Die vergebliche Predigt der 68er

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Heute beginnt das musik fest berlin 2010 und dauert bis zum 21. September. Mit Ausnahme der knappen Woche vom 8. bis 13. September werde ich fast täglich dabei sein, vielleicht aber auch in dieser Zeit noch manches notieren. Über Musikfestspiele ein Blog zu machen, bietet sich nicht unbedingt an. Es hätte keinen Sinn, zu wiederholen oder zu antizipieren, was in den Zeitungen stehen wird: wie die Orchester spielen und wie die Dirigenten die Werke interpretieren. Von letzterem wird vielleicht manchmal auch hier die Rede sein, worum es mir aber geht, sind die Werke selbst und vor allem der Komponist, dessen Werke im Zentrum stehen, weil er im März seinen 85. Geburtstag feierte - Pierre Boulez.

Boulez ist eine der ganz großen Figuren der Zeitgeschichte. In einem Konzert zu sein, wo er am Dirigentenpult steht wie jetzt am 17. und 18. September, das ist, als lebte man zur Zeit Beethovens und sähe diesen Mann. Ich wüsste nicht, wo ich im Jahr 2010 die Napoleons oder Metternichs aufzustöbern hätte, sehe da nur Funktionäre, die in den Geschichtsbüchern keine große Rolle spielen werden. Obama wäre natürlich die Ausnahme, doch auch er nicht deshalb, weil man ihm historisches Wirken zutraute, sondern "nur" weil die Wahl seiner Person zum Präsidenten einen Durchbruch markiert. Bei Boulez geht es umgekehrt ums Werk, das historische Bedeutung hat, und nicht um die Person. Natürlich steht er nicht ganz allein auf weiter Flur. Er ist Exponent der in den 1920er Jahren geborenen Komponistengeneration, die nach dem Verbrechen des Zweiten Weltkriegs eine radikal neue Musiksprache zu schaffen versuchte, wovon die so genannte serielle Musik der zukunftsweisende erste Niederschlag war.

Davon, was serielle Musik ist, wird noch die Rede sein. Heute will ich nur darauf hinweisen, dass sie am Anfang eines Weges stand, der dann nicht mehr verlassen wurde. So schreibt Lydia Jeschke: "Letztlich hat die serielle, an die Dodekaphonie Schönbergs oder Weberns anknüpfende Musik ihren Anspruch auf die alleinige Fortschreibung der Musikgeschichte nur für einige Jahre aufrechterhalten. Vor allem ihre puristischen Vertreter wurden vielfacher und berechtigter Kritik ausgesetzt. Gleichwohl sind die konstruktiven Verfahren der Komposition, die auf der Basis und im Kontext dieses Verständnisses einer musikgeschichtlichen Situation entwickelt wurden, gerade in der Verschiedenartigkeit ihrer Ausprägungen von weit verzweigter und in ihrer Nachhaltigkeit kaum zu unterschätzender Wirkung auf die kompositorische Produktion - bis heute", und es folgt ein Zitat des Komponisten Helmut Lachenmann: "Das serielle Denken [...], wie auch immer gescheitert, hat keinen von uns unberührt gelassen, ganz abgesehen davon, dass wir ihm faszinierende und anrührende Meisterwerke verdanken wie Stockhausens Gruppen, Nonos Il canto sospeso oder Boulez' Mallarmé-Musik." (Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1945-1975, Laaber 2005, S. 84) Letztere, das Werk für Sopran und Orchester Pli selon pli. Portrait de Mallarmé, wird am 19. September erklingen.

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Weitere Personen sind damit schon genannt, mit denen Boulez in einer Reihe gestanden hat. Die Darmstädter Internationalen Ferienkurse für Neue Musik waren nach 1946 der wichtige Brenn- und Treffpunkt jenes "Hauptstroms der Avantgarde" (Pascal Decroupet im erwähnten Band), zu dem sie gehörten. Auch der 2003 verstorbene Luciano Berio gehörte dazu. Ab 1953 hatte er teilgenommen und "äußerte [...] rückblickend, dass Stockhausen 'der theoretische Dreh- und Angelpunkt der Ferienkurse' gewesen sei, Pousseur 'die spekulative Maschinerie' und Boulez 'den analytischen Geist' beigesteuert, Maderna hingegen 'eine gütige Vaterfigur' verkörpert habe" (Imke Misch im Berio gewidmeten Heft 128 der Musik-Konzepte. Neue Folge, München 2005, S. 7). Es muss eine aufregende Zeit gewesen sein, in der zum Beispiel Adorno dozierte und sich einmal Stockhausens Kommentar anhören musste: "Herr Professor, Sie suchen ein Huhn auf einem abstrakten Bild." (Geschichte der Musik, a.a.O., S, 93)

Wir wollen jetzt ins Jahr 1968 springen. Da hat Berio, dem ein Nebenschwerpunkt des Musikfests gewidmet ist, seine Sinfonia für acht Singstimmen und Orchester in fünf Sätzen geschrieben. Sie steht im Mittelpunkt des Eröffnungskonzerts morgen um 20 Uhr in der Philharmonie. Ich will heute nur auf dieses halbstündige Werk hinweisen. Als ich mich in den letzten Wochen mit ihm bekannt machte, war ich wie elektrisiert. Man liest, es gehöre zu den meistaufgeführten der Moderne, mir war es aber noch nicht begegnet gewesen. Sein Mittelsatz ist eine lange, über weite Strecken wörtlich zitierende Paraphrase oder "Übernahme", wie man daher fast sagen kann, des 3. Satzes der 2. Symphonie von Gustav Mahler, dem seinerseits das Lied "Des Antonius von Padua Fischpredigt" aus dessen Wunderhorn-Liedern zugrunde liegt. Es geht also um einen, der den Fischen predigt, die sich das zwar gern gefallen lassen, aber doch nicht zuhören. Markus Bandur schreibt in seinem ungemein instruktiven Aufsatz über die Sinfonia (Musik-Konzepte 128, S. 95-109), Berio habe dem Unvermögen von Kunst Ausdruck gegeben, in die politischen Zeitläufte folgenreich einzugreifen.

Anhand der Partitur lässt es sich gut belegen. Berio zitiert nicht nur Mahler, sondern tausend andere Sachen von Beethoven und Schumann über Debussy und Strauss bis Stockhausen und Boulez, um nur einige Wenige zu nennen (!), alles in polyphoner Gleichzeitigkeit, und zitiert nicht nur Komponisten, sondern auch aus den Mythologica des Ethnologen Claude Lévi-Strauss und dem Roman Der Namenlose von Beckett. Ein Sprecher, den er auftreten lässt, setzt einen Beckett-Satz, in dem es um "Show" geht, mit von ihm ergänzten Worten fort: "Wir alle wissen, dass die Musik den Brotpreis nicht herabsetzen kann, nicht in der Lage ist, Kriege zu beenden (oder, was das anbetrifft, sie zu beginnen) und dass sie Elendsviertel und Ungerechtigkeit nicht ausrotten kann." (vgl. S. 98 f.)

Aber steckt nicht noch mehr darin? Wenn man die Sinfonia heute hört, erscheint sie als Spiegelung der vergeblichen Predigt der 68er Revolte selber. Solche Musik ist darüber geschrieben worden! Über ein Ereignis, das dadurch auch selbst als historisches gleichsam notariell besiegelt wird. Mögen heute Kleingeister an den 68ern herummäkeln, aus der zeitlich entgegengesetzten Perspektive derer, die ihre Jugend nach dem Zweiten Weltkrieg hatten, stellte es sich anders dar. Das war eine Revolte von Intellektuellen, die guten, sehr guten Grund zum Predigen hatten. Gleichsam die ganze Menschheits-Geschichte, von Berio in einem wahnwitzig dichten Mikrokosmos und Glasperlenspiel gebündelt, gab und gibt ihnen recht. Nur verstanden sie nichts von ihrer Gemeinde.

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Vielleicht komme ich morgen Nachmittag dazu, noch mehr über dies faszinierende Werk zu schreiben. In jedem Fall gibt es vor Samstag Abend einen Eintrag, wo zum ersten Mal Boulez gespielt wird. Heute Abend übrigens, als Einstimmung ins Musikfest, gibt das Keller (Streich-) Quartett Bachs Kunst der Fuge. Hören wir noch Berios Worte über Bach, die im Programmbuch des Musikfests zitiert werden; was er über ihn sagt, passt auch zu seiner Sinfonia, und das ist ihm bewusst:

"Bachs Kontrapunkt ist eine Meditation über die Vielfalt der Welt: er ist ein Blick, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft tief durchdringt. Er ist auch ein idealer Kontrapunkt. Denn noch heute lebt oder sollte Bach in uns leben, er passt sich uns an mit all seiner Größe und Macht, selbstreflexiv: wie der tiefe See in einer indianischen Erzählung, der sich auf wundersame Weise auf die Suche begibt nach seinen eigenen Quellen - den vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen."

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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