Die uns das Fürchten lehren

Kollektiv HGich.T und God’s Entertainment funktionieren als Theateranarchisten und Medienverweigerer. Beim Live-Art-Festival auf Kampnagel führten sie in den geplanten Exzess

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Die uns das Fürchten lehren

Foto: Hubertus J. Schwarz

Sie liegen auf dem Boden, in Lachen aus verschüttetem Bier, Schweiß und Neonfarben, die Kinder des Wahnsinns. Wie die Schmeißfliegen im Netz der Spinne strampeln die Besucher des diesjährigen Live Art Festivals mit den Beinen und bleiben doch gefangen. In dem verkrampften Versuch das Bewusstsein zu erweitern, sind sie blindlinks in die Falle des Schwarzen Witwers geflogen. Der Exzess auf Kampnagel hat seinen Zenit überschritten und feiert sich selbstherrlich als quasi-gnostische Glaubenslehre über Sieg und Niederlage.

"Verschwende dich, deine Rente oder was auch immer“, so schreit es einem aus dem Programm des sechsten Live-Art-Festivals entgegen. Unter dem Motto „Excess Yourself“ prallen die beiden Performance Kollektive HGich.T und God’s Entertainment aufeinander. Sie wollen mit ihrer Co-Produktion nicht weniger als ein Gegenmodell zum Neuen Menschen entwerfen.

Der Neue Mensch, für die Nationalsozialisten war er der rassenreine Arier, für die Kommunisten eine gleichgeschaltete Drohne destilliert durch die Rote Revolution ­– ein Arbeitstier und kaltblütiger Krieger, wie Ernst Jünger ihn stilisierte.

An einer Dekonstruktion dieser Ideale versuchen sich nun HGich.T und God’s Entertainment mit ihrer Hommage an die futuristische Oper "Sieg über die Sonne". Diese zelebrierte ihre erste und einzige Aufführung im vorrevolutionären Zarenreich des Jahres 1913. Darin konstruieren russische Künstler den Guerillakrieg einer Gesellschaft von Übermenschen gegen die Sonne. Deren Triumph über den Fixstern bedeutet jedoch gleichsam eine Niederlage, da die Kraftmenschen Freiheit nicht mehr als solche erleben können und verzweifelt nach einem Sinn in ihrem nun friedvollen Leben suchen. Damals entfachte diese Oper einen Skandal, die Schauspieler agierten im Publikum, bespuckten und brüllten die Zuschauer an, um Reaktionen zu provozieren. In Anlehnung an diese vielleicht früheste Performance-Inszenierung tituliert das kollektive Doppel auf Kampnagel ihre ganz eigene Version einer Suche nach der Erweiterung des Bewusstseins folgerichtig "Niederlage über die Sonne".

Dieses Doppel, das ist die Kollision zweier Performance-Gruppen. Die nihilistische Bandverbindung HGich.T aus Hamburg und ihr gemäßigtes Pendant aus Österreich, God’s Entertainment.

Das Band-Kollektiv aus dem Norden der Bundesrepublik pulsiert als Performance-Vulkan, dessen eruptiver Auswurf im Hamburger Umland mal mehr, mal weniger krassen Kollateralschaden anrichtet. Ihr anarchisches Schauspiel schmeckt nach Kellerbühne und Hinterhoftheater, nicht selten finden die Aktionen hauptsächlich in der Menge als vor dem Publikum statt. Zum ersten Mal brach die Truppe um die Jahrtausendwende aus sich heraus. Seitdem besteht das Kollektiv als harter Kern, Kunst und „Sowas wie Musik" generierender Individuen, die ein unsteter Morast aus Aktiven, Sympathisanten und alternativen Seelen jeglicher Couleur umfließt. Ihre Performance gerät dabei zur dadaistischen Negation einer Deutungsebene und die Nonsens-Parolen zur Hartz-4-Poesie.

Die medienscheue Gruppe God’s Entertainment aus Wien lebt in ihrer Wahlheimat hingegen den Protest gegen die etablierte Bühnenkultur im Speziellen und die österreichische Sozialpolitik im Besonderen. Präsent in der Öffentlichkeit agiert das Kollektiv spätestens seit 2009. Ihre Performance versteht sich dabei oft als Katalysator und Pflug durch die festgefrorene Theaterlandschaft der Alpennation. Im vergangen Jahr waren sie auf Kampnagel mit dem Human Zoo präsent, in dem Randgruppen von alleinerziehenden Müttern bis zu Ex-Knackis ausgestellt wurden. Wer wollte, konnte damals Leckerlies für die Käfiginsassen kaufen.

In diesem Sommer steht nicht mehr das Verständnis von Schubladen und denjenigen, die wir hineinstecken auf dem Programm, sondern die transzendente Erfahrung als solche. Was ist nötig, was erlaubt, um den X-beliebigen Bildungsbürger und Festivalbesucher aus seiner Umlaufbahn in einen psychoaktiven Zustand zu katapultieren? Die Antwort aus den Reihen der beiden Performance-Truppen lautet: Goa als soziale Praxis, oder zumindest der Versuch dieses Subgenre des Psychedelic Trance zu etablieren.

Die Musikrichtung Goa nutzt ihre Möglichkeiten aus Bässen, Stakkatoklängen und hypnotischen Alternationen der Timbre, um die neurologischen Effekte eines LSD-Rausches zu simulieren. Ihre Bezeichnung Goa-Trance ist gleichsam die Ortsbeschreibung der ersten Konzerte dieser Art. Sie fanden in der ehemaligen Hippie-Exklave, dem indischen Bundesstaat Goa, statt. Vor allem die Vertreter aus den Reihen des HGich.T Kollektivs begreifen sich in ihrem musikalischen Schaffen als Fortsetzung einer goastischen Tradition.

So wie ihre Musik ein Auf und Nieder der Töne provoziert und wir einen Rauschzustand als Parabelflug der Sinne erleben, arrangiert das Performance-Doppel keine Aufführung im eigentlichen Sinne. Sie legen ihre Inszenierung der „Niederlage über die Sonne“ als ein Erlebnisprozess an. Als Prozess mit einem Goa-Fest als exzessivem Finale.

Diese Vision der Überparty manifestiert sich auf Kampnagel, dem selbst ernannten Zentrum für schönere Künste, als Brotkrumenpfad zur versuchten Erleuchtung. Über das gesamte Gelände der ehemaligen Kranfabrik mit seinen in sich verwachsenen Montagehallen, Bühnen, Werkstätten, Garderoben breitet sich ein Parcours unterschiedlicher Stationen aus. Die jede für sich einen Schritt zum ultimativen Trip beitragen sollen.

So gibt es etwa eine Art mutiertes Sonnenstudio, als Besucher bekommt man hier eine Kombination aus Trockenhaube und LED-Scheinwerfer vor das Gesicht gesetzt. Dann schalt das Kommando „Augen zu!“ und durch die geschlossenen Lider geistern hypnotische Mandalas aus Licht über die Netzhäute. Mal schrill flimmernd, mal in sanften Farbverläufen sollen die Leuchtdioden das Bewusstsein bestrahlen. Das God’s Entertainment Mitglied, Simon Steinhauser, nennt dieses Konstrukt einen Stimulanzreaktor.

Eine Station weiter herrscht Zwielicht. An die Wände sind mathematische Formeln gekritzelt. Fahl beschienene Objekte verteilen sich im Raum und erinnern an die skurrile Version eines Mitmach-Museums für Kinder. In einer Ecke surrt ein Helikopter hektisch gegen die ihn am Boden haltenden Seile an. Im nächsten Winkel produziert ein selbst gebauter 3D-Drucker so komplexe wie sinnbefreite Kunststoffgebilde. Dahinter flackern Farbstrukturen über einen handtellergroßen Monitor. Der HGich.T Keyboarder Paul Geisler, ein schmächtiges Männlein mit Bart und Gandhi-Brille huscht um seine Lieblinge herum und erklärt den Eindringlingen in seine Tüftlerwelt, was es mit den Ausstellungsstücken auf sich hat.

Im inoffiziellen Besucherranking rangiert „Die Apotheke“ als Favorit ganz oben. Wer möchte, lässt sich an dieser Station von David Jagerhofer aus Österreich, einem Archetyp von Apotheker mit schüttererem Haar, Denkerstirn und weißem Kittel, seine ganz persönliche Dosis Pillen drehen. Von Kokablättern, Extrakten aus Acerolakirschen, dem Potenzbaum bis zu Guarana bietet das Sortiment beinahe alles, was als psychedelisch und noch legal gilt. Um die Wirkung zu potenzieren, wird Grappa gereicht. Natürlich belebt all das nur die Sinne, es bringt sie nicht in neue Sphären. Die Apotheke soll den Besuchern lediglich einen mentalen Schubs in die richtige Richtung geben.

Durch einen mit tiefschwarzem Samt ausgelegte Tunnel gelangt man schließlich in den Limbo, den Vorhof zur Exzesshölle. Dieser Hybrid aus Crackhöhle und Absinthbar wird vom studierten Theaterwissenschaftler Boris Ceko bespielt. Er empfiehlt hier schwere Alkoholika aus seiner Wahlheimat Wien. An den Wänden wabern im unsteten Licht der Funzeln fluoreszierende Muster und Tierfiguren. Die Sessel und Sofas scheinen aus einer anderen Zeit hereingebeamt. Modelle der sechziger Jahre mit samtenen Überziehern und dem Geruch der Großmütter und schrägen Tanten. Sie alle werden von Kreaturen in Beschlag genommen, die den Sprung in andere Breitengrade des Bewusstseins wohl schon gewagt haben. Dann, im hinteren Teil dieses Opiumkellers, gelangt man durch eine unscheinbare Öffnung endlich in die tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus, dem K-6, der größten Halle auf Kampnagel.

Die Halle maßt sich im Kontrast zu der erstickenden Enge der Crackhöhle gigantisch aus. Ihre Tiefe lässt sich jedoch nur durch die in allen Farben leuchtenden Spinnfäden erahnen, die als riesiges Netz über den Häuptern der Tanzenden gespannt sind. Es ist finster und doch wendet man, geblendet von schizophren flackernden Scheinwerfern, den Blick zurück in die schützende Behaglichkeit der Tür. Nur um von Neuem durch unerwartete Helligkeit zurückzuprallen. Das Loch, aus dem man eben noch getreten kam, ist nicht mehr. Es hat sich als marginaler Bestandteil einer überproportionalen Sonneninstallation verflüchtigt. Hier also thront sie, vor einer selbstvergessenen oder in sensationslüsterner Gier begriffenen Menge, die geheiligte Reminiszenz an den Sieg der Sonne. Mal bringen psychodelische Maserungen ihre Oberfläche zum Pulsieren, dann wieder wird das losgelöste Lächeln eines alten Mannes projiziert­ – der helle Lebensspender als Übervater. Die Party ist im vollen Gange.

Der finale Akt erlebt sich selbst als Pfuhl undurchdringlicher Sinnlosigkeit. Abwechselnd bearbeiten wilde Goa-Bässe aus unsichtbaren Soundanlagen die Gehörgänge der Schaulustigen und Tanzenden dann wieder wiegt sich die Maße im Klang von Panflötengesängen. Durchgehend skandiert derweil Anna-Maria Kaiser, der Quasi-Frontmann von HGich.T, verquere Formeln seiner Ekstase in ein Mikrofon während er, wie ein Antithese zum fleischgewordenen Messias, durch die Reihen seiner Jünger schreitet. „Goa, Goa, MPU, Ja!“, brüllt er und meint die medizinisch-psychologische Untersuchung eines Drogenverdächtigen. Dann ruft er abwechselnd Tolkins Frodo und den Geist einer Verflossenen an „Sabrina, weißt du noch, als wir uns mit Kugelschreiber HSV auf die Stirn tätowiert haben, weißt du noch Frodo?“

Die Gesichter der Menschen sind mit fluoreszierenden Mustern bemalt, Folge einer anderen Station dieses halluzinogenen Trips. Zwischen ihnen, selbst ein Teil des Molochs aus schweißgedämpften Gliedern und rhythmisch zuckenden Leibern, wandeln Mitglieder von HGich.T und den God’s wie seelenlose Zombies umher. Einige tragen eine quere Rave-Klamotte, andere staken nur in Windeln durch den Morast aus verschüttetem Bier und abgewaschenen Neonfarben. „Schalom, Schalom, ich bin Tutanchamun!“ drohnt Kaiser. Plötzlich fährt Keyboarder Paul Geisler auf einem selbst montierten Verstärker in das Publikum wie die infernalischen Höllenreiter in die Horde der Sünder. Er rockt ein Gitarrensolo herunter, dass Jimi Hendrix hätte schmunzeln lassen, liegt unvermittelt am Boden und sinniert losgelöst zu den Spinnweben hinauf. „Auf den Boden, alle auf den Boden“, befiehlt nun auch Kaiser, und so geschieht es. Die Besucher und Partygänger liegen mit strampelnden Beinen wie umgefallene Insekten im Spinnennetz von HGich.T und God’s Entertainment. Halb blind von Stimulanzreaktoren, überdreht durch die konzentrierten Espressi in Pillenform, trunken in den Armen der grünen Fee. Nur die Sonne steht noch aufrecht und blickt auf ihre im Netz gefangenen, willensschwachen Pilger herab. Wir sind in die Falle ihres ersten Hohepriesters, dem schwarzen Witwer Kaiser getappt. Dann setzen erneut die Bässe ein und eine mit Frischfleisch geschwängerte Goa-Party nimmt seinen Lauf bis in die Morgenstunden.

Es ist eine einzige Groteske. Die Szenerie könnte der verqueren Gedankenwelt Hieronymus Boschs entsprungen sein, der mit seinen Höllendarstellungen vor so vielen Jahrhunderten schockierte. God’s Entertainment und HGich.T haben mit ihrem Versuch einen Goa-Trip zu rekonstruieren, letztendlich nur die Nachbildung der Nachbildung kopiert. Für den Rezipienten bleibt es ein Cirque du Soleil, die Vorführung von Exzess, nicht die Ekstase selbst. Die beiden Kollektive wollten das Erbe der russischen Performance dekonstruieren, letztendlich haben sie sich davor verbeugt, sind selbst zu Sonnenanbetern geworden.

Hubertus J. Schwarz

Dieser Beitrag entstand im Rahmen eines Studentenprojektes derMacromedia Hochschule für Medien und Kommunikation unter der Leitung von Dozentin Simone Jung. Neun StudentInnen des Studiengangs Kulturjournalismus bloggen noch bis zum 14. Juni über das Live Art Festival "Exzess Yourself" auf Kampnagel auf liveartfestival.wordpress.com.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

MHMK Kulturjournalismus

Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation (MHMK) Studiengang Kulturjournalismus, Seminarleitung Simone Jung

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