Zu Patrick Schreiners Kritik der Wachstumskritik. Einige Einwände

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Den Artikel "'Wachstumskritik' - Gedanken zu einer seltsamen Debatte" von Patrick Schreiner kann man seit dem 6. März hier in der Community lesen. Er war zuerst in WISO-Info 1 (2012), der online-Zeitschrift des DGB Niedersachsen, erschienen. Der Autor ist dort als Ansprechpartner für Wirtschaft- und Strukturpolitik, Umwelt- und Europapolitik angegeben. Es handelt sich also um einen einigermaßen repräsentativen Diskussionsbeitrag, und da er auch mit viel Ernst geschrieben ist und offenbar an den Regeln des Argumentierens gemessen werden will, verdient er alle Aufmerksamkeit. Ich komme leider erst jetzt dazu, meine Kritik an der Kritik der Wachstumskritik von Patrick Schreiner zu formulieren.

Der Einfachheit halber will ich seinen Argumenten in der Reihenfolge ihrer Darlegung nachgehen. Was er angreifen will, sind, so lesen wir in der Einleitung, "zwei Glaubenssätze": "Erstens, Wachstum sei ein ungeeigneter Maßstab, um den Wohlstand einer Gesellschaft zu messen. Zweitens, regelmäßiges Wachstum einer Volkswirtschaft sei aus ökologischen Gründen abzulehnen oder aber schlicht unmöglich." Abgesehen davon, dass das keine "Glaubenssätze", sondern ihrerseits sehr gut argumentativ begründete Sätze sind, hat Schreiner sie korrekt wiedergegeben und den Kern der Debatte richtig erfasst. Das "Seltsame" ist nur, er argumentiert im Folgenden gar nicht gegen diese Sätze, sondern gegen andere, so dass man fast glauben könnte, seine Darlegung ziele heimlich darauf, die "Glaubenssätze" nicht etwa zu stürzen, sondern zu affirmieren. So ist der Umstand, dass Wachstumskritiker in der Tat das regelmäßige Wachstum ablehnen, im ganzen folgenden Text schlichtweg vergessen. Der Begriff taucht niemals mehr auf. Und aus dem Gedanken, dass "Wachstum ein ungeeigneter Maßstab sei", wird bei Schreiner bald darauf der Gedanke, dass die Steigerung des Bruttoinlandprodukts dieser ungeeignete Maßstab sei, wogegen er leicht mit dem Hinweis polemisieren kann, das stimme zwar, sei aber kein Argument gegen Wachstum an und für sich.

Noch bevor er in diese letztere Debatte einsteigt, bringt er ein bezeichnendes Beispiel: "Wer einen Verkehrsunfall mit schweren Verletzungen erleidet, wird sowohl durch die Anschaffung eines neuen Autos wie auch durch die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen zum Wachstum beitragen"; dies mehre zwar "nicht den individuellen oder gesellschaftlichen Wohlstand", doch "unser Unfallopfer wird froh sein, in einer Gesellschaft zu leben, die ihm (gegen Bezahlung) nicht nur ein neues Fahrzeug bietet, sondern ihm auch die Pflege-Infrastruktur und das medizinische Personal zur Wiedergenesung zur Verfügung stellen kann". Mag sein, dass der Betreffende "froh sein wird"! Und hinsichtlich der medizinischen Versorgung auch völlig zu Recht. Wenn er aber einfach gedankenlos froh ist, weil nach dem alten Auto sogleich ein neues zur Hand ist, und wenn Schreiner das einfach so anführen kann, in einer Debatte über das Recht oder Unrecht von Wachstumskritik, dann machen dafür wir uns unsere Gedanken. Warum bringt Schreiner das neue Auto mit der Gesundheitsversorgung überhaupt zusammen? Das ist eine Konfusion, denn er könnte ebenso gut sagen, jemand sei "froh, in einer Gesellschaft zu leben", die ihm den Kauf des neuen Autos per Abwrackprämie "bietet" und das Wegwerfen des alten ermöglicht, das heißt nahelegt. Sogar den verbilligten Kauf, und ganz ohne Unfall, hat er es "geboten" bekommen!

Der Umstand, dass immer neue Autos gebaut werden, kann darauf, dass es eine Gesundheitsversorgung gibt, durchaus nicht zurückgeführt werden. Er wird durch sie auch in keiner Weise gerechtfertigt. Dafür ist er aber in Deutschland das Paradigma von regelmäßigem Wachstum, so dass Schreiner hier am richtigen Ort war, seine Kritik der Wachstumskritik zu entfalten. Er denkt leider gar nicht daran, das zu tun. Zusammen mit dem Begriff des regelmäßigen Wachstums verschwindet auch das Auto, diese harte Tatsache, kaum dass sie wie aus schlechtem Gewissen ein einziges Mal assoziiert worden ist, gleich wieder aus der Schreinerschen Darlegung.

Nein, jetzt wird behauptet, "die 'Wachstumskritik'" beruhe "auf einem völlig unzutreffenden Verständnis dessen [...], was Wachstum überhaupt ist". Unter Wachstum verstehe man nämlich "die Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) einer bestimmten Zeitperiode, etwa einem Quartal oder einem Jahr". Danke, Herr General! Sie befehlen, wir gehorchen! Wir haben verstanden! Das also ist das von Ihnen dekretierte Wesen des Wachstums! Und nun ergibt sich das Weitere ja rein logisch, dass nämlich aus den Gründen, die Sie darlegen, es "durchaus ein schrumpfendes BIP mit steigendem Ressourcenverbrauch oder umgekehrt ein wachsendes BIP mit sinkendem Ressourcenverbrauch geben [kann]" - dass also "unendliches Wachstum auch durchaus mit endlichen Ressourcen einhergehen [kann]".

Ja, aber kann auch das regelmäßige Wachstum mit endlichen Ressourcen einhergehen? Wie gesagt, diese Frage ist jetzt leider vergessen. Kann man sich eine Ökonomie vorstellen, in der lediglich die immateriellen Dienstleistungen immerfort zunehmen und insofern ein "unendliches Wachstum" stattfindet, welches die Ressourcen aber gar nicht in Anspruch nimmt? Dann würde das BIP wachsen, aber dieses Wachstum würde "lediglich in Geld gemessene Werte [erfassen]"; ein "Indikator [...] für Umweltbelastung" wäre es nicht. Gut, aber warum sollten solche Dienstleistungen ins Unendliche wachsen? Dafür müsste es schon wirklich einen Mechanismus geben, der bedingt, dass sie es regelmäßig tun. Den aber gibt es nur dann, wenn auch die mit Ressourcenverbrauch verbundene Wirtschaft ins Unendliche wächst. In Bangla Desh zum Beispiel wird weder die Bankkundenberatung noch die Prostitution über eine gewisse Grenze hinaus wachsen, ganz abgesehen davon, dass Beides nichts brächte und gar nicht möglich wäre, wenn es keine mit Ressourcenverbrauch verbundene Ökonomie und daraus entspringende Einkommen gäbe. Das Problem ist, dass diese letztere, mit Ressourcenverbrauch verbundene Ökonomie in Deutschland zum Beispiel tatsächlich regelmäßig wächst und dies von den herrschenden Parteien auch so gewollt wird.

Es ist wahr, man kritisiert oft einfach "das unendliche Wachstum". Aber wer der "seltsamen Debatte" wirklich nachgeht, wird bald feststellen, dieser Ausdruck ist eine Abkürzung. Was die Wachstumskritiker wirklich kritisieren, ist eine Produktionsweise, die auf den unendlichen Mehrwert zielt, der eben auf der Basis einer Bankkundenberatung ohne geldkräftige Banken nicht möglich wäre. Der Ausdruck ist letztlich eine Abkürzung für diesen Satz von Karl Marx: "Das Kapital als solches setzt nur einen bestimmten Mehrwert, weil es den unendlichen nicht at once setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung, mehr davon zu schaffen." (MEW 42, S. 253)

Schreiner indes glaubt einfach zusammenfassen zu dürfen, einen "methodischen, systematischen und zwingenden Nexus zwischen dem statistischen Indikator 'Wachstum'", das heißt dem wachsenden BIP, "und dem Ressourcenverbrauch bzw. der Umweltbelastung gibt es also nicht." Aber er hat sich gar nicht gefragt, ob es den "Nexus" gibt oder nicht gibt. Ganz richtig stellt er zwar fest, das sei zunächst nur eine Korrelation und kein Beweis für einen Kausalzusammenhang. Aber ganz als ob es nie Korrelationen gäbe, die tatsächlich durch einen Kausalzusammenhang begründet sind, lässt er es dabei bewenden. Er fragt nicht, ob es ein Drittes geben könnte, durch welches sowohl das BIP-Wachstum als auch die Umweltbelastung verursacht sein könnte.

Dieses Dritte ist eben das Kapital, das den unendlichen Mehrwert anstrebt und daher unter dem Selbstzwang steht, regelmäßig wachsen zu müssen. Ich dachte bisher, wenigstens Gewerkschafter würden sich an Karl Marx noch ein wenig erinnern. Scheint aber nicht der Fall zu sein. Schreiner jedenfalls sieht nur die Korrelation und macht sich lustig: "Nach der gleichen Logik allerdings lässt sich auch hieb- und stichfest nachweisen, dass mit abnehmender Population der Störche die Zahl der Babys gesunken ist - trotzdem wird niemand ernsthaft behaupten, Störche seien für Babys ursächlich verantwortlich." Das ist sehr komisch! Es wäre aber trotzdem nicht verkehrt, nähme er einmal das kleine Buch Abschied vom Wachstumszwang des früheren Bremer Umweltsenators Reinhard Loske in die Hand, wo er, vielleicht zu seinem Erstaunen, feststellen könnte, dass deutsche Minister durchaus nicht immer an den Klapperstorch glauben. Ja, dass sie womöglich Wachstumskritiker sind, obwohl sie ebenso gut wie Schreiner wissen, dass das BIP kein geeigneter Maßstab ist.

Einem Argument, das Schreiner bringt, wird jeder Wachstumskritiker vorbehaltlos zustimmen: "Auch die Behebung von Schäden an der Natur generiert Wachstum. Das macht diese Schäden nicht zu etwas Positivem. Gleichwohl spricht es für die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft, bestimmte ökologische Schäden wieder begleichen zu können." Es spricht nicht nur für die Leistungsfähigkeit, sondern ist auch unbedingt notwendig. Aber es ist kein Argument für regelmäßiges Wachstum, sondern nur dafür, dass jene Schäden so lange behoben werden, bis sie eben behoben sind. So lange, bis ein weltweit funktionierendes ökologisches System ausgebaut ist, wird man das dafür notwendige Wachstum samt Ressourcenverbrauch mit gutem Grund hinnehmen, selbst wenn dadurch die Umweltbilanz vorübergehend noch mehr belastet wird, als sie schon ist. Aber nicht darüber hinaus, nicht regelmäßig. Man würde ja auch einem Verwundeten, wenn es nicht anders geht, nehmen wir an im Krieg, so lange Schmerzen zufügen, wie es im Rahmen einer Heilmethode unerlässlich ist. Wer es aber darüber hinaus täte, wäre ein Folterer.

Sehr seltsam ist es, wenn Schreiner meint, Wachstumskritiker wollten "gerne den Eindruck erwecken, ihre Thesen seien neu", habe es doch schon 1972 den Bericht des Club of Rome gegeben. Was ist das für ein Popanz? Welcher Wachstumskritiker sieht nicht umgekehrt ein Argument für seine Sache darin, dass sie schon 1972 vorgetragen wurde und sich seitdem leider glänzend bewährt hat? Und spricht es gegen diese Sache, dass sie "wiederum selbst in einer wachstumskritischen' Tradition" steht, "für die sich Beispiele etwa [...] in der politischen Ökonomie des 19. Jahrhunderts finden"? Das klingt ja so, als ob Schreiner von der Wachstumskritik eines Karl Marx durchaus wüsste. Kein Grund, sich damit auseinanderzusetzen?

Und dann kommt's noch dicker: "Die pauschale und undifferenzierte Forderung nach einem Ende des Wachstums interessiert sich nicht dafür, in welchen Bereichen eine Volkswirtschaft schrumpfen soll." Nein? Es gibt nicht die Kritik der Wachstumskritiker an der Autokultur, während sie gegen Brot, Kindergärten und eine Gesundheitsversorgung keinen Einwand erheben? "Sie interessiert sich auch nicht dafür, wo eigentlich [...] Umweltzerstörung und Ressourcenverbrauch in welchem Ausmaß stattfinden" - das ist also nicht am Auto hunderttausendmal vorgerechnet worden? Wir haben das alles nur geträumt? "Die Forderung vieler 'Wachstumskritiker' nach mehr Ehrenamt und Selbstversorgung bedeutet [...] nichts anderes als die Weiterführung bisher am Markt erbrachter Produktion fernab des Marktes. Umweltfreundlicher wird das Produzieren dadurch nicht" - aber glaubt Schreiner denn, irgendwelche Wachstumskritiker würden zum Beispiel die Autoproduktion in Selbstversorgung "weiterführen"?

"Sehr viel klüger, als Wachstum zu verdammen, wäre es hingegen, genau zu prüfen, weshalb in bestimmten Bereichen Wachstum tatsächlich mit steigendem Ressourcenverbrauch einhergeht - und zu überlegen, in welchen Bereichen Wachstum zukünftig in welcher Form stattfinden soll. [...] Wer aber eine solche Differenzierung vornimmt, der spricht nicht mehr von den Grenzen des Wachstums, sondern vom qualitativen Wachstum." Wer eine solche Differenzierung vornimmt und weiter nichts, der spricht undifferenziert, da er das Entscheidende unter den Tisch fallen lässt, die Frage nämlich, ob das qualitative Wachstum dann geschehen soll, wenn es gute Gründe dafür gibt, oder ob es regelmäßig geschehen soll. Wo es regelmäßig geschieht, geschieht es deshalb, weil die Kapitallogik mit ihrem Wachstumszwang dahinter steht. Darüber wäre zu sprechen.

Schreiner spricht auch tatsächlich vom Kapital, wenn auch ohne es zu nennen, tut es aber in einer charakteristischen und wohlbekannten Verkürzung. Am Ende seiner Darlegung lässt er die Katze aus dem Sack. Das Problem, das ihn wirklich beschäftigt, sind die "sozialen Implikationen": "Maßnahmen zur Behebung von Umweltschäden [...] sind mit Kosten verbunden. Hier stellt sich unmittelbar die Frage, wer diese Kosten in welchem Umfang zu tragen hat." "Einige Unternehmen und Produktionszweige drohen wegzubrechen." Ja, zum Beispiel einige Auto-Unternehmen! "Hier können gute, tariflich gebundene und mitbestimmte Arbeitsplätze verlorengehen." Aber ist das ein Grund, der Wachstumskritik pauschal zu unterstellen, sie interessiere sich nicht dafür, wie die "Kolleginnen und Kollegen sich und ihre Familien [...] durchbringen sollen"? Ist das eine gute gewerkschaftliche Strategie, ein Zerrbild von Wachstumskritikern zu zeichnen, als ob sie noch an den Klapperstorch glauben, und diesen Popanz dann mit Grandezza zu widerlegen? Statt zusammen mit den Wachstumskritikern für gute soziale Implikationen zu sorgen, unter der Voraussetzung, dass der Mechanismus des regelmäßigen Wachstums ohne Wenn und Aber abgeschafft wird?

Denn daran führt nichts vorbei. Wer sich dem verweigert, nimmt an der Ermordung des Planeten teil. Es reicht nicht, an der Kapitallogik nur die "sozialen Implikationen" zu kritisieren. Auch wenn man Gewerkschafter ist, reicht das nicht. Wenn der Planet erst zerstört ist, hört auch die am besten geführte Tarifauseinandersetzung auf, für die "Kolleginnen und Kollegen und ihre Familien" noch von irgendeinem Nutzen zu sein. - Ich möchte abschließend sagen, dass ich hier einen Text kritisiert habe, nicht eine Person. Es ist möglich, dass Schreiner es nicht so gemeint hat, wie es faktisch zu lesen ist. Texte entfalten mitunter ein Eigenleben. Dennoch muss man sich gerade mit ihnen beschäftigen, denn sie sind es, von denen der politische Effekt ausgeht. Wenn Schreiner es anders gemeint hat, müsste er den Text noch einmal neu formulieren, und die Diskussion wäre wieder offen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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