Materialkunst

Musikfest 2012 Die Sinfonie Holidays von Charles Ives

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In den Konzerten am morgigen Donnerstag und am Samstag / Sonntag stehen die beiden großen Sinfonien von Charles Ives auf dem Programm, für mich der Höhepunkt des Musikfests: am Donnerstag A Symphony: New England Holidays und am Wochenende die Sinfonie Nr. 4. Gut, dass Holidays, worüber ich heute ein paar Worte sagen will, zuerst kommt, denn diese Sinfonie ist ein bisschen weniger komplex. Manchmal wird sie als symphonische Suite bezeichnet, weil die vier Sätze unabhängig voneinander komponiert und erst nachträglich zusammenstellt wurden. Sie behandeln die großen patriotischen Feiertage der USA: Washington's Birthday (komponiert 1909), Decoration Day (1912), The Fourth of July (1911-13) und Thanksgiving (1904). Als Gesamtwerk wurde die Sinfonie erst 1954 uraufgeführt, im April, einen Monat vor dem Tod des Komponisten. Die Sätze sind locker aneinandergereiht, bilden aber dennoch eine Einheit, denn erstens werden vom Winter bis zum Herbst die vier Jahreszeiten durchschritten, weil sich die Festtage über sie verteilen. Zweitens ist der sinfonische Aufbau doch nicht ganz negiert, Decoration Day zum Beispiel könnte als "langsamer Satz" gelten.


Dieser Satz nimmt den Hörer am schnellsten ein. Der Decoration Day, heute Memorial Day genannt und von Präsident Nixon zum Feiertag erhoben, ist der Gedenktag für die Gefallenen. Dabei muss man sich dessen bewusst sein, dass Ives diese Musik vor dem Ersten Weltkrieg komponierte: Er konnte nur die Gefallenen des amerikanischen Bürgerkriegs vor Augen haben. Seit dessen Ende wird Decoration gefeiert und gilt den Toten beider Kriegsparteien. So versteht man, dass Ives' Musik nicht triumphal daherkommt und auch auf Pathosformeln nicht zurückgreifen muss. Es ist Trauer und Melancholie. Melancholie mehr noch als Trauer: als wenn Klänge, die nicht mehr wirklich sind, aus weit zurückliegender Vergangenheit herüberwehen. Gegen Ende bricht ein Militärmarsch ein, doch gleich nach seinem schmetternden Ende kehrt der leise melancholische Ton wieder, oder tritt als dauernde Grundlage der ganzen Szene erneut hervor. Das ist ein ergreifender Moment.


Wenn es darum geht, Ives' Kompositionsweise zu begreifen, ist der folgende Satz noch wichtiger. Ive's Musik ist grob gesagt eine Zusammenfügung von Melodie-Zitaten. Das kann man schon in Decoration Day hören, doch da läuft alles noch sehr übersichtlich ab, der erwähnte Militärmarsch zum Beispiel kann schmettern, ohne dass andere Musik sich einmischt. Fourth of July dagegen ist ein fast ständiger Zusammenklang von drei und mehr Melodiebruchstücken. Viel polytonale Dissonanz ist die Folge. Man wundert sich, dass man kein bloßes Chaos hört, sondern doch irgendwie einen geordneten Ablauf, ja dass ein elektrisierender Gesamtklang entsteht. Wie hat Ives das bewirken können? Ein Mittel ist, dass zwei Melodien dominieren ("Oh, Columbia", das Militärsignal "Reveille"), ein anderes, dass einige Melodien laut im Vordergrund, andere leiser und ganz leise im Mittel- und Hintergrund vorbeiziehen. Ein drittes, dass ein und dieselbe Melodie mal ganz, mal fragmentiert erklingt. Vor allem hat Ives seine eigene Art, die Zitate miteinander zu verknüpfen. Das hört man nicht unmittelbar, doch der Effekt teilt sich mit: Er hat die Melodien so ausgewählt, dass es ihm möglich war, melodiösen Ähnlichkeiten aufeinander zu beziehen und Strukturen übereinanderzulegen. (Vgl. Wolfgang Rathert, Charles Ives, Darmstadt 1989, S. 86 ff.)


Ich habe schon im ersten Eintrag des diesjährigen Musikfest-Blogs von Ives gesprochen und da von meinem Höreindruck, dass seine frühen Kompositionen Melodiezitate in einem Außenraum europäischer Tonalität situieren, wo sie irgendwie verloren erscheinen: in etwas "geworfen", das sie nicht ausmessen können und das ihnen wohl auch nicht angemessen ist. In dieser ersten Phase gibt es keine Reibung der Zitate zur polytonalen Dissonanz. Die spätere Phase, hiermit verglichen, kommt einem Umsturz gleich: Jetzt haben die Zitate den Außenraum abgeworfen, sind nur noch selbst da; sie selbst in ihren Bezügen aufeinander sind der einzige Raum, den es noch gibt. Sie erklingen nicht nur nacheinander, sondern auch gleichzeitig, also ist es ein Raum - der sich von Europa emanzipiert hat.


Es gibt dennoch Parallelen zu europäischen künstlerischen Entwicklungen. Mir scheint nämlich, man kann die Art, wie Ives Melodien zitiert, mit der "Materialkunst" des sowjetrussischen Malers Wladimir Tatlin vergleichen. In dessen Gemälden tritt Farbe nicht bloß "als Wert innerhalb einer chromatischen Skala auf", sondern "als eigenwertiges Material" (Verena Krieger, Von der Ikone zur Utopie. Kunstkonzepte der Russischen Avantgarde, Köln Weimar Wien 1998, S. 158). "So wird der Betrachterblick von der Gegenständlichkeit des Bildes auf die Fakturierung der Farboberfläche abgelenkt." In den Worten des zeitgenössischen Kunstkritikers Nikolaj Punin: "Farbe ist objektiv gegeben, sie ist Realität und Element; Farbbeziehungen stehen nicht in Abhängigkeit von räumlichen Beziehungen, die in der Wirklichkeit existieren." (S. 159 f.) Anders gesagt, die "einzelnen Lokalfarben" sind nicht "mit einem das Bildganze zusammenhaltenden Farbton vermischt" (S. 158) Das ist ein ganz eigener sozialistischer Realismus - nicht das, was man seit Stalin darunter verstand.


Genauso könnte man von einem US-Realismus bei Ives sprechen, der die Melodien und ihre Bezüge "als eigenwertiges Material" behandelt und so zitiert, statt bloß wie eine Folge von Notenwerten der Partitur, die man hören oder auch lediglich lesen kann. Hier sind Melodien nicht bloß Bewusstseinsinhalte, die ausgesprochen werden oder auch nicht, sondern real erlebte Wirklichkeiten, Szenen der Straße oder typisch auf Musik bezogener Räume wie der Kirche. Dass Ives Wirklichkeiten zitiert, wird in Fourth of July noch besonders dadurch verdeutlicht, dass am Ende, zum krönenden Abschluss des Unabhängigkeitstags - der als Tag auch musikalisch konzipiert ist, also von der leisen Morgendämmerung bis zur Nacht begleitet wird, und übrigens vom Standpunkt eines Kindes, das alles auf sich wirken lässt -, ein Feuerwerk geräuschvoll in Töne gesetzt wird. An dieser Stelle des Geräuschs angelangt, fällt einem natürlich John Cage ein, der schon in frühen Kompositionen auch ganz unmelodiöse Straßengeräusche verarbeitet.

Das Konzertprogramm vom Donnerstag abend enthält neben der Sinfonie Holidays Aaron Coplands Orchestral Variations (komponiert 1957) und Morton Feldmans Piano and Orchestra (1975). Michael Tilson Thomas dirigiert das London Symphony Orchestra.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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