Titten an der Macht

Alltagskino Mikael Krogerus hat für einen Moment überlegt, nach Italien auszuwandern. Das Wetter, Sie wissen schon. Dann hat er sich die TV-Staats-Kritik "Videocrazy" angesehen...

Was habe ich gesehen?Videocrazy (2009) von Erik Gandini. Laufzeit: 76 min.

Warum habe ich es gesehen? Meine Frau hat nach dem letzten harten Winter in Berlin den Wunsch geäußert, in den Süden auszuwandern. Zum Beispiel nach Italien. Ich begann sofort mit der Recherche.

Worum geht es? Um Italien heute. Also um Berlusconi, um Müttersöhne, um nackte Titten, um Fußballprofis. Und vor allem um Fernsehen. In Italien gilt: Wer das Fernsehen kontrolliert, kontrolliert die Politik. Für 80 Prozent aller Italiener ist Fernsehen die Hauptinformationsquelle und Silvio Berlusconi kontrolliert 90 Prozent aller TV-Inhalte in Italien. TV ist praktisch nur ein anderes Wort für Macht.

In Videocrazy – der Titel, das nur am Rande, spielt auf „video crazy“ an, aber auch auf das englische Wort „democracy“, und Gandini meint, in Italien herrsche eine Videokratie, eine Herrschaft des Sehens: Der, der sichtbar ist, führt. In Videocrazy also untersucht Gandini die Mechanismen hinter Berlusconis Erfolg. Der Weg nach oben führt über Bekanntheit. TV ist der beste Ort, um bekannt zu werden. Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal italienisches Fernsehen gesehen haben. Man versteht es am besten, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Tutti Frutti, die RTL Erfolgsshow mit Hugo Egon Balder, auf eine italienische Erfindung zurückgeht. Viel ist seither TV-mäßig in Italien nicht passiert. Und so träumen 120 Prozent aller Mädchen, eine Velina zu werden, ein TV-Showgirl. Die Velina ist die Assistentin der männlichen Moderatoren. Sie ist immer schlank, gern großbrüstig, immer lächelnd. Und sie darf nie reden. Stattdessen vollführt sie alle paar Minuten einen kruden, anzüglichen Tanz namens stacchetto, um die Zuschauer bei Stange zu halten. In einer denkwürdigen Szene antwortet ein Mädchen bei einem Veline-Casting in einem Kaufhaus auf die Frage, warum sie ins TV will: „Ich möchte reich werden und berühmt. Und dann möchte ich einen Profifußballer heiraten“. Berlusconis Gleichstellungsbeauftragte ist Mara Carfagna, eine ehemalige Velina.

Wer regiert in Italien? Berlusconi. Klar. Aber da es eine Videokratie ist, gilt Lele Mora, ein einflußreicher TV-Agent, als so etwas wie der heimliche König. Der Brückenbauer. Mora ist es, der entscheidet, wer ins TV darf. Er lebt an der Costa Smeralda auf Sardinien in einer riesigen weißen Villa und steuert von hier die Promiwelt Italiens. Mora sagt: „Ich bewundere Berlusconi, er ist ein großer Führer… Aber natürlich nicht so groß wie Mussolini, ich schäme mich nicht dafür, Mussolini zu bewundern“.

Gibt es keine Kritiker? Doch, klar, einen. Er heißt Fabrizio Corona und ist der Kopf der wichtigsten Paprazzi-Agentur, Coronas. Jede Nacht lauern seine „Schützen“ den VIPs auf, um Schrammen in ihrem perfekten Image zu entdecken. Also Promis mit schiefen Zähnen, Promis mit Nutten, so Zeugs. Sein Geschäftsmodell: Er verkauft die kompromittierenden Fotos nicht an die Boulevardpresse, er verkauft sie an die Promis selber, die ihr eigenes Image wahren wollen. Er nennt sich der Robin Hood Italiens. „Ich bin ein moderner Robin Hood, der von den Reichen nimmt und sich selber gibt“.
(Unnötig zu erwähnen, dass in dem geschlossenen System natürlich Corona ein Ziehsohn Lele Moras ist und ein Bewunderer von Berlusconi. Corona selber sagt: „Wäre ich klein und dick, wäre ich nicht berühmt“. Später sieht man ihn in der Dusche, wie er seinen makellosen Körper ewig wäscht und rasiert und schließlich seinen Penis mit einer Pumpe trainiert).

Wer ist Erik Gandini? Autor und Regisseur. Der begnadete Italo-Schwede Erik Gandini hat schon mit seinem eindrücklichen TV-Porträt Surplus über den Primitivisten John Zerzan ein starkes Stück linker Dokumentargeschichte geschrieben. Gandini ist ein bisschen wie Michael Moore. Bloß genauer, unaufgeregter, weniger witzig. Dafür besser.


Was bleibt? Ein dänischer Historiker schrieb einmal, dass das Alte Rom unterging, weil es nur noch um sich selbst kreiste. Und die Geschichte lehre, dass Kulturen, die dazu neigen, nur sich selbst zu sehen, vom Untergang bedroht sind. Mag sein, dass nach dieser Theorie die USA dem Untergang gewidmet sind und wir auch. Mein Tipp: Italien geht zuerst.

Ziehen wir nach Italien? Nicht mehr in diesem Leben.

Was sehe ich als nächstes?Valhala Rising von Nicolas Winding Refn.

Unser Kolumnist Mikael Krogerus sieht sich jede Woche einen Film an oder auch mal eine ganze TV-Serie. Vergangene Woche wollte er sich mit Sin nombre von Cary Fukunaga etwas Gutes tun.

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