Der alte Mann und das Teilchen

Physik Peter Higgs hat, an der Seite von François Englert, den Nobelpreis für das Higgs-Boson bekommen. Was gibt es nun für die Teilchenphysiker eigentlich noch zu tun?
Ist in der Riege der ganz großen Physiker angekommen: Peter Higgs
Ist in der Riege der ganz großen Physiker angekommen: Peter Higgs

Foto: Graham Stuart/AFP/Getty Images

Als CERN-Direktor Rolf Heuer am 4. Juli 2012 die Worte „Ich glaub', wir haben es“ sagte, und damit das Higgs-Boson meinte, holte in der dritten Reihe des Hörsaals ein Mann mit grauem Haar sein Taschentuch aus der Hosentasche. Er nahm seine Brille ab, schnäuzte sich einmal kräftig, rückte die Brille wieder zurecht. Der Mann, das sah man ihm an, kämpfte in diesem Moment mit den Tränen. Sein Name ist Peter Higgs.

Damals sagte der 84-Jährige, er habe nie erwartet, dass das von ihm vorhergesagte Elementarteilchen noch zu seiner Lebzeit entdeckt würde. Heute, ein gutes Jahr später, hat der britische Wissenschaftler für den Higgs-Mechanismus zusammen mit dem belgischen theoretischen Physiker François Englert den Nobelpreis für Physik erhalten. Beide sind nun ganz oben angekommen.

Preis für alle, Preis für keinen

Higgs und Englert hatten den Mechanismus, der schließlich nach Higgs benannt wurde, Ende der sechziger Jahre etwa zur gleichen Zeit unabhängig voneinander gefunden. Es dauerte bis 2012, bis das Higgs-Teilchen, Herzstück dieses Mechanismus, im CERN-Beschleuniger experimentell nachgewiesen werden konnte. Selten löste eine physikalische Entdeckung ein derart großes Medien-Echo aus wie das sogenannte Gottes-Teilchen. Da war es dann auch egal, dass es mit Gott eigentlich gar nichts zu tun hat.

Man kann darüber streiten, ob nicht auch Experimentalphysiker, die beim Nachweis des Teilchens am CERN tätig waren, den Preis verdient hätten. Aber so ist das nun einmal mit Preisen: Sie verengen den Ruhm auf wenige Personen. Ein Preis für alle wäre ein Preis für keinen. Außerdem: Hätten die Theoretiker nicht ihr Konzept entwickelt, hätten die Experimentatoren nicht gewusst, wonach sie eigentlich suchen mussten.

Aberwitzig kurze Zeit

Das Higgs-Teilchen ist ein Boson; das ist ein Elementarteilchen mit einem ganzzahligen Eigendrehimpuls, der in seinem Fall null beträgt. Vereinfacht gesagt ist das Higgs-Boson notwendig, um die Masse zweier anderer Teilchen, der W- und Z-Eichbosonen, zu erklären. Sie beschreiben wiederum eine der vier fundamentalen Kräfte zwischen Teilchen, die schwache Wechselwirkung heißt. Die mathematischen Gleichungen ergeben, dass diese Eichbosonen masselos sein müssten – was sie aber den experimentellen Befunden zufolge nicht sind. Das Higgs-Feld, das das Higgs-Boson hervorruft, kann dieses Problem auf elegante Art lösen.

Das Teilchen zerfällt in der aberwitzig kurzen Zeit von etwa 10-22 Sekunden. Das ist eine Zahl, die hinter dem Komma 21 Nullen hat, bevor dann eine Eins kommt. Es verwundert deshalb nicht, dass Physiker erst die größten Experimental-Maschinen der Menschheitsgeschichte bauen mussten, den Beschleuniger und den dazugehörigen Teilchendetektor ATLAS im Forschungszentrum CERN in der Schweiz, um dem Teilchen auf die Spur zu kommen.

Selbst damit kann man das Higgs-Boson nicht selbst beobachten, sondern nur seine Zerfallsprodukte. Die Forscher können theoretisch vorhersagen, welche Teilchen-Ensembles beim Higgs-Zerfall entstehen. Der Physiker spricht hier von verschiedenen Kanälen, die der Experimentator alle nachweisen muss. Man kann sich diesen Rückschluss im Datenmaterial in etwa so vorstellen, als ob ein Mitarbeiter auf einem Schrottplatz anhand einer Tacho-Nadel und einer Motor-Schraube entscheiden müsste, ob das abgewrackte Auto mal ein Astra oder doch eher ein Golf war. Nur noch etwas komplizierter.

Vor der Revolution

So berechtigt der Nobel-Preis für das Higgs-Teilchen ist – wenn die Teilchenphysiker die Auszeichnung nun feiern, überspielen sie damit auch ihre eigene Ratlosigkeit. Denn mit dem Higgs-Mechanismus hat sich die letzte Vorhersage ihres sogenannten Standard-Modells bewahrheitet, des derzeit gültigen Paradigmas der Teilchenphysik. Bloß erklärt das Modell weder die relativ schwache Gravitationskraft, noch die dunkle Materie, die vermutlich unser Universum zusammenhält. Die Suche nach der letzten Erklärung geht also weiter.

Um in der Sprache des Wissenschaftstheoretikers Thomas Kuhn zu bleiben: Die starken Anomalien des momentanen Paradigmas weisen darauf hin, dass eine wissenschaftliche Revolution bevorsteht. In deren Folge würde dann das Standard-Modell mitsamt des Higgs-Teilchens in einen übergeordneten Rahmen eingepasst. Nur weiß noch niemand so recht, wie dieser Rahmen aussehen könnte.

Wahrscheinlich braucht die Physik wieder einmal die innovative Kraft eines Peter Higgs'.

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Geschrieben von

Martin Schlak

Journalist und Physiker. Schreibt Geschichten über Wissenschaft. Beobachtet, wie Technologie unsere Gesellschaft verändert.

Martin Schlak

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