Schweig still, Pegida

Essay Die Diskursstörung Pegida offenbart Mechanismen der Diskurskontrolle in der deutschen Öffentlichkeit. Grund genug, den Prozess der Meinungsbildung genauer zu beleuchten

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Die Pegida-Demo in Dresden zum Jahrestag
Die Pegida-Demo in Dresden zum Jahrestag

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Seit einem Jahr nun gibt es Pegida, und man kann nicht umhin, eine öffentliche Erschöpfung festzustellen: Man hatte vielleicht gehofft, dass der „Spuk“ vergehen möge. Dass, wenn man nur lange genug gegen Pegida anredete oder schrieb, endlich die letzten Marschierenden von der Straße weichen würden. Oder man hatte gehofft, dass Pegida sich an sich selbst erschöpfen würde, dass der Charakter des revolutionären „Happenings“ verloren ginge.

Wenn man nun für einen Moment auf den Titel dieses Textes schaut, dann kann man ihn auf drei Arten deuten: Als Wunsch nämlich, Pegida möge endlich schweigen und damit die Rückkehr zum „politischen Alltag“ ermöglichen. Man kann die Überschrift auch als Imperativ denken, als Versuch, das Sprechen zu verbieten und es als Ausgangspunkt über das Nachdenken über Sprechverbote nehmen. Man kann es aber auch als Vereinbarung werten. Eine Vereinbarung, Stillschweigen zu bewahren. Und dafür zu sorgen, dass bestimmte verborgene Mechanismen des demokratischen Diskurses unsichtbar bleiben. Kurz: Pegida stört. Weil es einfach nicht schweigen will.

Dabei kann man, auch wenn man die politischen Ansichten Pegidas nicht teilt, Pegida sehr wohl als tolerable, sogar produktive Störung des demokratischen Diskurses verstehen. Denn gerade vor dem Hintergrund dieser Diskursstörung lässt sich das, was sonst so unfallfrei wie am Schnürchen funktioniert, in seinem Scheitern beobachten. Das Ergebnis ist nicht nur die Analyse demokratischer Prozesse, sondern auch das Verständnis der dafür notwendigen Konstruktion einer „öffentlichen Meinung“. Und genau das ist Ziel dieses Essays.

Von Unsagbarem

Pegida hat die Frage nach dem Unsagbaren in unserem politischen Diskurs neu formuliert. In der Phrase „das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ schwingt das Wissen darüber, dass eben nicht alles gesagt werden darf, ja immer schon mit. Natürlich kann man diesen Konsens über das Unsagbare in Frage stellen. In den USA darf man beispielsweise den Holocaust leugnen. Hierzulande kann man dafür sogar mit Gefängnisstrafe belangt werden. Was ist nun richtig oder falsch, moralisch oder unmoralisch? Offensichtlich lassen sich diese Fragen gerade nicht unabhängig von dem System, in dem sie formuliert werden, beantworten. Offensichtlich sind diese Fragen ganz eng mit den Bedingungen der Möglichkeit eines Systems verknüpft.

Die deutsche Demokratie nach 1945 hat als Bedingung der Möglichkeit in ihren Sprachregelungen die Annahme der Verantwortung für den Weltkrieg und der Schuld am Holocaust. Und dabei geht es längst nicht nur um die Feststellung eines historischen Fakts, sondern auch um einen (besonders sprachlich) offensiven Umgang mit Verantwortung und Schuld. Wer, wie Tatjana Festerling in ihrer Rede vom 09.11.2015 in Dresden, mit Schuldkomplexen Schluss machen will, kündigt diese Bedingung der Möglichkeit auf. Diese Aufkündigung ist denkbar. Aber sie führt unmittelbar zu einem anderen politischen System, zu einer anderen Verfasstheit der Bundesrepublik, was ja das explizite Ziel Pegidas ist.

Pegida inszeniert nicht nur, dass bestimmte Dinge nicht gesagt werden dürfen; Pegida demonstriert auch, dass bestimmte Subjekte nicht sprechen dürfen oder sollen. Und wer nun behauptet, dass dem nicht so sei, der belügt sich bewusst oder verkennt die Realität der Diskurse, die natürlich permanent Ausschließungen produzieren. Fakt ist, dass es Voraussetzungen für die Erlaubnis zum Sprechen gibt und dass gerade nicht jeder sprechen darf. Gänzlich unfreiwillig wird dabei Bourdieu bestätigt, wenn Pegida-Anhänger als „Verlierer der Gesellschaft“ betrachtet werden, also als randständige Figuren. Oder gar als Pöbel. Ebenso gut – soziologisch etwas ausgereifter formuliert – könnte man sagen, den Pegida-Anhängern fehle es an symbolischem Kapital, um im Diskurs ein Rederecht zu erlangen.

Der "Pöbel" spricht

Im Begriff „Pöbel“ vollzieht sich im Deutschen der Übergang vom „Volk“ oder der „Allgemeinheit“ zum gemeinen Volk bis hin zu „rohe(n) Leute(n) überhaupt in bezug auf that, wort und gesinnung“ (Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm). Die Rede vom Pöbel karikiert Pegidas „Wir sind das Volk“, das ja wiederum eine Karikatur der Reformforderungen der Bürgerbewegung der DDR darstellt. Diese letztgenannte Karikatur kann man empörend finden; die Abwertung des Volkes – das Pegida immerhin in jenem Teil repräsentiert, der auf die Straße geht – kann man aber ebenso empörend finden. Diese Empörung tritt bei den meisten zurück angesichts der Tatsache, dass es sich bei Pegida ja „offensichtlich“ um Rechte, also um – aus der Perspektive des Diskurses der Mitte - ethisch fragwürdige Subjekte handelt. Nur sollten wir uns fragen, ob sich der Diskurs vom „Pöbel“ nicht auch gegen Linke wenden ließe, gegen Arbeitslose oder andere „Randständige“? Mit anderen Worten: Erblicken wir in den Reden über Pegida nicht auch eine diskursive Strategie, die sich längst nicht nur gegen die „Rechten“ richtet; und sollten wir diese Strategien nicht auch kritisch hinterfragen?

Wenn immer wieder gesagt wird, Pegida-Anhänger seien "randständige Figuren" oder "Verlierer der Gesellschaft", dann formulieren Medien und Politik unbeabsichtigt auch die Regel, dass der Randständige nicht zu sprechen habe. Fernab von der Frage, ob Pegida Anhänger tatsächlich „Verlierer“ sind, wirft der Umgang mit ihnen die Frage auf, ob der Verlierer in einem demokratischen System sprechen darf, oder anders: Ob das demokratische System vielleicht nur deshalb funktioniert, weil dem „Verlierer“ das Sprechen verboten wird? Was ja der Hauptgrund ist, warum in Christoph Schlingensiefs „Bilderstörungsmaschine“ (Lars Koch) die Randständigen sprechen durften.

Nur um hier ein Missverständnis zu vermeiden: Ich setze gerade nicht Christoph Schlingensief und Pegida gleich; sie unterscheiden sich in ihren politischen Absichten und Mitteln massiv, agieren und denken geradezu konträr. Schlingensiefs künstlerische Arbeiten dekonstruieren die Politik und Gesellschaft schlechthin als Theater, als artifizielle Inszenierungsmaschinerie, die immer schon Ausschlüsse produziert und „Randständige“ erzeugt, um im Anschluss deren Existenz zu beklagen. Erst politische Entscheidungen erzeugen das Heer von Arbeitslosen, Abgehängten, Chancenlosen, die im Diskurs aber entweder als Nichtsnutze oder als freundlich zu alimentierende Hilflose auftauchen und dadurch marginalisiert werden.

Pegida bedient sich explizit politischer Methoden und Mittel, um die Theatralität der Politik zu demaskieren, maskiert damit aber zugleich die eigenen politischen Absichten und Inszenierungsstrategien. Denn die Behauptung, Pegida sei ein Sprachrohr für diejenigen, die nicht sprechen dürften, ist wiederum eine Diskursstrategie, die sich gegen den politischen Diskurs richtet, mit Mitteln, die immer schon Teil politischer Praxis waren. Es stimmt also, dass es Sprechverbote gibt, aber es stimmt auch, dass die Behauptung von Sprechverboten und das Ignorieren derselben letztlich eine politische Strategie bilden können.

Und zwar als Teil eines Spiels, das ständig ausreizt, welche Verbotsübertretungen man sich leisten darf. Pegida braucht das Unsagbare also ebenso sehr wie Den Fremden. Die Grobschreibung des kleinen Wörtchens "den" ist hier kein Versehen: Pegida benötigt die Formierung des Feindbildes, das in dreierlei Form auftritt: als Die Islamisierung (das absolut Fremde, das gleichgesetzt wird mit dem absolut Bösen), Die Medien und Die Politik. Der Singular ist kein Zufall, und dient sprachlich der Vereinheitlichung der Gegner, die sich wiederum in der Trias zu einem Feindbild arrangieren. Wir gegen die.

Der Randständigen Zähmung

Wenn nun im Diskurs der etablierten Parteien Pegida zur Chiffre für die doppelt Randständigen wird – als Vertreter eines „Rechtsaußen“ und als Ansammlung der „Versager“-, dann wiederholt sich darin eine Strategie, die schon im Umgang mit der Piratenpartei angewendet wurde. Das Beispiel der Piraten zeigt, dass sich Randständigkeit als Ausschlusskriterium auch dann eignet, wenn es nicht den „rechten“ Rand betrifft. Im Falle der Piraten, die sich dem gängigen Rechts-links-Spektrum schlichtweg entzogen, speiste sich die mediale und politische Kritik aus dem offenbarten Mangel an Professionalität der politisch Agierenden sowie daraus, dass nicht wenige der Akteure zuvor arbeitslos gewesen waren. Man warf den Piraten also ein Versagen im Sinne des systemischen Imperativs „Sei erfolgreich!“ vor und betrachtete den Umstand, dass sie keine Berufspolitiker waren, als Mangel. Ein Umstand übrigens, der sie für viele Wähler freilich erst attraktiv machte.

Die Randständigkeit der Akteure der Partei der „Nerds“, der scheinbar Lebens- und Politikunkundigen korrespondierte mit der Randständigkeit in einem politischen System, das am hartnäckigsten bekämpft, was sich nicht einordnen lässt. Und hierbei – das ist das eigentlich befremdende – wirken Medien und Politik zusammen. Das eigentliche Vergehen der Piraten bestand in diesem Sinne darin, die internen Streitereien, die es in jeder Partei gibt, durch absolute Transparenz sichtbar zu machen, was letztlich nur offenbarte, dass Parteien nur dann zu machen sind, wenn die persönlichen Giftigkeiten im Verborgenen ausgetragen werden. Dass Politik also den Geheimraum, das Arkanum unbedingt benötigt, um tatsächlich funktionieren zu können. Das freilich konterkariert die Behauptung des politischen Systems, es wolle für seine Bürger transparent sein.

Dazu passt, dass der Bundestag regelmäßig nur eine Bühne für Inszenierungen der scheinbaren Widersprüche zwischen den Parteien, die zuvor in geheim tagenden Gremien ausdiskutiert wurden, ist. Hierdurch aber avanciert das Parlament zur Debattendisko, in dem jeder Akteur die gut einstudierten Moves vorführen darf, solange diese vorhersehbar bleiben und keine Störungen im Ablauf produzieren. Das Beispiel der Piraten zeigt, dass eine neue Parteiengruppierung als Gefahr für das bestehende politische System, in dem die einzelnen Positionen bereits bestimmt und austariert sind, und jedes neue Element Ungleichgewichte produziert, betrachtet werden kann. Und entsprechend bekämpft wird. Wenn nun im Zusammenhang mit Pegida die politischen Akteure von einer Gefährdung des demokratischen Systems reden, muss man fragen, ob sie tatsächlich eine Gefährdung der demokratischen Verfasstheit der Bundesrepublik befürchten oder vielmehr um den Verlust des etablierten Status fürchten. Insofern muss für den Wähler und die politische Öffentlichkeit die „Angst“ vor Pegida eine andere sein, als sie es für die etablierten Parteien ist.

Zumal Pegida ja gerade keine Partei ist, sondern eine Bewegung, der das „Liquide“, das Nicht-Greifbare quasi in den Genen liegt. Auch deswegen wurde Akif Pirinçci der Bühne verwiesen. Pegida achtet bei allen scheinbaren sprachlichen „Ausfällen“ offenkundig darauf, zumindest nichts strafrechtlich Relevantes zu äußern, dies allerdings in einer sprachlichen Eindeutigkeit, die vor allem eines leistet: zu provozieren. Die Rede von den KZs – wobei ja vielfach von Medienvertretern ungenau und entstellend wiedergegeben – verstieß gegen diese offenkundig wichtige Handlungsgrundlage Pegidas.

Eine Diskursstörung namens Pegida

Das Störungsmoment Pegidas besteht also nur vordergründig in der Äußerung rechten Gedankengutes, von dessen latenter Existenz wir zum Beispiel durch Studien des Zentralrats der Juden in Deutschland seit vielen Jahren wissen. Die eigentliche Störung besteht darin, dass dieses Gedankengut nicht auf die bisher übliche Art durch die „üblichen Verdächtigen“ geäußert wird. Und das gilt nicht nur für die üblichen Verdächtigen in rechten Parteien wie der NPD. Denn Vokabeln wie „Kopftuchmädchen“ wurden von einem Sozialdemokraten gebraucht. Nun könnte man sagen, dass Thilo Sarrazin in seiner Partei eine randständige Figur sei und nicht deren Mainstream ausmache, aber es ließe sich ebenso gut behaupten, dass es gerade die Figuren an den Rändern sind, die eine relativ breite Anschlussfähigkeit der Volksparteien – so sie denn noch welche sind – garantieren.

Das heißt, der „Randständige“ wird natürlich bewusst einkalkuliert, wodurch die Ränder - so paradox es klingt - zum eigentlichen Zentrum werden, sich aber hinter den Strukturen des Ganzen verbergen können, gleichsam verschwimmen. Der Unterschied zwischen randständigen Rechten in den Parteien und den Rechten in Pegida ist mithin nicht die Botschaft, sondern das Wie des Vortrags. Pegida gibt von vornherein die Maskierung, die Annahme eines bestimmten bürgerlichen Habitus auf; ihren Wert bezieht sie für ihre Anhänger aus eben jener aufgegebenen Maskierung.

Ressentiments sind immer schon Teil der Parteieninszenierungen. Nur werden Ressentiments von den Etablierten als Fakten getarnt. Es sei ja ein „Fakt – wie uns Sarrazin belehrte-, dass Muslime sich stärker fortpflanzen und ergo ein „Fakt“, dass Die Muslime schon bald in der Mehrzahl seien. Dass in dieser Betrachtungsweise die Zugehörigkeit zu einer Religion gleichsam vererbt wird, verweist auf die Herkunft des Ressentiments aus einer Rasselogik, die mithilfe der Rede vom Islam nur mühsam kaschiert wird. Pegida, und auch das macht ihren Störungswert im politischen Diskurs aus, bemüht sich gar nicht erst um Fakten.

Wenn Pegidas Mitläufer und Demonstranten immer wieder ihre Gefühle ins Spiel bringen – ihre Angst, ihr Unbehagen – dann verweigern sie sich auch damit einem rationalen politischen Diskurs. Wobei natürlich zu fragen ist, ob dieser Diskurs tatsächlich so rational ist und nicht auch bei anderen Akteuren wesentlich durch Emotionen bestimmt wird. Das spielt für Pegida aber schon gar keine Rolle mehr. Gegen das subjektive Gefühl der Pegida-Anhänger lässt sich nicht argumentieren, denn ein Gefühl ist für den Fühlenden immer wahr. Gefühle kann man nicht wegdiskutieren, man kann sie allenfalls leugnen.

Der Verweis auf die Gefühle offenbart zudem – auch das wahrscheinlich nur unbewusst – dass das Politische wesentlich auf der Inszenierung von Gefühlen der politischen Person beruht, so sie denn positiv sind. Negative Gefühle – Hass, Neid, Wut, auch Angst in diesem Kontext - dürfen als Impulse des politischen Handelns, obwohl es sie fraglos gibt, nicht öffentlich gemacht werden und sollen verborgen bleiben. Die Piraten verschwanden, weil Neid und Missgunst erlebbar wurden, die sonst im gut gehüteten politischen Arkanum – dem Hinterzimmer – verborgen blieben. Pegida wird ja auch deswegen belächelt oder wahlweise gefürchtet, weil es die Gefühle seiner Anhänger ernst nimmt, was deren Instrumentalisierung keineswegs ausschließt, sondern im Gegenteil, erst ermöglicht. In einer Negativbewegung werden also die Gefühle, die sonst im politischen Diskurs ausgeklammert werden – eben Hass und Angst – zur Grundlage einer Politik. Aber bei Hass hört die Diskussion buchstäblich auf. Wer hasst, verstummt. Wer hasst, kann allenfalls noch losschlagen. So kann Pegida zwar die Gesetze des politischen Diskurses dekonstruieren, nicht aber im positiven Sinne einen Diskurs begründen.

Meinungsmainstream?

Eine politische Meinung zu formulieren, die links oder rechts vom „Mainstream“ abweicht, führt rasch zum Ausschluss aus dem Diskurs. Das lässt sich historisch auch am Beispiel des KPD-Verbotes zeigen. Das Ziel der bundesrepublikanischen Anbindung an den Westen (Wiederbewaffnung!) hätte durch die potenzielle „Hörigkeit“ der KPD der Sowjetunion gegenüber gefährdet werden können. Der Ausschluss aus dem demokratischen System, ein radikaler Schritt immerhin, verhinderte grundlegende, innersystemische Opposition.

Hier offenbart sich eine Paradoxie des Systems: Solange die Etablierten selbst das Randständige inkorporieren, bleibt es erträglich. Genau das drückt sich in dem Anspruch, "rechts von der CDU/CSU darf es keine Partei geben", aus. Dieser Anspruch besagt ja nicht, dass es keine rechteren Gedanken geben darf. Sie sollen sich nur nicht als Partei formieren. Als Etablierte haben Parteien kein Interesse daran, das System in seinem Bestehen zu stören oder gar nachhaltig zu verändern. Sie profitieren ja davon. Taucht aber etwas oder jemand auf, der Etablierte gefährdet, wird die Randständigkeit zu einem Argument gegen diese Partei/Bewegung/Äußerung. Der Inhalt spielt dabei kaum eine Rolle. Eher die Frage, wie groß das Störungspotenzial ist und wie deutlich die systemischen Widersprüche durch diese Störung zutage treten.

Von der vierten zur fünften Gewalt

Wenn wir die Medien als vierte Gewalt begreifen, dann meinen wir damit, dass Medien ein Gegengewicht gegen die Behauptungen und Machtansprüche der drei Gewalten oder kurz: Des Staates bilden. Die Medien als Vermittler zwischen Politik und Öffentlichkeit erfüllen offenkundig eine wichtige systemische Funktion. Probleme ergaben sich aber da, wo die Vertreter des politischen Systems und der Medien letztlich zu zusammenwirkenden Stabilisatoren des Systems werden, und kritische oder abweichende Positionen kaum noch zulassen.

Es ist ja kein Zufall, wenn die Politiken von CDU, SPD und Grünen einander immer ähnlicher werden, für sich beanspruchen „Mitte“ zu sein und gleichzeitig auch die Medien „gleichgeschaltet“ wirken, also abweichende Meinungen immer weniger ertragen können, ohne sie als gefährliches Gedankengut zum Verstummen zu bringen. Und noch einmal: Das betrifft Das Linke wie Das Rechte gleichermaßen, jeweils mit leicht abweichenden Strategien, weil linke Gedanken in Deutschland nicht prinzipiell „unsagbar“ sind, dafür aber häufig genug als illusionär oder utopisch, mithin gegen das autoritäre Realitätsprinzip verstoßend betrachtet werden oder aber als „sozialer Neid“, also als das Ergebnis niederträchtiger Gefühle.

Wenn sich nun neben der vierten Gewalt eine fünfte Gewalt – die Internetöffentlichkeit – etabliert, dann auch deshalb, weil es offenkundig einen Zweifel an den etablierten Medien gibt. Dieser Zweifel zeigt sich in dem Schimpfwort „Lügenpresse“, aber auch in zahlreichen Unmutsbekundungen, die Leser tagtäglich in den Communitys der Leitmedien oder in den sozialen Netzwerken äußern. Die Internetöffentlichkeit ermöglicht es Bürgern letztlich fernab der von Medienunternehmen initiierten Debatten und bereitgestellten Diskussionsräume die öffentliche Meinung neu zu verhandeln.

Dieser Vorgang ist gerade in der Betrachtung durch viele Medienvertreter schon deshalb beängstigend, weil er Diskursmacht von Produktionsbedingungen, Habitus und den Beschränkungen der Diskursgesellschaften löst: Denn im Internet darf jeder sprechen. Man muss dafür nicht Journalismus studiert haben, man muss nicht einmal die deutsche Orthografie fehlerfrei beherrschen. Theoretisch kann die Rede eines „Randständigen“ im Netz genauso häufig rezipiert werden, wie die des Chefredakteurs eines Leitmediums. Hierarchien werden also in Frage gestellt und der Ausschluss der Sprecher ist in der Breite kaum möglich. Und genau deswegen hören wir so oft Warnungen vor diesem unkontrollierten Rede-Raum.

Dass dieser unkontrollierte - letztlich herrschaftsfreie? - Raum in der Logik der Medienmacher unterbunden und begrenzt werden muss, zeigt die Tatsache, dass praktisch alle Communitys und Kommentarbereiche der Leitmedien über Moderatoren verfügen, die Beiträge löschen können, also das Reden verbieten. Gerechtfertigt wird dies natürlich mit dem Ausfällig-Werden der Sprecher. Der weitegehend herrschaftsfreie Raum des unmoderierten Forums offenbart nämlich schnell, wie die öffentliche Meinung tatsächlich ausfällt. Wie viel Wut, Hass und gegenseitige Angriffe tatsächlich im medialen Diskurs unterdrückt werden. Wir sehen auch hier eine Parallele zu den Piraten.

Öffentliche vs. veröffentlichte Meinung

Man liest in letzter Zeit häufig Absagen an die sogenannte „Schwarmintelligenz“ im Netz, also jene große Hoffnung der Piratenpartei. Diese Beurteilung ergibt sich allerdings allein daraus, dass das Diskursergebnis der Schwarmintelligenz sich nicht mit dem Diskurs der Eliten deckt. Die Schwarmintelligenz, wie sie sich auch in den sozialen Netzwerken beobachten lässt, produziert öffentlich Meinungen, die von der veröffentlichten Meinung in den großen Leitmedien offenkundig abweichen. Ist sie damit aber womöglich viel näher an der tatsächlichen öffentlichen Meinung?

Letztlich zeigt sich, dass die etablierten Medien die öffentliche Meinung in ihrer Gesamtheit weder abbilden wollen noch können. Dass natürlich ein Teil des Gedachten und Gesagten zensiert wird; und dass die von Medien veröffentlichte Rede immer auch Propaganda ist. Dieser Begriff mag sehr provokativ wirken. Folgt man Hanno Kesting, der in den 60er Jahren seine Habilitationsschrift „Öffentlichkeit und Propaganda“ vorlegte, so ergibt sich aus dem Zusammenfallen von öffentlicher und veröffentlichter Meinung „Propaganda“, die von den gesellschaftlichen Eliten zur Durchsetzung ihrer Interessen genutzt wird.

Da Eliten die Möglichkeiten der Meinungsäußerung kontrollieren, gelingt es ihnen, ihre ureigenen Interessen als öffentliche Meinung darzustellen. Und diese Darstellung dient offenkundig der Beeinflussung des Verhaltens der Massen, die die Meinung der Eliten als der ihren eigenen Interessen entsprechende Haltung anerkennen sollen (Hanno Kesting, Öffentlichkeit und Propaganda).

Dazu passt die Äußerung einer Journalistin auf Facebook, die Meinungsbildung als Prärogativ des Journalisten versteht:

„Nein, es ist einfach nicht jeder in der Lage, sich eine Meinung zu bilden. Dafür sind doch Zeitungen da, dafür hat man Zeitungen mal erfunden, damit Ärzte, Busfahrer und Köche ihre Jobs machen können und sich nicht über alles eine Meinung bilden müssen.“

Daraus spricht natürlich nicht nur ein fundamentales Fehlverständnis der Geschichte der eigenen Zunft, was an sich schon bedauerlich ist. Natürlich wurde die Zeitung nicht erfunden, um dem Arzt das Nachdenken abzunehmen, sondern um ein Gegengewicht zur Geheimpolitik des Hofes zu schaffen. Denn genau das war die Politik des absolutistischen Systems im 17. und 18. Jahrhundert ja einmal. Die Politik sollte der Sphäre des Geheimen entzogen werden: das Gegenteil zu öffentlich ist nämlich nicht „privat“, sondern „geheim“ (vgl. Hanno Kesting, Jürgen Habermas).

Öffentlichkeit und Propaganda

Oben genannte Aussage ist, natürlich vollkommen unabsichtlich, ein Bekenntnis zur Propaganda. Nur dass wir den Begriff der Propaganda eben nicht auf die Leitmedien übertragen würden. Diese Aussage behauptet ja nicht nur, dass eine Elite im Besitz von Wahrheit und Wissen ist, die anderen nicht zugänglich ist. Sondern dass die Mehrheit derjenigen, die eben nicht in der Lage seien, sich selbsttätig eine Meinung zu bilden (Kant rotiert im Grabe), einen Vorsager mit Flüstertüte benötigt, der die korrekte Meinung einimpft. Das unmündige Individuum soll belehrt und zur richtigen Meinung erzogen werden. Im Sinne eines pseudohumanistischen Ideals soll die tumbe Masse belehrt werden. Genau so darf man Bemerkungen wie „die Ostdeutschen müssen sich noch integrieren“ interpretieren. Die nicht vollzogene Integration besteht also gerade nicht im Denken des Undenkbaren, sondern im Äußern des Unsagbaren.

Sorgen sollte es uns bereiten, wenn wir neuerdings hören, dass Menschen für die Äußerung politischer Rede in sozialen Netzwerken von ihren Arbeitgebern gekündigt werden. Ob dies nun den Handwerker von nebenan oder aber den Journalisten einer Wochenzeitung betrifft: Solange das nur „rechte“ Gedanken betrifft, applaudiert diesem Vorgang eine große Mehrheit der Öffentlichkeit. Aber bereitet es uns nicht Unbehagen, wenn die öffentliche Äußerung einer Meinung, die strafrechtlich nicht relevant ist, zum Verlust des Berufs, der Lebensgrundlage führt? Handelt es sich hier nicht um ein System des Erziehens und Strafens, das sich fernab vom System justiziabler Äußerungen etabliert? Würden wir es auch gutheißen, wenn jemand, der für ein sozialeres Wirtschaftssystem einträte, von seinem Arbeitgeber gekündigt würde?

Wird hier nicht die Kontrolle des öffentlichen Rede-Raumes noch einmal verschärft? Und führt sie nicht zwangsläufig zum totalen Rückzug einiger Sprecher in einen Geheimraum? Wollen wir wirklich die Gleichschaltung aller Köpfe? Und muss eine Demokratie abweichende Haltungen nicht auch ertragen können?

So viele Fragen. Und all das nur, weil Pegida partout nicht schweigen will.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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