Ich wird ein anderer

Aufbegehren Der Regisseur Olivier Assayas erzählt in „Die wilde Zeit“ angenehm unaufgeregt von der subjektiven Ereignislosigkeit einer Adoleszenz in ereignisreichen Jahren nach 1968
Ausgabe 22/2013
Gilles (Clément Métayer) und Christine (Lola Créton) bei der Demonstration im Februar 1971 auf der Flucht vor der Polizei
Gilles (Clément Métayer) und Christine (Lola Créton) bei der Demonstration im Februar 1971 auf der Flucht vor der Polizei

Foto: Carole Bethuel/ NFP

Es bringt wenig, bei Olivier Assayas’ neuem Film auf den (deutschen) Titel zu schauen, dafür lohnt es sich, beim Abspann sitzen zu bleiben. Der deutsche Titel lautet Die wilde Zeit, was nach stumpfer Gaudi klingt, wo sich im französischen Original Après Mai Enttäuschung und Perspektive in schöner Unbestimmtheit die Waage halten. Die englische Version (Something in the Air) betont den Aufbruch eines jugendlichen Lebens nach dem Jahr des gesellschaftlichen Aufbruchs, auf das der Monat Mai verweist.

Das Jahr 1968 nimmt im Werk des französischen Filmemachers einen wichtigen Platz ein, wie auch eine Veröffentlichung des Wiener Filmmuseums aus dem letzten Jahr zeigt. A Post-May Adolescence ist das englischsprachige Buch überschrieben, das einen autobiografischen Bericht enthält (A letter to Alice Debord) und zwei Essays über Guy Debord, den Kopf der Situationistischen Internationale. Das sind die geistigen Koordinaten, die für das Heranwachsen des 1955 geborenen Assayas am Rande von Paris bestimmend waren.

Das prägende kulturelle Feld, und deshalb lohnt das Sitzenbleiben, wird im Abspann von Das wilde Leben näher beschrieben. Dort sind neben den zitierten Filmen, den gezeigten Kunstwerken und erwähnten Büchern auch alle Interpreten (etwa Captain Beefheart, Dr. Strangely Strange, Amazing Blondel, Soft Machine) aufgeführt, deren Songs den eigenwilligen Soundtrack von Das wilde Leben bilden. Wenn man nun, was nicht fernliegt, den Film als Adaption von Assayas’ Texten begreift, dann sind gerade die Wahl und der Einsatz der Musik bemerkenswert.

Bis zum Schuss und zurück

Assayas nämlich nutzt die folkverschrobeneren und tendenziell epischen Musikstücke nicht, um Zeit nur zu signalisieren, wie es ein historisches Kino tut, das sich nur für „Retro“ und Oberflächen interessiert. Assayas setzt Musik vielmehr ein, um Zeit in einem tieferen Sinne zu evozieren und seine Erzählung zugleich zu akzentuieren. In einer, wenn nicht der zentralen Szene des Films bewegt sich die Kamera, unterlegt von einem Stück mit Laure (Carol Combes), der Ex-Freundin des Helden Gilles (Clément Métayer), vom Heroin-Schuss im Schlafzimmer durch die Party in einem Schloss, wo sie Gilles trifft und wieder verliert, zurück ins Zimmer mit Blick auf die Flammen, die für den falschen Weg der Suche nach Selbstbestimmung stehen (den Gilles eben nicht gehen wird). Der Aufbruch ins offene Ende wiederum wird dynamisiert durch Kevin Ayers pseudobilanzistischen Song Decadence.

Solche Bewegungen und Rhythmen sind es, die in Die wilde Zeit eine andere Form von Geschichtsschreibung erkennen lassen, als sie gerade der deutsche Zuschauer kennt von den dreiecksbeziehungsdurchsetzten Memory-Spielen, die hierzulande für historisches Kino gelten.

Aus dieser Perspektive ist die Ereignislosigkeit von Gilles’ stoischer Entwicklung hin zum Künstler aus einem hochpolitisierten Umfeld faszinierend. Und wie in dem riesenhaften Post-1968-Albtraum Carlos (2010) zeigt sich Assayas als Logistiker des Handelns im Kino – eine nächtliche Spray-Aktion an der Schule wird in einer reizenden Ausführlichkeit gezeigt.

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Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

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