Schneewittchens Spiegel

MaerzMusik 2014 Zwei Beispiele einer Musik für Stimme und Ensemble, die an die Stelle der traditionellen Konzertmusik für Instrumentalsolisten und Orchester tritt

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Das Konzert gestern Abend in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz löste ein, was die Ankündigung des Festivals versprochen hatte: Es wurden junge, teils ausländische Komponisten vorgestellt, "die temporär oder langfristig nach Berlin gezogen sind", weil die Stadt sie magnetisch anzog. Berlin wurde so zum kosmopolitischen Treffpunkt auf dem Feld zeitgenössischer Musik. Dasselbe Konzert machte auch anschaulich, dass diese Berliner Subkultur, die es neben so vielen anderen Subkulturen gibt, sich nicht bloß auf die klassischen Aufführungsorte wie Philharmonie und Konzerthaus bezieht, sondern sich eine eigene musikalische Kartographie geschaffen hat. Die Volksbühne ist ja für Musik kein gewohnter Aufführungsort. Seit Jahren verstreut die Festival-Leitung Konzerte über die ganze Stadt. Nicht wenige finden etwa im Berghain statt, von dessen Innenraum das Foto des MaerzMusik-Portlets (auf der Hauptseite von freitag.de) eine Ahnung vermittelt.

"Diverse Stämme musikalischer Stadtnomaden", lesen wir im Essay von Barbara Barthelmes und Matthias Osterwold, "frequentieren die Tempel der Hochkultur in der Mitte der Stadt" wie aber auch "die zu Konzertstätten umfunktionierten Kirchen". "Gebäude aufgegebener industrieller Fertigung wurden zu unzeitgemäßen Musikinstituten und musikalischen Exploratorien." "Gerade das Neben- und Miteinander dieser Orte, die Fluktuation [...] zwischen Underground [...] und Hochglanz, zwischen öffentlichen, halb-privaten und privaten Räumen erzeugt diese in den Gesprächen immer wieder beschworene, funkenschlagende Reibung". Noch mehr verallgemeinert, haben ausgerechnet die in Berlin "zwangsläufigen Reibungen, Verwerfungen, Lücken, Risse und Spalten, die stadträumlich in Gestalt von unzähligen Brachgeländen, ruinöser, verwahrloster Gebäude und fehlender Verkehrsverbindungen ihre sichtbare Entsprechung finden", die Entstehung einer Kultur der Kreativen begünstigt.

Die Aufführung in der Volksbühne führte denn auch zu einem Austausch von Podium und Publikum, der in der Philharmonie nicht vorstellbar wäre. In der Philharmonie wurde vor ein paar Jahren viel Boulez gespielt: Sie war schlecht besucht. Sicher auch deshalb, weil das kein Ort ist, von dem sich das Publikum Neuer Musik angezogen fühlt. Die Volksbühne hingegen war fast ausverkauft. Besucher des sonst üblichen Volksbühnen-Theaters dürften dazu beigetragen haben. Und ausgerechnet hier wurden zwei aktuelle Kompositionen mit Bravorufen gewürdigt, wie ich es anderswo nie erlebt habe.

Eine Komposition wie Karakuri Poupée Mécanique für Stimme und Ensemble von Ondrej Adámek (2011) war aber auch geeignet, sie anzulocken. Die "Stimme" ist ein Entertainer, der mit hart gesprochenen französischen Wörtern wie gesttttte, justtte, ttttire, mit viel Gestik und selten mit Melodien jongliert. Das ist schon für sich genommen ein Vergnügen wie im Zirkus. Die Musik dazu setzt eine interessante Idee beeindruckend um: "Ausgangspunkt für den ersten Satz war meine Vision von Hisashaige Tanaka, dem Erschaffer der Puppen, wie er vor seinem Spiegel die Posen eines jungen Bogenschützen nachahmt, um eine genaue Vorstellung davon zu bekommen, wie die Puppe sich bewegen soll", schreibt der Komponist. "Der Gesangspart greift [...] diese Pantomimik auf, und das Ensemble übernimmt die Rolle des Spiegels." Bloß eine literarische, keine musikalische Idee, möchte man meinen, aber weit gefehlt. Nein, es ist eine neue Variante des Typs "Konzert für Soloinstrument und Orchester". Dieses erzählt schon üblicherweise davon, wie ein Violine oder Klavier spielendes Individuum mit der Gesellschaft ringt. Hier in Adámeks Konzert tritt der Mensch, der seine Stimme und seinen Körper einsetzt, und zwar puppenanalog einsetzt, ohne Instrumenten-Hülle hervor.

In der Tat "spiegelt" das Ensemble seine Vorgabe und tut es vordergründig auf mechanische Weise. Wenn etwa das Wort justtte vorgegeben ist, reagieren die Streicher mit Stoßlauten ungefähr gleicher Länge. Die sind allerdings vielstimmig und ihre Klangfarbe ist ungewohnt. So treten sie aus der Mechanik heraus. Sie lassen sich vom Individuum etwas sagen, um ihm ihrerseits etwas zu sagen. Dieser Spiegel hat Botschaften wie der von Schneewittchen. Das Ensemble nimmt von der „Stimme“ die Struktur auf, analysiert und kommentiert sie und gibt sie so zurück. Wenn das Individuum willens und fähig ist, über sich selbst nachzudenken, kann es das jetzt tun. Ein mechanisches Bild erhalten wir witzigerweise am ehesten vom Dirigenten (Titus Engel mit dem Ensemblekollektiv Berlin), der seine Arme ja dirigententypisch bewegt, während neben ihm der Solist Bewegungen probiert, "die die Puppe ausführen soll", also "Arm gerade nach vorn gestreckt", "der rechte Unterarm fällt" und so weiter.

Adámek, geboren in Prag, ist 34 oder 35 Jahre alt. Ungefähr so alt sind alle Komponistinnen und Komponisten des Abends. Sie bedanken sich für den Beifall, Typen, denen man überall begegnen könnte.

Einen interessanten Kontrast zu Karakuri bot die Komposition Fluss für Sprecher und Ensemble von Sergej Newski (2003/05), dessen Heimatstadt Moskau ist. Hier stößt der Sprecher unartikulierte Laute der Aufregung und hellen Angst aus. Nur selten gelingt es ihm, zu sprechen, dann sagt er Sätze wie "My mother was a manic-depressive", "Hurt is universal", "To feel nothing was peace", die aus einer Kurzgeschichte von Harmony Korine zitiert sind. Auch ihm wird vom Ensemble der Spiegel vorgehalten, das geschieht aber nicht analytisch wie bei Adámek, sondern emphatisch und ordnend. Den Schmerz, ja die Panik des Solisten hat auch die Ensemblemusik angenommen, davon aber, dass sie als Konstruktion und Zeitfolge geordnet ist, geht Tröstung oder doch Beruhigung aus. Das ist sicher kein religiöser Trost. Man kann an eine Tröstung denken, wie Mela Meierhans sie am Sonntag vorgeführt hatte: dass es ein Ritual gibt, demzufolge man eine Woche lang trauert, viele gemeinsam sich der Toten erinnern und mit ihrem Werk auseinandersetzen. Wenn es in einer Gesellschaft gut läuft, dann gibt es solche Umfelder für Verzweifelte. Sie lassen sich mitverletzen und werden als geordnet bleibende Umfelder jetzt erst, in den schlimmen Situationen, richtig bemerkt.

Erstaunlich daran ist, dass man ähnlich über Johann Sebastian Bachs Passionsmusik sprechen könnte. Die öffnet sich auch dem Schmerz und beruhigt dadurch, dass sie ihn geordnet erzählt. Da wir geübter sind, tonale als atonale Musik anzuhören, neigen wir dann dazu, Bachs Konzeption als altmodisch anzusehen. Bei ihm nämlich nehmen wir die Ordnung wahr und meinen sie als theologische leicht abtun zu können. Der christliche Kosmos sei nach Bachs Zeit zerbrochen, sagen wir. Ja, aber die Ordnung, mit der wir es zu tun haben, ist zunächst einmal eine musikalische Ordnung. Und da muss man sagen, ein Komponist wie Newski, der mit Helmut Lachenmann und Beat Furrer verkehrt, wie im Programmzettel zu lesen, ordnet noch viel strikter als Bach. Die äußerst enge Kohärenz Neuer Musik direkt zu hören, überfordert uns zwar, teilt sich aber doch irgendwie mit und dann entsteht dieser Tröstungseffekt, von dem ich sprach. Da fragt man sich, ob nicht Bach, der über weniger Ordnungsmittel verfügte, deshalb viel eher von Zerrissenheit zeugen können müsste als ein Newski mit seiner höheren Kohärenz-Fähigkeit und auch -Nötigung. So verhält es sich nicht. Im Gegenteil, Newski erschüttert stärker. Umgekehrt kann dann aber nicht daraus, dass Bach seine Musik ordnet, geschlossen werden, dass er kosmisch vorgegebene Haltegeländer vertont.

Bachs Musik ist tonal, orientiert sich also an Grundtönen. Die Grundtöne galten als Sinnbild eines immer schon vorhandenen Weltgrundes. Wer verbürgt aber, dass ein Weltgrund sich hergibt zum Geländer für Menschen? Das Christentum will es verbürgen. Die musikalische Grundton-Ordnung als solche verbürgt es nicht.

Morgen berichte ich weiter von diesem Konzert und dann auch vom Konzert am Mittwoch.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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