Summertime

Musikfest 2012 Aus der Neuen Welt - die 2. Sinfonie von Charles Ives als Einführung in die US-amerikanische Musik

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Heute Abend beginnt das Musikfest Berlin 2012 und dauert bis zum 18. September. Die Idee, sich ganz überwiegend auf die USA zu konzentrieren, ist wahrscheinlich eine Folge des Dilemmas, dass John Cage, dessen 100. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird, schon in der Berliner MaerzMusik ausführlich gewürdigt worden war. Wenn das nun nochmals geschehen sollte, musste die Perspektive variiert werden. Sie ist dahin verschoben, dass wir durch Cages Musik hindurch sein Heimatland erleben: Wir hören am 12. September das Orchesterstück Apartmenthouse 1776, Cages Beitrag zur 200-Jahr-Feier der USA, in dem er, so das Programmheft, "die religiösen und musikalischen Prägungen der Gründerjahre Nordamerikas - protestantische, sephardische, indianische und afroamerikanische Lieder - versammelt". Aber Cage ist nur ein Prisma unter vielen. Geboten wird "eine Tour d'horizon durch die amerikanische Musikwelt, die von Charles Ives bis zu Samuel Barber, Aaron Copland und Morton Feldman reicht, mit Werken der Exilanten Schönberg, Strawinsky und Rachmaninow, mit Stockhausens Hymnen mit Orchester - die er John Cage, den New Yorker Philharmonikern und dem amerikanischen Volk widmete - und Hans Werner Henzes 'kubanischer' Sechster Symphonie".

Das Konzept ist ausgezeichnet und das Programm so reichhaltig, dass der Schreiber dieser Zeilen gar nicht alle Konzertabende besuchen kann, die ihn anlocken. So schon das Eröffnungskonzert heute Abend, das wie billig mit Charles Ives, "dem Grand Old Man der amerikanischen Musik", beginnt. Dirigieren wird Kent Nagano. Auf dem Programm steht unter anderm Ives' Symphony No. 2, ein interessantes Werk und eine gute Einführung in die musikalische Problematik dieses Komponisten, obwohl seine No. 4 und die Sinfonie Holidays noch weit interessanter sind. Deren Aufführung in der nächsten Woche will ich besuchen und von ihr berichten. No. 2 ist ein Werk des Übergangs. Sehr stark noch von der europäischen Tradition geprägt, mit Anspielungen auf Brahms und Wagner, ist es doch auch beim Eigenen schon angekommen, einer besonderen Art und Weise, Zitate amerikanischer Musik nicht nur hörbar zu machen, sondern als sinfonisches Strukturmodell zu verwenden. Das Aufregende der genannten späteren Sinfonien, verschiedene Zitate gleichzeitig erklingen zu lassen, so dass man etwa meint, eine Blaskapelle ziehe vorbei und dabei höre man auch Klänge, die aus den Fenstern anliegender Wohnzimmer herunterwehen, wird hier noch nicht geboten. Aber eben deshalb eignet sich die Zweite zur Einführung: Sie "ist nicht ohne Grund das am besten untersuchte Werk hinsichtlich des Zitatgebrauchs", schreibt Wolfgang Rathert, weil in ihr "die Zitat-Verwendung, da innerhalb einer traditionellen Ausdruckshaltung erprobt, noch überschaubar" sei (Charles Ives, Darmstadt 1989, S. 99).

Als Europäer kennt man die Zitate nicht und erlebt sie nicht als solche. Wenn ich sagen soll, was ich erlebe: Ich nehme Melodien wahr, teils heitere, teils pathetische - das sind die Zitate -, die ins Gefüge europäischer Tonalität wie in eine Halle von unendlichen Ausmaßen hineingeraten sind, ja "geworfen sind" in dem Sinn, den die Existenzphilosophie diesem Terminus gegeben hat. Ives lebte zwischen 1874 und 1954; No. 2 komponierte er in den Jahren 1907 bis 09. Zur selben Zeit, da europäische Komponisten an den Grenzen der Tonalität rütteln oder bereits dabei sind, sie zu überschreiten, nimmt Ives sie als eine fremde Welt wahr, die zur eigenen geworden ist und allererst erkannt, das heißt ausgelotet sein will. Obwohl im Bewusstsein des Klischees, kann ich beim Zuhören nicht anders, als ans Monument Valley mit seinen Megalithen, den einsamen Tafelbergen zu denken, das man aus John Ford- und anderen Filmen so gut kennt. Alle Richtungen sind frei zugänglich, aber welche schlägt man nun ein? Überhaupt scheint es, dass sich amerikanische Filmmusik auch am frühen Ives ein wenig orientiert haben muss.

Ein Gefühl der Grenzenlosigkeit also, die bei Ives aber nicht bedrohlich erscheint wie in Wagners Tristan-Vorspiel, sondern eine dankbar und fassungslos angenommene Heimat ist. Zum Vergleich kann auch an die Gemälde des großen amerikanischen Künstlers Edward Hopper erinnert werden, das ist weniger klischeehaft. Sie zeigen häufig Menschen, die durchs Fenster ins Helle schauen oder geradezu vor ihrem Haus stehen wie die junge Frau in Summertime, 1943, die sich so der grellsten Mittagssonne ausliefert. Das Modell Vermeer dürfte zugrunde liegen: Lichteinfall durchs Fenster als Metapher der Inspiration, der Verbundenheit mit transzendenten Quellen des Geistes; nur wird dies Licht bei Hopper so heiß, dass man fürchten muss, es verbrenne die Menschen, statt sie noch zu inspirieren. Ist es aushaltbar, mit so viel Licht beschenkt zu sein? Mir scheint, dass auch Ives sich die Frage gestellt haben muss. An unanswered question heißt eine kurze Komposition, die wohl seine bekannteste ist. (Sie steht nicht auf dem Programm.)

Dankbar und fassungslos ist Ives' Musik, aber auch melancholisch. Es ist schade, dass das Musikfest nicht noch früher ansetzt: bei seiner 1. Sinfonie und sogar schon vorher bei der Sinfonie Aus der Neuen Welt von Antonin Dvorak. Auf deren berühmten langsamen Satz bezieht sich Ives bekanntermaßen im langsamen Satz seiner No. 1, vielleicht aber auch schon im Kopfsatz, dessen durch viele Tonarten mäanderndes Thema sich anhört, als liege ihm die seltsame einleitende Akkordfolge des Dvorak-Satzes zugrunde. Der ist melancholisch, weil er das Leid der Indianer spiegelt. Ich zitiere den Bericht von Gerth-Wolfgang Baruch: "Der zweite Satz, in der Skizze 'Legende' betitelt, wurde durch die Szene 'Begräbnis im Wald' aus dem 'Lied von Hiawatha' des nordamerikanischen Dichters Henry Wadsworth Longfellow inspiriert." Dvorak kannte das Indianerepos aus einer tschechischen Übersetzung. In den USA angekommen, las er es wieder und dachte sogar an eine Vertonung der Strophen. Sie handeln vom "Tod der Minnehaha aus dem Stamme der Dakota".

Das also ist eine Quelle und vielleicht die wichtigste, aus der Ives' Musik ursprünglich schöpft. Wenn diese Musik keine Mühe hat, sich grenzenlos auszusingen wie auf einer tabula rasa, hat das eine Vorgeschichte, die sie nicht vergisst, und ich denke, das ist das Große an ihr.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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