kapital produktiven Arbeit zu befreien. Es geht zentral um die Neudefinition und Neuverteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit – gerade nicht durch immer weitere Ausdehnung warenförmiger Lohnarbeit zur Produktion von Mehrwert, sondern durch Ausdehnung kollektiver und kooperativer Formen der Arbeit, orientiert an der Effizienz zum Beitrag menschlicher Entwicklung, zum Reichtum allseitiger menschlicher Beziehungen, zur Verfügung über Zeit. Hier zeigen sich Parallelen zur 4in1-Perspektive Frigga Haugs. Masha Madörin spricht von einer „Wohlfahrtslogik”, die der „Akkumulationslogik” entgegensteht. Eine Reproduktionsökonomie (Candeias 2012), in der sich Bedürfnisse und Ökonomie qualitativ entwickeln, aber nicht mehr quantitativ bzw. stofflich wachsen müssen, steht im Schnittpunkt zahlreicher gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und bietet die Möglichkeit Kämpfe zu bündeln, feministische, ökologische und wachstumskritische, Kämpfe um die Konversion von schädlicher (Export)Industrien, um das Öffentliche und die Commons, für Rekummunalisierung, Bildungsstreiks, Kämpfe gegen Zwangsräumungen und überhöhte Mieten, ebenso wie die Kämpfe gegen Privatisierung der Krankenhäuser, für eine gewerkschaftliche Vertretung im Pflegebereich, für höhere Löhne und Anerkennung von Erzieherinnen, für die gemeinsame Organisierung von Krankenschwestern, Patienten und Angehörigen oder der illegalisierten Hauarbeiterinnen und ihrer von dieser Arbeit abhängigen Auftraggeberinnen.

Kurzfassung erschienen in: LuXemburg, Reproduktion in der Krise, Heft 4/2012: http://www.zeitschrift-luxemburg.de/?p=2455 Dort finden sich auch zahlreiche Texte mit weniger ökonomischer Sprache...

Literatur

Artus, Patrick, u. Marie-Paule Virard, 2007:Le capitalisme est un train de s'autodétruire, Paris.

Candeias, Mario, 2011: Die letzte Konjunktur. Organische Krise und ›postneoliberale‹ Tendenzen, Vorwort zur verbesserten Neuauflage von Neoliberalismus. Hochtechnologie. Hegemonie. Grundrisse einer transnationalen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, Berlin-Hamburg 2009, 7-22

ders., 2008: Verallgemeinerung einer Kultur der Unsicherheit. Prekarisierung, Psyche und erweiterte Handlungsfähigkeit, in: VPP Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, H. 2, 40. Jg., 2008, 249-68

Demirovic, Alex, 1987: Nicos Poulantzas. Eine kritische Auseinandersetzung, Hamburg/Berlin

Deutsche Bundesbank, 2010: Wirtschaft & Statistik 1, Frankfurt/M

Husson, Francois, 2010: The debate on the rate of profit, in: International Viewpoint Magazine, Nr. 426, Juli; www.internationalviewpoint.org/spip.php?article1894.

Dank an das Institut für Gesellschaftsanalyse und unsere Fellows Gabriele Winker und Uli Brand
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

MarioCandeias

ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa Luxemburg Stiftung. Wir arbeiten an sozialistischer Transformation + einer Mosaiklinken.

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