Harte Arbeit, schlagender Kampf

MaerzMusik 2014 Der schlesische Weberaufstand 1844, 1894, 1927 und 2012. Warum Klaviere und Schlagzeug zusammenpassen

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Wie angekündigt, will ich noch einen Bericht über das Konzert vom Mittwoch vor einer Woche nachtragen, wo es um Schlagzeug und Klangfarben ging. Der Kammermusikabend wurde vom Ensemble Berlin PianoPercussion unter der Leitung von Ya-ou Xie bestritten. In allen fünf Werken für zwei Klaviere und Schlagzeug, die dargeboten wurden, sind erstere selbst wie Schlagzeug behandelt, oder tritt, besser gesagt, der Schlagzeugcharakter hervor, der Klavieren eigen ist. Und zwar in der Weise eigen ist, wie wir es von Neuer und neuester Musik kennen, dass nämlich die Zusammensetzung des Schlagzeugs von Werk zu Werk variiert, alles Erdenkliche zum Schlagzeug werden kann und man die ausgesuchtesten Klangfarben mit ihm erzeugt.

Dies alles kann nämlich vom Konzertflügel selber ausgehen, der nicht nur schwarze und weiße Tasten zum Anschlagen hat, sondern auch Holz zum Trommeln mit den Händen und Saiten, die auf verschiedenste Art gerieben oder gezupft oder auch "präpariert" werden können. Das "eigentliche" Schlagzeug wiederum hält nicht nur ebenfalls die überraschendsten Klangfarben bereit, sondern kann seinerseits verschiedene Tonhöhen einsetzen. Im Resultat hört sich dann ein Konzertstück für Schlagzeug und Klaviere so an, dass man bei geschlossenen Augen, ja manchmal bei offenen, gar nicht immer unterscheiden kann, welche Farbe vom Schlagzeug und welche vom Klavier herrührt. Beide Werke, mit denen begonnen wurde, Georg Katzers Exkurs über die Mechanik (2009) und Charlotte Seithers Running Circles (Uraufführung, 2011) hatten diesen Charakter. Dabei hätte ich mit Katzers Musik von mir aus nichts "Mechanisches" verbunden, doch was er selbst dazu schreibt, ist beim Hören nachvollziehbar: "Was das Sujet für mich immer wieder spannend macht, ist das Entstehen und Zerfallen von Ordnungen." 1935 geboren, war er Meisterschüler Hanns Eislers, jetzt beschäftigt er sich etwa auch mit Computermusik und Multimedia-Projekten. Der Exkurs ist eine eingängige Folge von Charakteren, wo es unter anderm eine Jazzszene gibt, die mit ihrer Hitze und wilden Vielfalt den Zwölftonjazz eines Alexander von Schlippenbach noch deutlich in den Schatten stellt.

Bei Katzer und Seither und auch bei den übrigen Werken, hier aber vielleicht besonders, bestach die hochkomplexe Polyphonie der Klangfarben. Jede Farbe tritt distinkt hervor und je nach Komposition stehen die Farben mal gegeneinander, mal überlagern sie sich, auch dann aber ohne wie bei Wagner miteinander zu verschmelzen. Der Vergleich mit Richard Wagner ist natürlich etwas anachronistisch, denn so neu und ungewöhnlich schon seine Klänge waren, werden sie doch mit klassischen Instrumenten erzeugt, während man heute für jede Komposition, was das Schlagzeug und seinen Einsatz betrifft, ein Instrumentarium eigens erfindet. Trotzdem muss Wagner zweifellos als Vater dieser Farbenfreude angesehen werden, die in der Musikgeschichte noch immer zu expandieren scheint. In seinem Buch über Wagner hatte Adorno in dessen Klangfarbenverschmelzung noch etwas wie einen Betrug am Hörer getadelt, eine Verbergung der eigentlichen Produktionsbedingungen des Klangs, doch dieses Urteil konnte nicht Bestand haben. Es ist vielmehr so, dass es der neuesten Musik bedarf, die Ohren so zu erziehen, dass ihnen Wagners Klänge durchsichtig und erst verständlich werden.

In die Welt der "Mechanik" führte eher noch Das Tripas Coracao (Uraufführung, 2013) von Arthur Kampela, geboren 1960 in Rio de Janeiro, der heute in New York lebt, 2012 Gast beim Berliner Künstlerprogramms des DAAD war. Der Titel, eine brasilianische Redensart, wird mit "fass dir ein Herz" oder "es schlägt mir auf den Magen" wiedergegeben und soll im übertragenen Sinn so viel wie "extrem hart arbeiten" bedeuten. Der Komponist tut auch etwas für die Augen, denn die Spieler wechseln beständig die Plätze und ihre Gesten sind zum Teil eingeübt. Der Eindruck "harter Arbeit" ergibt sich schon aus dem Tempo und der Komplexität der Musik, wo man die Spieler bewundert, dass sie nicht aus der Bahn geschleudert werden. Kampela, lesen wir, hat an die Szene aus dem Film "Goldrausch" (1925) gedacht, "in der Charlie Chaplin seine Schuhe aus Hunger verspeist, dabei aber Tischsitten beachtet und die Schnürsenkel-Spaghetti mit der Gabel aufwickelt". Ein Bild fürs Verhältnis der Musik zur sozialen Realität - fortdauernde Kultur, wenn der Tisch zu nichts einlädt, wie in Picassos frühem Gemälde "Mutter und Sohn" von 1905.

Auf dem Programm standen außerdem Cyan von Oliver Schneller und L'Éclair d'après Rimbaud von Hughes Dufort, Werke, die den anderen Werken an Faszinationskraft nicht nachstanden. Es ist ein Jammer, dass man nur selten Gelegenheit hat, ein Werk aktueller Musik später nochmals im Konzertsaal zu hören. Am Besten wäre es dann doch, sie am Konzertabend selber zweimal zu geben, wie es zu Beethovens Zeit noch geschah.

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In den letzten Tagen des Festivals hatte ich viel Pech, denn ich verpasste ein Konzert aus Erschöpfung, ein weiteres, weil in Berlin mindestens zwei Kirchen nach Paul Gerhard benannt sind, und ein drittes, für das ich gar keine Karte hatte, was ich auch erst am Aufführungstag entdeckte. Ich kann also diesmal nicht sagen, ich hätte alle Höhepunkte des Festivals miterlebt. Die Leserinnen und Leser müssen dies Pech aber nicht teilen, denn wenn man einmal anfängt, über Musik zu sprechen, gerät man eh in Ausführlichkeiten, die das Eingehen auf viele Werke gar nicht erlauben. Will sagen, ich hätte sowieso nicht über alles schreiben können.

Am Sonntag im letzten Festivalkonzert sah und hörte ich Die Weber von Johannes Kalitzke: einen Musikzyklus (2012) zum gleichnamigen Stummfilm von Friedrich Zelnik (1927) nach dem gleichnamigen Drama (1893/94) von Gerhard Hauptmann. Hätte ich die Musik isoliert gehört, wäre ich wohl weniger beeindruckt gewesen. Sie ist über weite Strecken der Hörerfahrung und -erwartung tonaler Musik sehr nahe. Diese Musik will aber an ihrer Aufgabe gemessen werden. Es ist eben Musik zu laufenden Bildern. Dabei gibt es etwa "Anklänge an Arbeiterlieder im Stile Kurt Weills und Hanns Eislers", aber auch "elektronische Samples", die "das Surren mechanischer Webstühle aufgreifen und als Farben in die Musik integrieren". Filmmusik ist auch sonst so, dass sie sich ans Hörenkönnen aller denkbaren Zuschauer anpasst. Was mich an Kalitzkes Musik zweifeln lässt, ist mehr etwas Anderes: dass sie vielleicht zwischen den Stühlen sitzt - für eine isolierte Aufführung als "Musikzyklus" zu leicht, als Filmbegleitung eher zu schwierig ist.

Die Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass man schon extrem viel damit zu tun hat, den Bildern eines Kunstfilms zu folgen. Tritt er mit solcher Musik zusammen auf, kommt man in die Lage zu begreifen, dass Filme selbst schon eine polyphone Kunst sind. Denn was käme nicht an Sinneffekten im kürzesten Moment zusammen, wenn man sich aller Gesten, Gesichtsausdrücke, Körperbewegungen im Bruchteil einer Filmminute bewusst werden könnte. Dem tritt nun Musik mit ebenso komplexer, aber ganz anderer Polyphonie zur Seite! Das ist nicht wie bei der Oper, wo die Musik sich doch nur am Text orientiert, der gesungen werden soll, ja wo der Rhythmus der Wörter in die Musik eingeht und schon dadurch eine Brücke zwischen den Kunstgattungen geschlagen wird. Mich hat deshalb der Abend angeregt, über Filmmusik generell nachzudenken. Filme mit moderner Musik zu begleiten, ist eine reizvolle Idee. Aber vielleicht sollte die Begleitung nicht durchgängig sein, oder man könnte sich vorstellen, dass sie über weite Strecken nur aus einem ein- oder zweitönigen "Rezitativ" besteht und sich nur in wenigen Szenen zum Orchestertutti steigert. Das käme sowohl der klassischen Oper als auch dem klassischen Film nahe.

Von Arnold Schönberg gibt es die Begleitmusik zu einer Lichtspielszene op. 34, Kalitze hat sich wahrscheinlich an ihr orientiert, zumal auch die Entstehungszeit passte, 1930. Diese Musik illustriert die Schwierigkeit, denn, so Clytus Gottwald: "Die Besetzung - kleines Orchester mit etwas stärker besetztem Schlagzeug - nimmt zwar Rücksicht auf die Möglichkeiten eines größeren Filmtheaters, doch wird auch Schönberg sich darüber im klaren gewesen sein, dass die verwickelte Schreibweise der Musik ihrer praktischen Verwendbarkeit im Wege stand. Die Uraufführung [...] fand darum auch im Rahmen eines Konzertes [...] statt." Schönberg hatte allerdings nicht einen bestimmten Film begleiten wollen, sondern sich nur überhaupt die Aufgabe gesetzt, "drohende Gefahr, Angst, Katastrophe" filmpassend zu vertonen, Worte übrigens, mit denen man viele, wenn nicht die meisten seiner größeren Werke charakterisieren kann. Ein Filmkomponist, der Angst suggerieren will, hätte hier ein Vorbild und eine Fundgrube.

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An Kalitzkes Werk ist das Zusammentreffen der Zeitebenen interessant. 1844 schlesischer Weberaufstand, 1894 Hauptmanns Version, 1927 folgt Zelnik, 2012 Kalitzke - das "Original" und die drei Bearbeitungen gehen zusammen, weil es jedesmal um Arbeiterausbeutung geht. Hauptmanns "Schauspiel aus den vierziger Jahren" ist natürlich ungebrochen aktuell, auch wenn heute nicht mehr in Heimarbeit gewebt wird und man die vorgeführte Verelendung weniger in Deutschland antrifft als in Bangla Desh, dort dafür umso mehr. Und doch verschieben sich die Perspektiven. Für 1844 sei Karl Marx zitiert, der diesem Aufstand einen Fortschritt attestiert den bisherigen in England und Frankreich gegenüber, denn: "Nicht nur die Maschinen, diese Rivalen des Arbeiters, werden zerstört, sondern auch die Kaufmannsbücher, diese Titel des Eigentums, und während alle anderen Bewegungen sich zunächst nur gegen den Industrieherrn, den sichtbaren Feind kehrten, kehrt sich diese Bewegung zugleich gegen den Bankier, den versteckten Feind." Auch vom Weberlied, das im Zentrum des Schauspiels von Hauptmann stehen wird, spricht sein Artikel vom 10. August des Pariser "Vorwärts!" und sieht es durchaus nicht mit Hauptmanns Augen: "diese kühne Parole des Kampfes, worin [...] das Proletariat sogleich seinen Gegensatz gegen die Gesellschaft des Privateigentums in schlagender, scharfer, rücksichtsloser, gewaltsamer Weise herausschreit". (MEW 1, S. 404)

Im Weberlied wird das Leben der Arbeiter als über sie verhängtes Foltergericht beschrieben. Es legt natürlich die Umkehrung in ein anderes Gericht, das über die Ausbeuter, nahe. Hauptmann arbeitet sehr deutlich diese Vorstellung von "Revolution" heraus: jüngstes Gericht über die Ausbeuter, in dem es darum geht, sie zu töten, wonach dann, wie man glaubt, die besseren Zeiten anbrechen. Den Schluss des Schauspiels, wo ein alter Weber, der sich am Aufstand nicht beteiligen will, von einer irrenden Kugel an seinem Webstuhl erschossen wird, pflegt man, glaube ich, misszuverstehen. "Mein ist die Rache, spricht der Herr", ist seine Begründung der Nichtteilnahme. Das sagt nicht bloß, dass man lebensgefährlich naiv sei, wenn man in solchen Zeiten bei religiösen Sprüchen bleibe statt zu handeln. Vielmehr hat "der alte Hilse" den Schwachpunkt des Aufstands aufgespießt - die Sinn- und Perspektivlosigkeit der Rache. Wenn Marx das auch gesehen und darüber geschrieben hätte, dass Revolutionen dazu da sind, Verhältnisse zu ändern, nicht aber zum Gerichthalten, das wäre extrem wichtig gewesen für die Geschichte der Arbeiterbewegung.

Für Kalitzke steht es wieder im Zentrum, doch unbegriffen: "Je umfassender der Widerstand", schreibt er resignativ, "desto weniger Räume für die Regulative des Gewissens bleiben offen". Nein, wahrscheinlich liegt es nicht am Widerstand, sondern an dessen Vermengung mit religiös aufgeladenen Rachewünschen, die nicht sein müsste. Diese Vermengung hat ja schon in der Französischen Revolution eine Rolle gespielt, deren erster Agitator ein Priester war. Man kann sagen, sie hat damals die Revolutionsgeschichte begründet. Sie war auch vorbereitet in den Schriften der Aufklärer, wozu Näheres bei Reinhart Kosellek (Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt/M. 1973).

Wer den Film 1927 gesehen hat, hat an den kommunistischen Arbeiteraufstand gedacht, dessen Bevorstehen gefürchtet oder gewünscht wurde. Dass eine Revolution kein Gericht sein muss, ist damals so wenig gedacht worden, dass die Vermengung gar nicht ins Bewusstsein trat und umso mehr nach ihr gehandelt wurde. Der Film zeigt sie zwar deutlich genug, doch dass es den damaligen Zuschauern bewusst wurde, darf sehr bezweifelt werden. Die Revolution als blinder, blind machender Fleck, es ist noch heute nicht anders.

Ich habe auch dieses Jahr allen Grund, mich für die spannende MaerzMusik bei den Veranstaltern zu bedanken.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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