György Ligeti (1923 – 2006), der seine ungarische Heimat 1956 verließ und von da an in Österreich lebte, war für seine mikropolyphonen Klangflächen bekannt. Fast alle Töne der Skala erklangen da gleichzeitig. Für viele war das der Sound der Moderne schlechthin. Bezeichnend ist etwa, dass Stanley Kubrick sein Orchesterstück Atmosphères (1961) in dem Film 2001: Odyssee im Weltraum verwendete. Es stand für die Geheimnisse des Weltalls, aber auch der im Menschen schlummernden Möglichkeiten. Der gewöhnliche Kinogast fand die Musik passend, ohne nach dem Komponisten zu fragen. Unbewusst wartete er aber wohl, ob sich der Schwarm der Töne zur Gestalt zusammenziehen oder in der Unentschiedenheit verharren würde.
Wenn man, fasziniert von der Erinnerung an jene Zeit, die zwei Bände der Études pour piano anhört, die Thomas Hell darbietet (zusammen mit Anfängen des dritten Bands, den Ligeti nicht mehr vollenden konnte), ist man zunächst enttäuscht. Denn diese Kompositionen wollen nicht mehr avantgardistisch sein. Das Projekt der Avantgarde sei vorüber, meinte Ligeti um 1980 herum. Zwar immer noch auf der Suche nach ungewöhnlichen Wegen, experimentierte er nunmehr mit polyrhythmischer Musik aus Afrika und der Karibik. Seine Stücke näherten sich wieder der Tonalität. So erinnern die Études von ferne, bei aller Schrägheit und Komplexität ihres Klangs, an Debussy; sie scheinen auf dessen Études und Préludes gleichzeitig Bezug nehmen zu wollen, indem sie von ersteren die Virtuosität, von zweiteren die Bildkräftigkeit ausleihen.
Enttäuschung ist keine angemessene Reaktion, denn Ligeti hat recht. Die Zeit der grenzenlosen Möglichkeiten war bald nach 1968 wirklich zu Ende. Hätte sich das in der Musik nicht niedergeschlagen, wäre sie ideologisch geworden. Auch Luigi Nono komponiert nach 1980 anders als vorher – eine Musik des Verstummens. Wie ich Ligetis Études höre, sind sie eine Art fortlaufender Kommentar zum Zeitgeschehen. Der erste Band wurde 1985 veröffentlicht, und schon die Titel der Stücke sind sprechend: „Unordnung“, „leere Saiten“, „blockierte Tasten“, „Fanfaren“, „Regenbogen“, „Warschauer Herbst“. Die Stücke vier bis sechs verhalten sich spiegelbildlich zu den Stücken eins bis drei. Erst Depression, dann Hoffnung – es ist ein einziges Bild, das in der Mitte umkippt. Im letzten Stück freilich, dessen Titel auf ein ständig umkämpftes Musikfestival Bezug nimmt, ist die Hoffnung mehr als gedämpft. Das Technische passt dazu: Ligeti will die Illusion verschiedener Geschwindigkeiten zur selben Zeit erzeugen.
Das zweite Buch, 1988-94, lässt uns miterleben, wie die Wende kommt und welche Folgen sie hat. Auch hier verraten die Titel das meiste: „Galam Borong“, eine Meditation über still stehende Zeit; „Metall“ erinnert an ein Fahrzeug, das sich nur stotternd voranbewegt; „Schwindel“, „Der Zauberlehrling“, „In der Schwebe“ – der Vorhang, so scheint es, will sich nicht öffnen. „Geflecht“ – wir sind in etwas verwickelt! Es folgt „Die Treppe des Teufels“, hier geht‘s aufwärts in haltlosen Läufen – fatales Wachstum, das keine Grenzen kennt. „Unendliche Säule“, das letzte Stück, benannt nach einer Skulptur von Brâncuși, muss ein Kommentar zur teuflischen Treppe sein – doch mit welcher Botschaft? Dem „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) wohnen wir offensichtlich nicht bei.
György Ligeti: Études pour piano Thomas Hell Wergo 2012
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