Ein Hauch von Hochbegabung

MaerzMusik 2014 "IQ" von Enno Poppe - warum er sich mit dem Intelligenztest in der musikalischen Variationenform auseinandersetzt. Vergleich mit den Haydn-Variationen von Brahms

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Ein Hauch von Hochbegabung

Screenshot: SWR

Ich will heute noch einmal auf Enno Poppes IQ. Testbatterie in acht Akten zurückkommen. Dieses Musiktheaterstück ist nicht zuletzt seiner musikalischen Form wegen interessant. Es handelt sich um ein Variationenwerk. Im Programmheft zur Uraufführung 2012 wird der ganz ungewöhnliche Entstehungsprozess beschrieben: Komponist, Regisseurin (Anna Viebrock) und Librettodichter (Marcel Beyer) fassen "den Entschluss, die von den Schwetzinger SWR Festspielen in Auftrag gegebene Oper nicht von einem (erzählenden) Stoff her zu konzipieren", sondern zunächst "eine musikalische Form auszuwählen" und der Form erst nachträglich einen Stoff zuzuordnen. Die Auswahl ist Enno Poppes Sache: Er "erarbeitete eine tabellarische Übersicht, die insgesamt acht Akte verzeichnete. Jeder Akt (mit Ausnahme des letzten) verfügte über vier identische Formteile, die sich, etwas vereinfacht, folgendermaßen beschreiben ließen: Ouvertüre, Rezitativ, Arie, Finale. Poppe schlug vor, die Dauer der einzelnen Formteile von Akt zu Akt nach einem von ihm entwickelten System zu variieren und auf diese Weise eine stete Veränderung der Proportionen herbeizuführen." (So Malte Ubenauf.)

Nun war der dazu passende Stoff zu finden. Wie es ein Theaterstück mit dem Titel "Sechs Personen suchen einen Autor" gegeben hat (von Pirandello), war es hier Marcel Beyers Aufgabe, das variationsfähige Sujet zu suchen. Da fragt man sich zunächst, welche Sujets denn den Variationswerken, die wir längst kennen, zugeordnet werden könnten. Die Frage ist nicht abseitig, denn es sind schon Werke absoluter Musik mit Ballett-Begleitung aufgeführt worden. Sie ist auch nicht so schwer zu beantworten. Bei Beethoven und Brahms wird in Variationenwerken oft ein Entwicklungsbogen gespannt. So werden Brahms' Haydn-Variationen und auch seine Klaviervariationen für vier Hände über ein Thema von Schumann am Ende breit und feierlich. Da kann man sich vorstellen, dass ein Leben erzählt wird. Die Variationen von Frederic Rzewski über ein chilenisches Kampflied („El pueblo unido jamás será vencido“) führen dieses durch verschiedene Musikstile, wo sich dann in der Chopin-Variation andere Bildassoziationen als in der Boulez-Variation einstellen - Paris im frühen 19. und im späten 20. Jahrhundert. In den Mozart- oder Hiller-Variationen von Max Reger stehen verschiedene musikalische Charaktere mehr gleichgültig nebeneinander, so dass man, wäre der Komponist nicht so akademisch trocken, an eine Reise "in 80 Tagen um die Welt" denken könnte. Dann gibt es auch noch Variationenwerke, in denen verschiedene Spieltechniken, -möglichkeiten und -fähigkeiten vorgeführt werden ("Diabelli" von Beethoven, "Paganini" von Brahms), zu ihnen mag man sich einen Zirkus oder einen Bazar vorstellen.

Bei Rzewski oder Reger, Beethoven oder Brahms hätte Marcel Beyer auf die Idee einer Abfolge von Intelligenztest-Aufgaben nicht kommen können. Deshalb schon einmal nicht, weil die Einheit aller Teile und Aspekte einer Komposition bei einem modernen Komponisten viel strikter ist als bei einem traditionellen, wie wir denn über Poppe gehört haben, er sei "nach einem von ihm entwickelten System" vorgegangen. Diese Striktheit schließt es auch aus, dass Thema und Variationen, wie es in allen erwähnten Werken der Tradition und auch bei Rzewski der Fall ist, gegeneinander gestellt werden. IQ ist ein Variationenwerk, hat aber kein Thema - oder wenn es eins hat, dann nicht als abgetrennten Anfang und Vorauswurf, sondern es bildet sich im Verlauf des Werkes als dessen eigene Färbung erst heraus. Dem entspricht Marcel Beyers Libretto insofern, als es einen Ablauf schildert, in dem mit geringen Verschiedenheiten hauptsächlich immer dasselbe passiert, es aber nicht auf der Hand liegt, was dieses Selbe ist - das muss man durch Erfahrung erst herausfinden. Und zwar bewegt man sich in einer Wiederholungsschleife und begreift irgendwann endlich, "was gespielt wird".

Was ist das beim Intelligenztest? So wie Marcel Beyer ihn darstellt, geht es in allen Einzelaufgaben darum, durch Zuordnung von Wort und Sache oder von Handlung und Sache etwas als das zu identifizieren, was es ist, also zum Beispiel die Farbe Blau durch das Wort "blau" oder die Operation der Teilung durch Vier durch das Falten eines Papiers in vier Teile. Ich nehme an, dass Anhänger und Experten des Intelligenztests gegen eine so simple Darstellung protestieren werden. Da es sich aber um Kunst handelt, kann man sie als Metapher begreifen: darauf bezogen, dass etwas in allen Aufgaben, die es überhaupt geben kann, wirklich nur Zuordnung zum Identischen ist. Und zwar ist dem Testprobanden in jeder Aufgabe die Grund- oder Querschnittsaufgabe gestellt, sich durch eine Handlung dem, was der Tester von ihm verlangt, gehorsam zu erweisen. Deshalb könnte man sagen, in jedem Intelligenztest werde neben allem anderen, war er sonst noch erweisen mag, immer auch etwas reproduziert und durch die Reproduktion erwiesen, was man die Gehorsamsintelligenz nennen könnte.

Das ist es, woraufhin Poppe komponiert hat. "Rückschlüsse auf die Intelligenz bietet der IQ nicht", schreibt er, und man mag das übertrieben finden. Rückschlüsse auf etwas wie regionale Intelligenz wird man doch ziehen können. Das Folgende ist aber beachtlich: "Dafür lässt sich umso mehr über die jeweiligen Erfinder der Tests erfahren. Die Frage, was für die Intelligenz für relevant erklärt wird und deshalb entsprechend gewertet werden soll, ist entscheidend über das Testergebnis. Wer erfindet also die Normen?" Es ist letztlich wie in der Schule: Man wird in Gegenden intelligent gemacht, die der Lehrplan eröffnet, und in anderen nicht. Und wer dem Lehrer nicht gehorcht, bleibt am sichersten sitzen. So war es jedenfalls früher, als die Schule mehr Macht als heute hatte. Beim Intelligenztest ist es heute noch so: Wer die Aufgaben nicht akzeptiert, kann nicht teilnehmen.

Wenn es das ist, was sich im Verlauf der Komposition als Thema der Variationen herausstellt, dann entsteht eine ganz eigene musikalische Verlaufslogik. Eine Logik der Entwicklung wie bei Brahms kann es nicht mehr sein. Wenn es dort, wie gesagt, "am Ende breit und feierlich wird", dann weil das eine Entwicklung ist, die füglich auf Vollendung hinausläuft. Voll-Endung: Dass eine solche nur am Ende stehen kann, sagt schon der Name. Wenn es nun stattdessen darum geht, dass einem immer dasselbe passiert, man aber lange nicht begreift, was das ist, dann wird die Erleuchtung irgendwann und plötzlich eintreten, ob eine Variation früher oder später, lässt sich nicht voraussagen. Als "Entwicklung" wäre das falsch bezeichnet.

Voraussagen könnte man es nur bei Kenntnis aller Bedingungen. Wenn man zum Beispiel wüsste, dass jemand musikalisch ist, dann würde man vermuten, dass die Erleuchtung in dem Moment eintritt, wo das, was ihm schon ständig passiert ist, nun einmal musikalischerweise passiert. So ist es bei Poppe der Fall: Als die Probanden aufgefordert werden, eine Tonfolge nachzuspielen, besteht ihr Nachspiel - ihre Zuordnungshandlung - darin, dass sie die Tonfolge variieren. Die "Variationsform" des Musiktheaterstücks erhält damit eine Metaebene. Sie haben also in der Tonfolge keinen Befehl gesehen. Wenn aber diese Aufgabe kein Befehl ist, dann auch keine andere Aufgabe. Sie sind also darauf gestoßen, dass die Frage, ob man dem Befehl gehorcht, immer schon d a s T h e m a war. Andere wären früher oder später darauf gestoßen, sie aber deshalb in gerade dieser Variation, weil sie musikalisch sind.

Einem der Probanden wird auch gleich klar, dass etwas Ungewöhnliches geschehen ist. "Ein Hauch von Hochbegabung", sagt oder singt er, "weht durch diese Räume hier, umweht Heizungslamellen und Lamellengardinen." Hier, wo er gar nicht hingehört, scheint er sagen zu wollen. Bei den noch folgenden Aufgaben kommt es zu Aufmüpfigkeiten. "Habe die eine oder andere Testerfahrung persönlich gemacht und muss sagen: Der Mann sieht die Ratte, die Ratte den Mann", äußert sich ein Proband. Man möchte gar nicht wissen, wie er das meint. Er sagt es zweimal. Nachdem die Testerinnen geklagt haben: "Versteht Aufforderungen - jedoch Betragen ziemlich schlecht", "Frech mit steigender Tendenz", hält er seinerseits "fest: Ich erkenne die Wirklichkeit an: den Testraum, den Tod und den fiebrigen Wachzustand."

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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