Außer einem Brief geben wir nichts auf

Tatort Ja, aber: Wien ist von bester Konstitution, bekommt in "Abgründe" mit dem Kinderpornoring aber so viel zu tun, wie sich in 90 Minuten Sonntagabend nicht erzählen lässt

Summer in Siam, Winter in Wien. "When it's summer in Siam / Then all I really know is that I truly am", sang der eine anderswo, und im Winter in Wien sagt die Wiesnerin (Stefanie Dvorak), dass sie sich als Frau nur noch fühle, wenn sie den "Schnuckiputz da drinnen so ein bissl anbrat". Dass "nur noch" irritiert, die Wiesnerin hat ihr Leben doch noch vor sich. Andererseits ist eben Arbeit.

Die Szene ist hübsch, und auch wieder nicht, weil sie etwas direkt sagt, was so direkt gesagt nicht so schick klingt. Und weil dadurch die Wiesnerin, die doch eine lustig-dubiose Figur war, ihr Geheimnis verloren hat und am Ende plötzlich was Sinnvolles tun kann – der "Bibi-Puppe" (Adele Neuhauser) und dem Schnuckiputz (Harald Eisner) Informationen besorgen, die man nicht mehr kriegt, wenn der Dienstausweis und die -waffe abgegeben sind.

Abgründe ist wie Direktheit und Anschlussverwendung der Wiesnerin: ein Ja-aber-Tatort. Von den Anlagen her haushoch der klassisch deutschen Drehbuchbesprechungsverfilmung überlegen, bei der alle Beteiligten wahnsinnig darauf achten, dass am Ende auf dem Konferenztisch nicht noch der Krümel einer übriggebliebenen Zuschauerinformation rumliegt: Es herrscht hier Leben, vor allem zwischen den beiden tollen Hauptfiguren, der Bibi mit ihrer "Zuhälter-Flunder", und dem in dieser Hinsicht maliziösen Schnuckiputz.

Aber

Allein für den Spaß, den sich der Tatort immer wieder mit dem Auto vom "Inkasso-Heinzi" macht, das die Bibi fährt, nur für die immer neuen Namen, die sich ausgedacht werden, will man Wien (ORF-Redaktion: Alexander Vedernjak) liebhaben wie sonst fast nix in der Tatort-Landschaft. Die Konflikte zwischen den Erzählern wirken nicht bestellt, das Sprechen geht von der Zunge (Buch: Uli Brée).

Das spezifische Problem von Abgründe ist nur: Der Film hat keine Zeit (Regie: Harald Sicheritz). Der Stoff, dem man sein Engagement glaubt – das Kinderpornonetzwerk zu ermitteln, das über einen fritzlhaften priklopilösen Alleintäter hinausgeht –, ist too big für die 90 Minuten, die es am Sonntagabend gibt. Es bräuchte eine Staffel, 6, 7 oder 12 Folgen, in denen das ganze Grauen entdeckt werden könnte. Dieser Tatort ist eine Brausetablette, die man in Wasser auflösen müsste. In der konzentrierten Form des Sonntagabends eingenommen, bringt sie sich um ihre Wirkungen.

Dass die Eisner-Tochter (Tanja Raunig) mit dem manipulierten Eisner-Auto verunglückt, grenzt in der Dichte, in der hier erzählt wird, an Kolportage. Man kriegt seine Gefühle für solch einen Schicksalschlag kaum mobilisiert, und der Schnuckiputz hat ja viel zu viel zu tun, um die drohende Lähmung zu realisieren (dass am Ende mit ersten Schritten aufgelöst werden muss, ist vorhersehbar selbst für Leute, die sich nicht auf Prognosen verstehen). Diesem Tatort geht's wie der Wiesnerin, er hat so viel Arbeit, dass er sich kaum mehr fühlt.

Ob

Darunter leidet auch die zum 1000. Mal versuchte Subalternenrebellion gegen das repressive Oben ("Der verbockt das Ganze und wird auch noch befördert?" – "Das kennen wir doch"), die hier viel glaubwürdiger ist als bei dem gängigen Mackertum, mit dem sich anderswo gegen bremsende Staatsanwältinnen und schnepfige Vorgesetzte profiliert wird. Aber auch das Ermitteln auf eigene Kappe, against all odds, bräuchte viel mehr Zeit, um glaubwürdig-thrilling und nicht gesetzt-routiniert daherzukommen.

Aus fernerer Warte kann man in Abgründe etwas Epochales entdecken. In der Zeit, da um das hiesige Fernsehen herum dauernd nach dem deutschen Dies und dem deutschen Das gesehnsüchtet wird, erscheint dieser Wiener Tatort als Format auf der Schwelle – als Larve einer Serie, zu der er sich nicht entpuppen darf, als Film mit den besten Anlagen der Welt, um länger dauern zu können.

Ob es es eines Tages darf?

Eine Erkenntnis, die immer gehabt werden kann: "Was wir da tun, ist völlig sinnlos"

Eine Frage, die aus dem Repertoire von Markus Lanz entlaufen ist: "Stehst du auf mich – ja oder nein?"

Ein Satz, der aus Kollegen Freunde macht: "Mit dir kriegt Fremdschämen eine neue Dimension"

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden