Personal Jesus

Kino Katrin Gebbe schickt in ihrer Erlösergeschichte „Tore tanzt“ eine geschickt modernisierte Version von Gottes Sohn unter böse Menschen, die in einem Schrebergarten wohnen
Ausgabe 48/2013
Personal Jesus

Foto: Rapid Eye Movies

Ein Schlüsselsatz, der Schlüsselsatz in Katrin Gebbes Film Tore tanzt lautet: „Lass, ich will das sehen.“ Sagt Dennis, vielleicht fünf, der Kleinste in der Familie, in der Welt, in der der Eindringling jetzt auf dem Boden liegt, gequält bis an den Rand des Todes. Tore tanzt ist ein religiöser Film und Sehen folglich ein biblischer Vorgang, meint also Schauen, Erkennen. Mag sein, dass Dennis noch zu jung ist fürs Zweifeln und Begreifen, in jedem Fall sieht er seinen Erlöser.

Eigentlich kann man zu diesem Zeitpunkt nicht mehr hinsehen. An der Gewalt, die Tore angetan wird, delektiert sich Gebbe nicht. Sie deutet sie an, sie macht sie spürbar als Macht über den Schwächeren, als Sadismus der Gepeinigten an dem, den sie peinigen können. Die Unerträglichkeit der Verhältnisse vermittelt sich auch durch die spackrige Physiognomie Tores, den Julius Feldmeier friedvoll-zart spielt. Tore ist ein Jesus-Freak, ein Ganzfestgläubiger, der seine Kirche als Lebensstil buchstabiert: als Tattoo, in seiner kindlichen Begeisterung, als Sprache. „Ich lass mich nicht mit Alkohol volllaufen, ich füll’ mich lieber mit dem Heiligen Geist ab.“

Aber Gebbe geht es nicht um das Milieu, sondern um eine Aktualisierung der Jesus-Geschichte. Aus dem Kreis der Pharisäer, wie man dann sagen könnte, kommt Tore in die Familie von Benno (Sascha Alexander Gersak) und Astrid (Annika Kuhl), die ihn erst freundlich aufnehmen und bald ausnutzen. Tore campiert in einem Zelt im Kleingarten der Patchworkfamilie, in der, sieht man von angedeuteten Deals Bennos ab, keiner einer Arbeit nachgeht. Zuneigung, Liebe erfährt Tore nur von den Kindern, vor allem von dem Teenagermädchen Sanny (Swantje Kohlhof), das sich der Missbrauchsversuche ihres Stiefvaters erwehren muss.

Un Certain Regard

Der Kleingarten ist eine trostlose Welt, und deshalb schickt Gebbe ihren modernen Jesus unter diesen Himmel, um sich erneut sterben zu lassen für die Sünden der Menschen. Mit unzweifelhafter Konsequenz. Als Zeichen der Hoffnung aufs Ende der Gewalt. Für die Kinder. Tore tanzt, beim Filmfestival von Cannes in diesem Jahr in der Nebenreihe Un Certain Regard gelaufen, ist ein religiöser Film. Man kann ihn zugleich als strenges Glaubensbekenntnis lesen und als Reflexion über Religion verstehen.

Tore tanzt Katrin Gebbe D 2013, 110 Min.

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Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

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