Die Küche und die Höhle

Maerzmusik 2013 Vom Berliner Festival für aktuelle Musik - fünfter Bericht

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Die Schlagzeugerin Robyn Schulkowsky
Die Schlagzeugerin Robyn Schulkowsky

Foto: Kai Bienert / Berliner Festspiele

Der Donnerstagabend im Konzerthaus Berlin stand unter dem Titel "Die späten 1960er". Das klingt ja, als erinnere man sich einer weit zurückliegende Vergangenheit, und so wäre es auch, stünden die Politik dieser Jahre, die internationalen Beziehungen, der Stand des technischen Fortschritts auf dem Programm. Musik aus jener Zeit indes ist uns Heutigen immer noch voraus. Zugleich kommen wir ihr immer näher. Dass ein Komponist wie Helmut Lachenmann von einem großen Konzertpublikum gefeiert, die Musik eines Brian Ferneyhough geradezu bejubelt wird, wäre noch vor zehn Jahren kaum vorstellbar gewesen. Sie gehören beide der Generation an, die sich mit dem musikalischen Neuanfang der späten 1940er und der 1950er Jahre, der "seriellen" Musik, zwar kritisch auseinandergesetzt, ihre Errungenschaften aber nicht geopfert hat, sondern ihr hörbar nahe geblieben ist. Lachenmann etwa, Jahrgang 1935, lernte sie bei Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen aus erster Hand kennen.

Das Werk freilich, das am Donnerstag gegeben wurde: Air, entstanden 1967/68, eine "Musik für großes Orchester und Schlagzeug-Solo", scheint ganz aus dem Rahmen zu fallen. Kontinuität mit der Vorgängergeneration ist kaum erkennbar, wenngleich vorhanden. Dem Titel nach erwartet man, ein(e) Soloinstrument(engruppe) würde mit einem Ganzen und Allgemeinen und in sich Einheitlichen, dem Orchester, Zwiesprache halten, wie man es von Klavier- oder Violinkonzerten kennt. Obwohl jedoch die Schlagzeugerin Robyn Schulkowsky einen großen Gerätepark einsetzte und mit ihm auch herausstach und im Mittelpunkt des musikalischen Geschehens stand, taten im Grunde alle Instrumentalisten dasselbe wie sie, brachten nämlich isolierte knappe und knappste Geräusche hervor. Da alle Geräusche ungewöhnlich sind, auch etwa die von der Violine erzeugten, gibt es keinen Unterschied von Solo und Orchester in der Art, dass das eine Schlagzeug wäre, das andere nicht, oder dass die Geräusche des Solos rhythmischer oder rhythmisch anders wären als die sonstigen Orchestergeräusche. Man hat vielmehr den Eindruck eines großen Raums, in dem Geräusche von Ort zu Ort springen, hier aufflackern, da wie Hagelschlag niedergehen, mal mehr einzeln verteilt sind, mal zur Verdichtung, ja zum Tohuwabohu sich steigern.

Nicht darin, dass er ein ganzes Werk als Geräuschstudie anlegt, ist Lachenmann einzigartig. Mit Geräuschen hatte John Cage längst vorher experimentiert. Aber es ist hörbar, wie gezielt und metrisch präzise sie bei Lachenmann eingesetzt sind. Einem Zufallsgenerator hat er sie bestimmt nicht abgewonnen. Er spricht von ihrer "logischen Integration". Dies Kalkül, das man ahnt und heraushört, verbindet ihn mit der Lehrergeneration. Es teilt sich auch mit, dass ihm immer zuerst ein Klang vorgeschwebt und er dann nach Wegen gesucht haben muss, sie mittels vorhandener und neu zu erfindender Orchesterinstrumente zu realisieren.

Das Solo sticht zunächst einmal optisch heraus. Schulkowsky steht zwischen ihren Geräuschgeräten wie in der Hexenküche der Fausttragödie. Tatsächlich benutzt sie auch etwa eine Pfanne, wo sie mal den Boden, mal den aufgesetzten Deckel schlägt. Sie produziert aber nicht nur raue, sondern auch zarte Töne. Am meisten bewunderte ich, dass sie ihren Teil der Partitur auswendig spielte und spielen musste, hatte sie doch immerfort zwischen den Ecken der "Küche" hin- und herzuspringen. Aber da geht es vielen Schlagzeugern neuerer Kompositionen nicht anders. Oft wird erwartet, dass sie mehrere Schlagzeuggruppen bedienen, die über den ganzen hinteren Orchesterrand verteilt sind. Nach Björn Gottstein stehen sie "in puncto Fitness Spitzensportlern in nichts nach" und machen "jedenfalls mehr Kilometer [...] als ein Geiger, der das gesamte Konzert auf seinem Stuhl verbringt".

Doch was Schulkowsky tut, hat auch einen Sinn. Erst peitscht sie durch die Luft, dann zerbricht sie Stöcke. Ich nehme an, dass auch die dem Publikum zugewandte Blechtonne mit Chiquita-Reklame in der Partitur steht, es würde jedenfalls passen. Auch Trillerpfeifen, ja Pistolenschüsse kommen vor: Man bringt das Stück "unweigerlich", so das Programmheft, "mit den damaligen Ereignissen der Studentenbewegung der 1968er" in Zusammenhang.

Und mir scheint, Brian Ferneyhoughs Firecycle Beta, ein "symphonisches Torso für zwei Klaviere und Orchester mit fünf Dirigenten", steht im nämlichen Zusammenhang. Der 1943 geborene Engländer komponierte es zwischen 1969 und 1971. Wenn er selbst im Vorwort der Partitur schreibt, der Titel beziehe sich "auf die Theorie von Heraklit über die periodische Zerstörung und Wiederherstellung des Universums durch und mit Hilfe von Feuer (das Symbol für den ewigen Wandel und auch für Reinheit)", so klingt das anarchistisch und nach Revolte.

Die musikalische Form des "Torsos" ergibt sich daraus, dass etwas zugleich aus der Nähe und aus der Distanz betrachtet werden soll. Distanz halten die ruhigen Klangteppiche vorwiegend der Streicher. Die Klaviere werfen die rhythmisch erregte, ja aufgewühlte Nahsicht dazwischen. Wenn immer mal wieder das Schlagzeug donnert - aus konventionellen Instrumenten, deren tonale Tonhöhen man unterscheiden kann -, sind es Zerstörung und Wandel im Großen, die aus der Nähe betrachtet werden. Das Stück endet jedoch unerwartet mit leisem Nachdonner. Das ist wieder der Blick aus der Ferne, von der Ewigkeit her, in deren Zeitfülle Heraklit zufolge das "Feuer" nicht Ausnahme ist, sondern Regel.

Wie auffallend doch, dass um 1968 herum so viel bedeutende Kunst entstand. Ich hatte schon früher Anlass, darüber zu schreiben. Es gibt Bücher, die von "1913" handeln und die Kunst ins Zentrum stellen. Ein entsprechendes Buch über 1968 steht meines Wissens noch aus. Mir scheint, es ist überfällig.

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Gestern Abend lief The Cave, das "multimediale Oratorium in drei Teilen" von Steve Reich (Musik) und Beryl Korot (Video), entstanden zwischen 1990 und 1993, im ausverkauften Haus der Festspiele. Ein großes Ereignis, weil es um den Konflikt der Israelis und Palästinenser und dessen Wahrnehmung durch Bürger der USA ging.

Auf die drei Teile verteilt werden den drei Gruppen dieselben Fragen gestellt: Wer war Abraham? Wer Sarah, wer Hagar; wer Isaak, wer Ismael? Auf Abraham berufen sich ja alle, Juden, Christen und Muslims. Von Abrahams Gattin Sarah und deren Sohn Isaak stammen nach gemeinsamer Sicht der Juden und Muslims die Juden, von seiner Magd Hagar und deren Sohn Ismael die muslimischen Araber ab. Höchst spannend und erkenntnisfördernd ist es, Israelis und Palästinenser über diese Figuren nur allein reden zu hören. Es kommt zum Vorschein, dass für Muslims nicht Abraham, sondern Isaak der erste Israelit und Sarah die erste Israelitin gewesen ist. Abraham steht über beiden Religionen als derjenige, der Gott bedingungslos folgt. Der also den "Islam" verkörpert, zu deutsch die Unterwerfung und völlige Hingabe. Er gibt es zu erkennen, wenn er das Zweistromland in Richtung Palästina verlässt. Bei der Opferung Isaaks, die Gott erst befiehlt, dann den Befehl zurücknimmt, betonen die Muslims Isaaks noch mehr als Abrahams Gehorsam. Vor allem aber betonen sie, dass Ismael, von dem sie abstammen wollen, Abrahams Erstgeborener ist. Auch die Israelis räumen das ein.

Die musikalische Begleitung und visuelle Unterstützung fügt Wesentliches bei. Die Interviewten werden gezeigt, man hört (und liest auch) ihre Antwortsätze und indem diese rhythmisch und musikalisch unterstrichen werden, kommt die Emotion herauf, die den Stellungnahmen zugrunde liegt. Das ist schon faszinierend gemacht: Während man einzelne Wortgruppen sprechen hört und sieht, wird deren punktierter Rhythmus von Reichs Minimal Music genau nachgebildet und den Wortgruppen untergelegt; ebenso lässt sich jede gesprochene Tonhöhe exakt in eine musikalische überführen, die dann als Orchesterbegleitung erklingt. Zwar sind die Stimmen der Interviewten verschieden hoch, doch daran kann sich die Musik mit Wendemanövern der Modulation leicht anpassen. So kommt es, dass die Interviewten gleichzeitig zu sprechen und zu singen scheinen, und so kommen die Gefühle mit herauf, obwohl der Tonfall immer geschäftlich bleibt. Da hört man denn, dass Israelis bei Hagar verlegen werden oder dass für Palästinenser Ismaels Schicksal ein aufregendes Geheimnis ist.

Der Haupteindruck ist überraschend einfach: Schon in der von beiden Religionen anerkannten Torah (den fünf Büchern Mosis) sind beide Gruppen im selben Land zusammen. Schon dort stellen sie sich gegeneinander. Schon dort geschieht es mit zweifelhaftem Recht. Und wie verhält sich Gott dazu? Die Torah sagt es ganz klar: Er sieht das Unrecht auf beiden Seiten - Hagar durfte Sarah nicht verachten, Sarah ging zu weit, Hagar deshalb zu vertreiben -, er stellt sich ungeachtet dessen auf beide Seiten. Er gibt beiden Seiten Segenssprüche. Israelis und Palästinenser sind also nicht erst heute miteinander verkettet. Wenn sie in ihre heiligen Bücher schauen, sagen die ihnen, dass die Verkettung zu ihren Wesenszügen gehört. Ja, und es steht in der Bibel, dass Abraham von Isaak und von Ismael begraben wurde - in "the cave", der titelgebenden Höhle, die im Stadtgebiet von Hebron liegt. Als das gestern Abend vorgebracht wurde, wollte ich es nicht glauben. Doch man lese Genesis 25, 9. Bleibt diesen beiden Völkern eine andere Wahl, als sich miteinander zu versöhnen?

Die meisten interviewten US-Amerikaner konnten mit der Symbolik der Namen nicht mehr viel anfangen. Eine Frau spekulierte über Muttergottheiten, einer andern fiel ein, dass ein Ismael in Moby Dick vorkommt. Eine meinte, Ismael sei "der James Dean des Alten Testaments", ein Mann sah ihn wie einen Cowboy "der Sonne entgegen gehen", hier lässt John Wayne grüßen. Good grief... ich weiß nicht, ob solche Distanz es erleichtert oder erschwert, im Palästinakonflikt als nicht nur ehrlicher, sondern produktiver Makler aufzutreten. Doch immerhin erscheint Ismael als sympathische Figur, vielleicht weil schon die puritanischen Väter der USA sich als aus England Vertriebene sahen. Das führte ja nicht zur ewigen Feindschaft zwischen England und den USA, sondern wie man weiß, sind beide Staaten seit langem aufs Engste verbündet.

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Vom Konzert am Sonntagabend mit arabischer Kammermusik will ich noch berichten. Werke von 1971, 2003, 2007 und 2012/13 stehen auf dem Programm.

Beiträge zu früheren MaerzMusik- und auch den Berliner "Musikfest"-Festivals können Sie von hier aus aufschlagen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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