Klaus Wagenbach muss man von der Größe und Gnade des Südens nicht überzeugen. Sein Verlag wird zwar ökonomisch vom Werk des Dichters Erich Fried aus Wien (Jahresmitteltemperatur elf Grad Celsius) getragen, aber ohne die Bücher von und über Pier Paolo Pasolini aus Bologna (Jahresmitteltemperatur 17 Grad Celsius) wäre es nicht der Verlag, den wir kennen. 50 Jahre gibt es diesen Verlag nun schon, beim zweiten Literaturfestival von Ascona auf dem Monte Verità, das unter dem Motto „Utopien und Dämonen“ stand, wurde Klaus Wagenbach mit dem Enrico-Filippini-Preis geehrt.
Der Preis ist nach einem Tessiner aus dem Maggiatal benannt, der sich die Haare wachsen lies, nach Mailand migrierte, wo er im Feltrinelli-Verlag arbeitete, und weiter
nd weiter nach Rom zog, wo er als Kulturredakteur für La Repubblica wirkte. Die Laudatio auf Wagenbach hielt Inge Feltrinelli. Sie wurde 1930 als Inge Schönthal in Essen geboren, glänzte in den fünfziger Jahren als Fotoreporterin, verliebte sich in den Verleger, Kommunisten-Finanzier und Lire-Milliardär Giangiacomo Feltrinelli und folgte diesem 1960 nach Mailand, wo sie bis heute als Grande Dame und Verlegerin a.D. lebt.LockerungsübungenLetztes Jahr erschien ihr Band Mit Fotos die Welt erobern, auf einigen der Fotos ist sie selbst zu sehen, eine wunderschöne, elegante und selbstbewusste Frau, die ihre Schriftsteller ins milde Licht zu rücken verstand. Ein besonders anrührendes Foto zeigt Peter Handke im Piemont, vor Rundbogen und Palme, Handke trägt einen Strohhut und hält ein Weinglas in der Hand, sein Blick ist skeptisch und gelassen zugleich. Handkes Heiterkeit ist paradigmatisch: Die Laudatio auf Klaus Wagenbach zeichnete das Bild eines jungen Deutschen, der von der Landschaft und Kultur des Tessins so verzaubert wurde, dass er einen Schafstall im Maggiatal kaufte und zu einem Domizil für Autoren des Verlags ausbaute, die sich nach seinem Vorbild unter der Sonne ein wenig lockern sollten.Solche Lockerungsübungen standen in der Tradition eines Erich Mühsam oder einer Franziska zu Reventlow, der Boheme vom Monte Verità also, die sich ein halbes Jahrhundert vorher durch Tanz, Meditation oder simple Präsenz auf dem „Wahrheitsberg“ von ihrem alten Selbst befreien wollte. Aber trotz des starken Verkehrs von Norden nach Süden bewegte man sich nicht auf einer Einbahnstraße. „Er brachte uns Gras“, erklärte Inge Feltrinelli mit leichtem italienischen Akzent, meinte vermutlich aber nicht Gras, Cannabis, sondern Grass, den Schriftsteller, den Wagenbach in Italien bekannt gemacht hatte.Nun kann man Günter Grass eine große Fabulierkunst und die zupackende Sinnlichkeit des Steinhauers attestieren, vom „radical chick“, den die Feltrinelli im Mailand der sechziger Jahre liebte, ist er aber weit entfernt. Inge Feltrinelli steht für einen linken Hedonismus, wie es ihn in Deutschland nur in Ansätzen gegeben hat. „Die Geschichte hat das verhindert, und dann ist Deutschland eben ein sehr protestantisches Land.“ Das schöne Vorwort zu ihrem Fotobuch von Fritz J. Raddatz vermittelt den Eindruck, dass man es hier mit einer (ehemaligen) Salonkommunistin zu tun hat, immerhin wird sie von Freunden „Clara Zetkin“ genannt, und immerhin waren es „Exkurse über Stalin“, die Inge Feltrinelli im März 1953 davon abhielten, den etwas sadistischen Ernst Hemingway nicht weiter für ihre berühmt gewordene Fotoreportage zu begleiten.BerlinguerDa ich schon länger an einer Rehabilitation des „Salonkommunisten“ arbeite, die sich schwierig gestaltet, glaubte ich an eine günstige Gelegenheit: Wer, wenn nicht Inge Feltrinelli könnte mir helfen, den Begriff zu rehabilitieren? Aber auch sie fand ihn „hässlich“. Gibt es ein schöner klingendes italienisches Synonym? Nein, sagte sie, könne es schon deswegen nicht geben, weil zu der Zeit, als der Begriff in Deutschland aufkam, in Italien alle Intellektuellen kommunistisch gewesen seien. Die emblematische Figur ist Enrico Berlinguer, der bis zu seinem Tod 1984 Generalsekretär der Partito Comunista Italia (PCI) war. Danach ging es mit der PCI abwärts. Es ist zu hoffen, dass der Film Quando c’era Berlinguer von Walter Veltroni, der gerade in Italien läuft, einen deutschen Verleiher findet. Auf meine Frage, wer heute das Äquivalent zu den alten Helden sei, nannte Inge Feltrinelli den Politiker Matteo Renzi und den Schriftsteller Roberto Saviano. Renzi, neuer Ministerpräsident Italiens, gehört der gemäßigten Partito Democratico (PD) an und steht weniger für linken Hedonismus als vielmehr für einen rigiden Sparkurs; jüngst ließ seine Regierung 50 Staatskarossen deutscher Hersteller bei Ebay versteigern, Ende April sollen sogar neun Maseratis folgen. Saviano lebt heute, auf der Flucht vor der Mafia, in New York.Man könnte den Süden also leicht als kulturelles Konstrukt und Projektionsfläche abtun, ähnlich wie Edward Said den Orient als einen Exotismus des Westens „entlarvt“ hat – stünde dem nicht das Klima entgegen. Man muss es erlebt haben, wenn man den Gotthardtunnel hinter sich lässt, die Leventina runterfährt, die ersten Palmen erblickt, sogar in den hässlichen Outletshops und Autohäusern, die von Bellinzona an die Straße säumen, eine Art Italianità zu erkennen meint, endlich Ascona erreicht, den Lago Maggiore sieht, und unter einer recht auffrischenden Brise die milde Wärme der „Alpensüdseite“ auf der Haut spürt (in der Schweiz wird beim Wetterbericht zwischen Alpennord- und Alpensüdseite unterschieden). 21 Grad Anfang April, das nennt man mediterran.Von Michel Foucault gibt es den schönen Satz, man solle die Gedanken bis zum Punkt verfolgen, wo sie sich verkörpern. Bei den Utopien, um das nicht übertrieben intensiv diskutierte Thema des Literaturfestivals von Ascona aufzugreifen, landete man wohl beim Klima. Dass das Klima nicht nur für das Wohlbefinden, sondern infolgedessen auch für das Denken und Schreiben entscheidend ist, war wenigen so bewusst wie Friedrich Nietzsche, der unter der feuchten, kühlen Luft in Naumburg oder Basel litt,“Unglücks-Orte“, Magenkrampf-Orte und Migräne-Orte, und dem das Herz aufging, als er Genua und Nizza für sich entdeckte. Auf der Halbinsel St. Jean, wollte er, der Nomade, sogar alt werden. Nietzsche kannte die beiden Inseln vor Brissago nicht, an denen der Blick über den Lago Maggiore haften bleibt, er kannte überhaupt das Tessin kaum. Es zog ihn (zu) hastig weiter südwärts.Gegen die NaturDas angenehme Klima führt dazu, dass immer mehr Menschen im Tessin ansiedeln. Zerstörung oder zumindest große Veränderung des Landschaftsbilds sind die Kosten unserer Sehnsucht. Ascona und Locarno sind so gut wie zusammengewachsen, und wer einen Blick auf die Hänge über dem Lago wirft, erkennt, dass die SPD den „deutschen Arbeitern“ die Villen keinesfalls weggenommen hat, um an ein sarkastisches Plakat von Klaus Staeck zu erinnern, sondern offenbar ständig neue baut und an reiche deutsche und deutschschweizerische Rentner, die nie zu sehen sind, verschachert. Wenn in ein paar Jahren der längste Eisenbahntunnel der Welt, der Gotthardbasistunnel, fertig sein wird, 57 Kilometer lang, wird die Fahrzeit von Zürich nach Locarno weniger als zwei Stunden betragen. Es heißt, am Lago Maggiore werde dann unabwendbar ein zweites Monte Carlo entstehen, aber Dichtestressgeplagte können sich in der Hoffnung wiegen, dass der Reisende keine Stunde später auch gleich in Mailand sein wird.Einer, der zwar viel in den norditalienischen Städten baut, sein Büro aber immer noch im Tessin hat, ist der Architekt Mario Botta aus Mendrisio. Botta ist ein scharfer Kritiker der Zersiedelung in seiner Heimat, er findet die – kaum vorhandene – Raumplanung katastrophal. Gleichzeitig ist er als guter Südländer auch ein Urbanist, ein Verehrer der Stadt. „Die Stadt ist das höchste Gut der Menschheit“, sagt er, als ich auf dem Monte Verità mit ihm spreche. „Sie ist die schönste Frau, die es gibt.“ Die Stadt beruhte auf der ganzen Welt ursprünglich auf nur zwei Prinzipien, dem Zentrum und der Begrenzung, aus denen alles weitere folgte. Botta ist ein konservativer Modernist, kein Grüner. Für ihn wird eine Stadt ein Stück weit gegen die Natur gebaut, was man seinen eigenen Bauten sehr gut ansieht, die immer auch ein Herrschaftszeichen des Citoyens sind. Auch wenn Bottas Bekenntnis, dass er gerne Bäume fällt, halb ironisch zu verstehen ist, an die Destruktion glaubt er, der Walter-Benjamin-Verehrer, sieht in ihr das einzige Heil, aus der großen Vorstadt herauszukommen.Nun zeigt selbst Suburbia im Süden ein schöneres Gesicht als sonstwo. Aber wem auch das zu viel ist, der kann sich in die Täler zurückziehen. Ein neues Gesetz soll verhindern, dass die rustikalen Dörfer ihren Charakter verlieren (in Ortschaften mit mehr als 20 Prozent Zweitwohnungen dürfen keine neuen Häuser mehr gebaut werden, grob gesagt). Er wird dabei großen Spuren folgen. In Berzona im Onsernonetal zum Beispiel siedelten Max Frisch und Alfred Andersch an und gerieten in Streit. Zur Zeit kann eine kleine Ausstellung zu Andersch im Heimatmuseum von Loco besucht werden. Andersch kam 1957 nach Berzona, das Haus war in der NZZ inseriert. Kurz darauf konnte Vollzug gemeldet werden: „Das ganze Ding kostet 40000.- Die landschaftliche Lage ist völlig einzigartig, Süden und Gebirge in einem.“ Im selben Jahr erschien Sansibar oder der letzte Grund. Bekanntlich handelt der Roman von einer Handvoll politischer Flüchtlinge, die über die Ostsee nordwärts migrieren wollen. In der existenziellen Not fragt der Mensch gewiss nicht zuerst nach der Himmelsrichtung, aber selbst diesem Buch ist der Süden, als titelgebender Sehnsuchtsort, eingeschrieben.
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