Wolfgang Rihm

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Beginnen wir mit dem Höreindruck des Konzerts am 9. September, in dem nur Werke von Rihm auf dem Programm standen. Astralis ("Über die Linie" III) für Chor, Violine und 2 Pauken nach Novalis hat er 2001 komponiert, ich wüsste gern, ob vor oder nach Nine Eleven. Der dem Roman Heinrich von Ofterdingen entnommene Text beginnt mit den Worten: "Es bricht die neue Welt herein / [Und] verdunkelt den hellsten Sonnenschein / Man sieht nun aus bemoosten Trümmern / Eine wunderseltsame Zukunft schimmern".

Rihms Musik reflektiert keine heutigen Trümmer, sondern die "bemoosten" einer vergangenen Kirche. Langsam in breiten Klangflächen schreitet sie voran, die Atmosphäre ist sakral, allerdings von kleinen Veränderungen immer in Spannung gehalten, manchmal auch ausbrechend; die Violine macht Einwürfe, mal folgt sie dem Chor, mal widerspricht sie ihm. Das Stück ist mit ET LUX vergleichbar, 2009, von dem hier schon gesprochen wurde. Das Sakrale erscheint als erinnert, will den Hörer also keineswegs einnehmen. Wenn sein Gefühl angesprochen wird, dann nicht, damit es sich sakralisiere. Aber die Erinnerung sagt nicht: Das ist vorbei, sondern dass das Erinnerte in irgendeiner ungreifbaren Form noch anwesend sei. Nicht nur das Erinnerte, sondern die Musik selber, der Gestus, mit dem sie zurückschaut, ist ernst. Sie klingt tonal, wenngleich sie nicht um ein tonales Zentrum kreist. Man hat häufig den Eindruck, Rihm lasse lauter unaufgelöst dissonante Akkorde, wie sie in der tonalen Tradition gebräuchlich waren, aufeinander folgen.

Raumauge für gemischten Chor und 5 Schlagzeugspieler nach Aischylos / Handke (1986, 1993/94) vertont den Schlussmonolog aus der Prometheus-Tragödie (Der gefesselte Prometheus) des griechischen Dichters. "Wahrhaftig: Es schwankt nun die Erde": Hier hat die Musik alle Ruhe verloren, ist äußerst eruptiv. Zwei Jahre nach Nonos Prometeo geschrieben, der "Tragödie des Hörens", die textlich vor allem auf Aischylos zurückgreift, hat sie sich dessen Stille nicht zum Vorbild genommen.

Danach hört man drei Stücke, die Nonos Tod betrauern, die ersten beiden (und zwei weitere, die nicht gespielt wurden) noch 1990 komponiert, das dritte bis 1992. Es ist auffällig, dass nach dem Zweiten Weltkrieg eine Reihe namhafter Komponisten musikalische Nachrufe auf andere Komponisten oder Dichter geschrieben haben, so auch Strawinski und Boulez. Das gab es früher nicht, Bachs Trauermusik galt noch seiner Fürstin. Doch Rihm fasst die Sache anders an als Boulez. Seine Musik in memoriam Luigi Nono ist eine Reihe von fünf "Versuchen", die aufeinander aufbauen. Das heißt, Teile eines "Versuchs" werden in den nächsten überführt und dort anders fortgesponnen. Es ist eine offene Bewegung musikalischen Nachdenkens. Auf diese Idee konnte nur einer kommen, der auch im einzelnen Werk nicht anders verfährt: so nämlich, dass die Klangereignisse nicht von einer vorgegebenen Struktur abhängig sind und dass auch nicht ein Klangereignis das nächstfolgende determiniert, sondern umgekehrt so, dass das Folgende das Vorangehende frei kommentiert. Frei, aber nicht beliebig, verbindlich vielmehr, wie man sagen könnte. Denn eine Antwort - ein Kommentar - ist durch die vorausgegangene Frage gebunden, in deren Raum und Grenzen sie sich bewegt. Noch wenn sie die Grenzen überschreitet, muss sie das ausdrücklich tun. Auch das noch ist Verbindlichkeit.

Da Nono der musikalische Gegenstand ist, erinnert der Klangeindruck jetzt eher an serielle Musik, das Verblüffende ist aber, dass auch hier die Dur-Moll-Welt immer wieder berührt wird. Sie wird nicht etwa zitiert, ist aber atmosphärisch irgendwie da. Rihm komponiert atonal, kehrt zur Tonalität durchaus nicht zurück, wie das andere getan haben. Doch ist sein Verhältnis zu ihr auch kein polemisches. Tonalität und Atonalität haben, so scheint es, ihre "Horizonte verschmolzen". Deshalb kann diese Musik den Konzertbesucher, der an Werke der tonalen Tradition gewohnt ist, unmittelbar anrühren.

An Mnemosyne für hohen Sopran und Ensemble nach Hölderlin (2006/09) möchte ich nur noch den gesungenen Text hervorheben. Rihm hat sich für die erste Fassung der Hymne entschieden, wohl weil sie so tastend beginnt und am Anfang nicht weiß, wie sie enden wird. Ganz wie seine Musik. Der Beginn ist ein Impuls, kaum schon des Sprechens mächtig: "Aber es haben / Zu singen / Blumen auch Wasser und fühlen, / Ob noch ist der Gott." Ich versuche zu übersetzen: Blumen, und auch Wasser, "haben zu" singen wie auch zu fühlen. Zu fragen noch nicht, denn Fragen ist Sprechen und Sprechen erst dem Menschen aufgegeben. Aber schon Blumen und Wasser "singen" wie der Mensch, der gar kein Überlegener ist, sondern auch nur, wie wir später hören, "an den Abgrund" reicht und warten muss, ob "der Gott" sich zeigt oder nicht: "Lang ist / Die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre." Sprache und Denken Heideggers, der sich auf Hölderlin berufen hat, sind hier vorgebildet. Für Rihm war sicher auch Hölderlins Gottesbeschreibung wichtig, weil sie zu seinem Kompositionsverfahren passt: "Zweifellos / Ist aber der Höchste. Der kann täglich / Es ändern. Kaum bedarf er / Gesetz, wie nämlich es / Bei Menschen bleiben soll. [...] Nämlich es reichen / Die Sterblichen eh an den Abgrund."

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Nicht als "der Höchste", wohl aber als handlungsmächtiges Selbst, das immerzu ändern kann - statt einer Struktur, etwa der seriellen, sklavisch verpflichtet zu sein -, hat Rihm sich von Anfang an verstanden. Man darf das nicht platt sehen, als hätte er das pure Gegenteil eines Strukturalisten sein wollen. In Plattheiten solcher Art hielt sich manche anfängliche Rihm-Rezeption. Als in den 1970er Jahren die ersten Kompositionen des damals sehr jungen Mannes bekannt wurden, sprach man von "neuer Einfachheit", sah einen Angriff gegen den Rationalismus der seriellen Musik, sah überhaupt viel "Postmoderne", irrationale Affekte, "regressive" Tendenzen und so weiter und so fort. Das ist alles Unsinn. Rihm hat seinen geschichtlichen Ort und füllt ihn überzeugend aus. 1952 geboren, konnte es nicht mehr sein Anliegen sein, nach den Verbrechen und Katastrophen des Zweiten Weltkriegs eine neue, unkorrumpierbare musikalische Sprache zu erfinden. Dieses Ziel hatte die Vorgängergeneration der Boulez, Stockhausen und Nono verfolgt. Wahr ist immerhin, dass Rihm, wie andere seiner Altersklasse, gegen das in sich geschlossene System aufbegehrte, als welches die serielle Musik der Vorgänger sich dann darstellte.

Aber abgesehen davon, dass die Serialisten selber ihr System überschritten, kann man nun auch nicht sagen, Rihm habe ihnen den Rücken gekehrt. Man sieht es schon an seiner Freundschaft und musikalischen Verbundenheit mit Nono. Der Serialismus ist Rihms Musik hörbar vorausgesetzt. Dabei erinnert sie weniger an serielle Strukturen als an den Klangeindruck, den die Werke der Serialisten im Gedächtnis hinterlassen haben. Und zumal an die Klänge Nonos. Nono hatte es immer verstanden, auch als Serialist, und anders als Boulez, das Gefühl des Publikums unmittelbar anzusprechen. Aber auch von den Strukturen verabschiedet Rihm sich nicht, vielmehr rechtfertigt er den Affektcharakter seiner Musik gerade damit, dass der Serialismus die Gefühle ja gereinigt habe. Es wäre auch wirklich grotesk, Musik deshalb irrational zu nennen, weil sie Gefühle zeigt. Dann wären nur Maschinen Rationalisten.

Ich sprach von Rihms geschichtlichem Ort: Das ist das Jahrzehnt nach 1968, in Deutschland, mit dem schlimmen Höhepunkt von 1977, der "bleiernen Zeit", und es ist auch das Jahrzehnt, in dem Gustav Mahlers Musik wieder bekannt wurde und ihren großen Durchbruch hatte. Für diesen hatte Adornos Mahler-Buch viel getan. Und Adorno wusste, was er tat: dass er ein leuchtendes Beispiel "subjektiver" Durchbruchs-Musik gegen den Systemzwang der seriellen Musik setzte. Das wurde von Rihm aufgenommen. In Rihms Musik geht es immer um den Durchbruch. Wie Adorno von Mahlers Erster sagt, "dass die Musik mit körperlichem Ruck sich dehnt" - "Der Riss erfolgt von drüben, jenseits der eigenen Bewegung der Musik. In sie wird eingegriffen." (Mahler. Eine musikalische Physiognomik, in: Die musikalischen Monographien, Frankfurt/M. 1986, S. 149-319, hier S. 153) -, hätte er auch von Rihm sprechen können.

Mahler ist auch darin Rihms Vorbild, dass seine Musik nicht weiter weiß, den Durchbruch zwar will, aber nicht kann und eben dies darstellt. Darin liegt auch die Aktualität, die Mahler um 1977 immer noch hatte, ja von Neuem hatte. Das war die Zeit der "Krise des Marxismus" infolge des Aufstiegs der "Neuen Sozialen Bewegungen", denen man nachgesagt hat, sie machten Politik in der ersten Person ("Das Private ist das Politische"), was eben auch auf Rihm zutrifft. Diese Bewegungen hatten Tätigkeitsfelder: Ökologie, Frieden, Gender; marxistische Gewissheiten zählten nicht mehr. Das war ihnen selbst gar nicht wichtig, aber den Marxisten war es wichtig, und so auch Nono, dem Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens. Auch der kam in diesen Jahren ins Grübeln. Sicher nicht, weil er stolz darauf war, von Fidel Castro empfangen worden zu sein, weil er sogar dessen Stimme, beim Vorlesen eines Briefs von Ché Guevara, in eine Komposition eingeflochten hatte. Aber die Ereignisse in Afghanistan (sowjetischer Einmarsch) und Polen (Solidarnosc) führten dazu, dass er sich politisch zurücknahm und eine neue Unsicherheit musikalisch bekannte. Ich habe darüber geschrieben. Dass Rihm sich gerade mit ihm befreundete und er mit Rihm, war alles andere als paradox: Beide, der Serielle und der Postserielle, vollzogen im Grunde dieselbe künstlerische Wende, hin zur offen bleibenden Frage. Nur dass Rihm es anders nie gekannt hatte. An Nonos politisches Engagement knüpfte er nicht an.

Es wäre nach allem ein Wunder, wenn sich ihre kompositorischen Verfahren nicht unterschieden: Wo Nono, der Serialist, ein Ende der Gewissheit durch Pausen markiert, die das Publikum nachdenklich machen sollen, denkt Rihms Musik selber nach, indem sie "eingreift", in sich selber von "Riss zu "Riss", und immer im Bewusstsein, den Durchbruch doch nicht zu schaffen. Man kann übrigens fragen, ob das über Jahrzehnte hinweg ein tragendes Konzept ist. Anders: Ob so ein Konzept nicht als Symptom eines epochalen künstlerischen Niedergangs zu werten wäre. Immer nur sagen, dass "es nicht kommt"? Doch was wir hier fordern, greift über Kunst weit hinaus. Der Künstler kommentiert die Gesellschaft ja nur. Selbst wenn er zur Veränderung aufruft, kann er sich das Veränderungsprogramm nicht selbst ausdenken. Wäre es freilich schon da, könnte eine Musik wie die von Rihm es sehr stark machen. Denn die kompositorischen Mittel hat er weiterentwickelt. Eine neue gesellschaftliche Freiheit, wenn sie denn käme, hätte in seiner freien und zugleich reflektierten Musik ihr Medium. Sie könnte sich, besser gesagt, in Auseinandersetzung gerade mit Rihm das eigene Medium schaffen.

Dass Rihms Musik von "Klangereignis" zu "Klangereignis" fortschreitet, wobei jedes die vorigen aufhebt, im dreifachen Wortsinn wie bei Hegel, wurde oben schon angedeutet. Eine gut lesbare Analyse am Beispiel der Komposition Chiffre I bietet Rudolf Frisius (Wandlungen des musikalischen Denkens über Form und Struktur im Spiegel der Musik von Wolfgang Rihm, in: Musik-Konzepte Neue Folge, Sonderband Wolfgang Rihm 2004, S. 75-92), der übrigens, ohne es zu sagen, auch deutlich macht, dass Rihms Folge von "Klangereignissen" ähnlich gebaut ist, wenn auch nicht klingt, wie die Folge von "Strukturklängen" in den Kompositionen Helmut Lachenmanns. Also, das ist musikalischer Fortschritt, und ich wüsste nicht, welchen es sonst noch in den letzten Jahrzehnten gegeben haben sollte. Avantgardemusik kann die Errungenschaft von Brahms in sich aufnehmen, noch nach der Radikalkur des Serialismus: entwickelnde Variation, musikalische Prosa, Komponieren als verlangsamte Improvisation. Diese Synthese von langue und parole, Struktur und Ereignis reicht zweifellos in die Zukunft, deren Umriss uns rätselhaft ist.

Rihm hat so wenig wie Nietzsche, auf den er oft zurückkommt, ein Problem damit, die erhoffbare Zukunft mit dem Wort "Gott" zu bezeichnen. Nur kommt dieser Gott eben nicht. Wege zur Zukunft müssten erst gebahnt werden, aber wie? Vor diesem Hintergrund kann er auch Musikstücke schreiben, die das Sakrale anklingen lassen. Er sagt zwar, dass er "wahrscheinlich religionsunfähig" sei. "Ich werde nie jemand sein, der sein Heil in eine religiösen Disposition, in einer religiös motivierten Transzendenz suchen wird." Aber: "Aus der Bibel kommt [...] der größte Ansturm an Zweifeln. Man fasst biblische Religiosität falsch auf, wenn man sie nur als affirmativ zum Gottesverständnis hin artikuliert. Das ist natürlich klar, dass zum Gottesbegriff dazu gehört, dass man mit ihm ringt. Das ist klar." (...ZU WISSEN. Ein Gespräch von Rudolf Frisius und Wolfgang Rihm, in: Dieter Rexroth [Hg.], DER KOMPONIST WOLFGANG RIHM, Frankfurt/M. 1985, S. 17-59, hier S. 28 f.)

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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