Der Freitag und die Psychiatrie

Journalismus Früher nahm man sich die Betroffenen vor, heute nimmt man den Umweg über die Institution.

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[Bisher ist der besprochene Artikel nur in der Printausgabe (Nr. 23) erschienen, sollte jedoch in den nächsten Tage online erscheinen. Dann wird er natürlich sofort verlinkt]

Was macht man mit einem Artikel, der mit einer falschen Annahme anfängt und mit einer falschen Annahme aufhört? Der aber beide Annahmen benötigt, um die falschen Schlüsse, die dazwischen gezogen werden, journalistisch zu umrahmen? Richtig, man bloggt darüber. Man nimmt sich einige Stunden seiner Zeit und versucht, den ganzen Kladderadatsch auseinander zu klamüsern.

Der Artikel, um den es geht, ist von Kathrin Zinkant und erschienen in "der Freitag" (Nr. 23, 2013), 'dem Meinungsmedium'. Ein Artikel von einer Autorin, die -, in einem Medium, das ich schätze. Im Artikel geht es um Psychiatrie und Depression, das DSM-V, gierige Psychiater, böse Pharmakonzerne, ADHS, Kultur, Politik, Zahlen und Autismus. Man könnte sagen, es handelt sich um einen Versuch, Psychiatrie ganzheitlich zu beschreiben. Leider bedeutet "ganzheitlich" in diesem Falle beliebig.

Die Behauptung, es gebe eine Psychiatrisierung der Gesellschaft, wird angeblich durch Daten aus der "Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland" (DEGS1) belegt. Die Studie hatte zum Ziel, den Gesundheitszustand der Bevölkerung zu erfassen. Dazu wurden vor allem Fragebögen verteilt, in denen Menschen mitteilen, welche Erkrankungen bei ihnen vorliegen. Dabei gaben 15% aller erwachsenen Frauen an, in ihrem Leben schon einmal an einer Depression erkrankt gewesen zu sein oder, wie es im Artikel ausgedrückt wird, schon einmal "die Diagnose Depression" bekommen zu haben. Ein SKANDAL! 15%? Das kann nicht richtig sein, denn ICH kenne nicht so viele Menschen mit Depression. Dabei könnte die Zahl durchaus höher liegen und wäre immer noch gut zu erklären.

Die Diagnose "Depression" zu bekommen, bedeutet nicht, sein Leben lang darunter zu leiden. Es kann sich um ein einmaliges Ereignis handeln, um wiederkehrende, aber seltene Ereignisse, oder eine dauerhafte Erkrankung. Und allem dazwischen. Wenn es in dem Text um Durchfall, Beinbrüche oder Migräne ginge, wäre die Aufregung um 15% Diagnosen deutlich geringer, aber das sind ja auch keine psychischen Erkrankungen.

Noch schlimmer: Bei einem Drittel der Patienten sei im Erfassungsjahr eine psychische Erkrankung diagnostiziert worden. Das würde mir erst einmal auch wenig Sorgen bereiten, solange ich nicht ein paar Informationen habe: Wurde die Diagnose gestellt oder die Möglichkeit der Diagnose erwähnt? Ärzte neigen manchmal dazu, mögliche Gründe für Probleme, mit denen Patienten kommen, in den Raum zu stellen, dann aber nicht weiter zu verfolgen. Das kann dazu dienen, dem Patienten den Gedankengang des Arztes transparent zu machen. Patienten neigen manchmal dazu, diese Überlegungen als gegeben anzunehmen, auch wenn formal die Kriterien nicht erfüllt sind und die Diagnose weder irgendwo steht, noch behandelt wird. Bei einer Selbstauskunft wird sie dann aber durchaus angegeben und motiviert dann zur Empörung. Wenn die Diagnose gestellt wurde, möchte ich gerne wissen, von wem. Ärzte neigen manchmal dazu, ihre eigene Einschätzung etwas hoch zu bewerten und vergeben Diagnosen, die nicht gerechtfertigt sind, im psychiatrischen Bereich dürfte das sehr ausgeprägt sein*, weil Psychiatrie und psychiatrische Diagnostik oft als unscharf erlebt wird*. Dann würde mich interessieren, um welche Diagnosen es sich handelt und wie deren Häufigkeit war. Ich vermute, höchstens der letzte Punkt dürfte aus den DEGS1-Daten hervorgehen*.

Wo der Text der Frage nachgeht, warum diese ganzen Diagnosen vergeben werden, sind die Schuldigen schnell gefunden:

"Die Suche nach den Ursachen der Psychopathologisierung hat dabei längst zu einer einleuchtenden Diagnose geführt. Die Psychiatrie selbst versucht die Massen zu pathologisieren, und zwar im Dienste einer gewissenlosen, profitgierigen Pharmaindustrie."

Diese beiden Sätze sind wirklich selten dämlich. Zum einen, weil er die Hypothese, es gebe eine "Psychopathologisierung der Massen" als richtig annimmt, die Belege dafür jedoch dürftig sind. Zum anderen hat "die Psychiatrie" überhaupt kein Interesse an einer Masse von Patienten. Die Versorgungswirklichkeit im stationären und ambulanten Bereich spricht eine eindeutige Sprache: Die Wartelisten sind voll, es gibt bereits jetzt mehr als genug Patienten mit deren Behandlung die "gierigen Psychiater" sich die Taschen "vollstopfen" können.

Als Beleg für das vom Mammon getriebene Ungetüm Psychiatrie dient das DSM-V. Es diene dazu, "die Grenzen des normalen immer weiter zurückzudrängen". Unter der Grundannahme, "der Psychiatrie" ginge es darum, die Einnahmeseite zu verbessern, ergibt diese Interpretation durchaus Sinn. Fragt man jedoch nach, was die Macher des DSM-V getrieben hat, ist die Antwort banaler. Es gibt Menschen, die auch mit "normalen" psychischen Problemen, also Problemen, die 100% der Bevölkerung irgendwann im Leben beschäftigen, nicht ohne professionelle Hilfe zurecht kommen. In einem Land wie den USA, wo es im Gesundheitssystem deutlich rauer zugeht und Hilfenetze deutlich weniger dicht geknüpft sind als in Deutschland, muss für Versicherungsschutz eine Diagnose aus dem DSM-V gestellt werden. Andernfalls ist eine Kostenübernahme nicht möglich. Das hätte man aber auch hausintern erfahren können, wird es doch von Iris Hautah im Interview mit Ulrike Baureithel auf der Seite gegenüber (im Print-Freitag) dargelegt. Das unterstützt interessanterweise auch die Annahme, psychiatrische Erkrankungen hätten auch etwas mit dem kulturellen Kontext zu tun. Wenn es um die Psychopathologisierung der Massen geht, ist man im ICD-10 ohnehin schon weiter, unter der Nummer Z00.4 gibt es die "Allgemeine psychiatrische Untersuchung, anderenorts nicht klassifiziert", vermutlich eine echte Geldmaschine!

Nun muss es aber so sein, dass eine Diagnose auch eine Behandlung nach sich zieht, denn "würde etwa ein Internist behaupten", dass das anders sein könnte. Vielleicht hätte vor dem Abdruck einer solchen Behauptung mal ein Internist oder eine Internistin befragt werden sollen. Meine Internistin hat zumindest etwas ungläubig den Kopf geschüttelt, als sie die Behauptung las.

Was nicht fehlen darf, in einem Text über Psychiatrie, ist die "Aufmerksamkeits Defizits Hyperaktivitäts Störung" (ADHS oder A!D!H!S! wie es häufig auch genannt wird). Dabei wird der Eindruck erweckt, im Feld der Kinder- und Jugendpsychiatrie würde unkritisch die Diagnose ADHS vergeben und alle Kinder- und Jugendpsychiater seien daran interessiert, noch mehr Diagnosen zu vergeben. Wie bereits oben geschrieben, haben auch die Kinder- und Jugendpsychiater genug zu tun, ohne Diagnosen ausweiten zu müssen. Es hätte mich interessiert, aus welchem Bereich der Medizin der größte Anteil von ADHS-Diagnosen stammt und ob es Untersuchungen zu den Unterschieden in deren Validität gibt.

Bei der Beleuchtung eigentlich interessanter und wichtiger Zusammenhänge sozioökonomischer Faktoren mit Erkrankungen gleitet der Artikel weiter ins Banale ab. Leider, denn an dieser Stelle ist er einem Erkenntnisgewinn am nächsten. Alain Ehrenberg wird angeführt, der " die Zunahme depressiver Symptome in den westlichen Ländern in einen Zusammenhang [stellt] mit der allgemeinen Ausbreitung einer 'Kultur der Autonomie'."

"Die Depression verkörpert dabei 'die Spannung zwischen dem Bestreben, nun dieses Projekt umzusetzen'. Sie ist nach Auffassung Ehrenbergs deshalb keine Krankheit, sondern ein Phänomen unserer Zeit. Sie ist normal, denn sie bezeichnet die Probleme, die unsere heutige Normalität aufwirft"

Das Klatschen, was man gerade gehört hat, war der Schlag ins Gesicht von an Depression erkrankten Menschen. Pussies!

Dabei wird die Frage, ob eine Zunahme von Diagnosen eine Zunahme von Erkrankungen oder eine Zunahme der Entdeckung von Erkrankungen bedeutet, im Text nicht mal erwähnt. Die Aussage des Textes war scheinbar schon klar, bevor das erste Wort geschrieben wurde.

In dem Text werden Argumente, die auf wackligen Füßen stehen, aneinandergereiht, um zu belegen, dass "gierige Psychiater" und eine "gewissenlose Pharmaindustrie" die "Massen psychopathologisieren" wollen, um sich die Taschen zu füllen. Klingt wie eine Verschwörungstheorie.

Den Rahmen zu dem ganzen Kladderadatsch bilden zwei hübsche Absätze, die im Grunde gereicht hätten, um die Qualität des Artikels zu beschreiben. Er beginnt:

"Die Seele lässt sich schlecht in Ziffern fassen. Zahlen sind deshalb nicht unbedingt die Spezialität der Psychiatrie."

Aha. Weil die da eh nur quatschen oder wie? Weil Diagnosen über den Daumen gepeilt vergeben werden? Zahlen sind in der Psychiatrie genauso wichtig wie in anderen Bereichen der Medizin, wie sollte man sonst zum Beispiel das Ergebnis eines Fragebogens darstellen, Medikamente dosieren, Laborwerte kontrollieren und Diagnosen kodieren. Der Artikel endet mit der Erwähnung der Pläne von SAP, Menschen mit Autismus einstellen zu wollen.

"...denn Autisten haben starke Defizite in der Kommunikation und im sozialen Miteinander. (...). Dafür besitzen sie aber oft (!) ein extrem (!) gutes Gedächtnis und eine mathematische Begabung, -ihre Spezialität sind Zahlen."

Ein (!) Großunternehmen veröffentlicht den Plan, die "besonderen Fähigkeiten" von Menschen mit Autismus (richtig wäre: einer überschaubaren Minderheit von Menschen mit Autismus) in Zukunft nutzen zu wollen, und das reicht für einen "Sehnsüchtigen Blick" in die "Welt der Großunternehmen"? Das müssen schon schlimme Zustände sein, die so eine Sehnsucht hervorrufen. Wie könnten Unternehmen sich die Talente von Menschen mit anderen psychischen Erkrankungen zunutze machen? Reinigungsunternehmen könnten Menschen mit Waschzwang einstellen. Trainingscenter für Kundenberater Menschen mit Tourette-Syndrom. Werbeagenturen könnten Menschen mit Schizophrenie ein Praktikum anbieten. Schöne neue Welt, alle wären integriert und keiner müsste behandelt werden.

*Achtung Meinung, dieser Fakt wurde nicht überprüft!

[Hinweis: Kommentare zu diesem Text werden unter Umständen erst mit deutlicher Verzögerung beantwortet.]

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

merdeister

Ein guter Charakter erzieht sich selbst. - Indigokind - Blogtherapeut

merdeister

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