Es kann gut sein, dass man sich erst einmal entschuldigen muss, wenn man über Christian Wulff schreibt. Das Thema ist längst zu Tode geritten, und man fragt sich, ob es nicht von wichtigeren ablenkt. Andererseits, nicht wir – die Medien – haben es wieder hervorgekramt, sondern die niedersächsische Staatsanwaltschaft. Das ist wie ein Symptom: Ob man will oder nicht, das Thema blüht auf und bedeutet wohl etwas Unangenehmes. Wer weiß, ob nicht gerade das mit etwas anderem zusammenhängt, das von ihm selber verdeckt und verdrängt, also verheimlicht wird. Aber was könnte das sein?
Der erste Blick fällt auf die unangemessene Art, wie das Thema behandelt wird. Wir hören von Staatsanwälten, die Herrn Wulff des direkten Bestechungsdel
echungsdelikts überführt zu haben glauben. David Groenewold, der Filmemacher, hatte Kosten in Höhe von 770 Euro von ihm übernommen und ihn einen Tag später gebeten, sich für die Vermarktung eines seiner Filme einzusetzen, was der damalige Ministerpräsident von Niedersachsen auch gern getan hat. Die Staatsanwälte bieten dem Ex-Bundespräsidenten nun an, er komme an einem Prozess vorbei, wenn er eine bestimmte Geldsumme zahle. Seine Rechtsanwälte teilen mit, ihr Mandant verweigere sich dem Deal, denn „er habe sich nichts vorzuwerfen“.Viele InteressenDas ist die Meldung, und sie ist grandios. Die Staatsanwälte bieten Christian Wulff Gelegenheit, sich als verfolgte Unschuld darzustellen. Für 770 Euro soll er käuflich gewesen sein? Manche sagen zwar, politische Amtsträger verdienten zu wenig in diesem Land, doch zu behaupten, ein Ministerpräsident nehme ein schweres Delikt auf sich, um 770 Euro zu ergattern, das ist zum Lachen.Wulff sagt, er habe die Kosten erstattet. Er wird erklären, für den Groenewold-Film habe er sich aus Überzeugung eingesetzt. Wer will das bezweifeln? Es ist doch denkbar, dass er mit Groenewold aus Interesse am Film befreundet war, statt dass umgekehrt das Filminteresse sich aus der Freundschaft mit Groenewold ergab, nach deren pekuniärem Hintergrund man dann fragen würde. Oder dass beides zutraf.Wie das vor Gericht zu klären sein soll, bleibt unerfindlich. Das Problem ist aber überhaupt, dass es in die Irre führt, das Thema juristisch zu behandeln. Der Politiker ist doch nicht deshalb gestürzt worden, weil man ihn für einen Verbrecher gehalten hätte, sondern weil wir von so einem Mann nicht repräsentiert sein wollen. Das ist eine Frage der politischen Kultur. Da war einer Ministerpräsident und sogar noch Bundespräsident, dessen „Freundeskreis“ aus lauter Unternehmern bestand, in deren Ferienvillen er seine Urlaube verbrachte; gewählt wurde er aber nicht als Industrieverbandssprecher, sondern von allen Klassen und Schichten der Gesellschaft, unter denen die Unternehmer in der deutlichen Minderheit sind.Da liegt das Problem, und wir können es an Herrn Seibert, dem Regierungssprecher, veranschaulichen. Ob er die Politik der Kanzlerin aus Überzeugung verficht oder deshalb, weil er dafür bezahlt wird, ist uns egal. Natürlich unterstellen wir, er tut es aus Überzeugung. Der springende Punkt ist aber, dass er offen in der Rolle auftritt, die zu spielen er sich nun einmal entschieden hat. Von da an interessiert uns nur noch die Rolle. Mögen wir über Merkel noch so empört sein, die Sympathie für Herrn Seibert und natürlich seine Ehre bleibt unangetastet. Zurück zu Herrn Wulff. Sollte er sich politisch zum Sprecher der Unternehmer gemacht haben, weil das seiner Überzeugung entsprach, es war seine Sache. Sein häufiger Umgang mit ihnen, seine Urlaubsgewohnheiten mögen wir als Indiz für sein Überzeugtsein werten. Doch ist er als solcher Sprecher nicht offen aufgetreten. Wäre er es, er hätte nicht Bundespräsident werden können.Das ahnte er vermutlich selbst, war aber kein Mann von Format und hat sich so durchzumogeln versucht. Seine ganze Lebensart erschien kleinlich, ja peinlich, als sie bekannt wurde. So auch seine Ehe mit Frau Bettina, die er gegen die erste, älter gewordene Gattin austauschte und die ihm ihrerseits den Laufpass gab, sobald er gestrauchelt war. Wir wundern uns nicht über diesen Tausch Jugend gegen Status; auch nicht darüber, dass er dem Unternehmerfreund in ungewöhnlicher Härte begegnet ist. Auf Marktradikalismus hat er ja ohnehin geschworen.Man denkt nicht gleich an die Szene im Roman Elementarteilchen von Michel Houellebecq, in der die Frau, die den Helden in die Sexclubs mitnahm, nach denen er gierte, plötzlich an den Beinen gelähmt ist. Vorher hat sie ihn getröstet, weil er mit seiner anatomischen Ausstattung das Nachsehen hatte, jetzt sagt sie ihm, er brauche sich an sie nicht gebunden zu fühlen. Woraufhin er sie verlässt und sie sich aus dem Fenster stürzt. Von solcher Krassheit sind Wulffs Verhältnisse weit entfernt. Aber sie reichen aus, dass wir von so einem Paar nicht repräsentiert sein wollen.Ein typischer ZeitgenosseOder wenn, dann nicht in der Rolle eines Präsidentenpaares. Denn dass Wulff ein typischer Zeitgenosse ist, ist eh klar. Dann aber muss auch die Art, in der wir uns von ihm distanzieren, eine andere als die juristische sein. Die satirische wäre angemessen. Auch sie klagt an. Ja, Wulff ist tatsächlich Repräsentant, aber in der Art, wie Rameaus Neffe einer war. Diese Figur, die der Aufklärer Denis Diderot im 18. Jahrhundert in einem berühmten Dialog zu Wort kommen lässt, ist als Künstler so unfähig, wie Wulff es als Spitzenpolitiker war. Er selbst sieht das nicht ein, glaubt die Wiederverkörperung des bedeutenden Komponisten Jean-Philippe Rameau zu sein und ist doch nur ein Schmarotzer, der von der Gunst der besserverdienenden Kreise getragen wird. Auch diese Geschichte ist krasser als es Wulffs Geschichte war. Der war nicht in allem unfähig. Manches hat er gut gemacht. Aber „Weizsäckers Neffe“ wäre in seinem Fall ein guter Titel. Früher gelang es den Unionsparteien noch, seriöse Männer vorzuschlagen.Es bleibt die Frage, wofür sein Fall symptomatisch ist. Sind es nicht die schleichenden Angriffe auf die demokratische Verfassung im Zug der Finanzkrise seit 2008? In den Jahren 2010 bis 2012 war Wulff Bundespräsident. Von seinem Aufenthalt in den Ferienvillen der Unternehmer gibt es sicher Fotos. Doch das war auch jene Zeit, in der Teile der deutschen Elite über ein autoritäres Politikmodell nachdachten, um der Krise Herr zu werden. Solches Denken ist in Unternehmervillen auch zu Haus oder zu Gast. Nur lässt sich das sehr schlecht fotografieren.
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