Tumor ist, wenn man trotzdem lacht

Medientagebuch „Guten Abend. Hallo. Ich habe Krebs“ – Tig Notaro definiert spontan das Comedy-Genre neu

Zwei Fragen an den denkenden Menschen: Was will Comedy? Und was kann Comedy? Bis vor kurzem lautete die Antwort: Comedy will mehr als Comedy kann. Comedy will raffiniert sein und entlarvend, frech und schmerzfrei, dabei geistreich und gut bezahlt. Comedy ist aber meistens höchstens witzig.

Letzte Woche nun hat eine amerikanische Komikerin namens Tig Notaro die Fragen neu beantwortet. Da wurde das Audio-File eines ihrer Liveauftritte veröffentlicht, und, ohne Gefahr sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen, kann man sagen: An diesen 30 Minuten wird sich künftig jeder Comedian orientieren müssen.

Was war passiert? Die 41-jährige Tig Notaro, die wie ein hübscher 16-Jähriger aussieht, hat bereits ein ziemlich schräges Set. Kurz vor ihrem Auftritt in einem Club in Los Angeles entschloss sie sich, die Schraube nochmals weiterzudrehen. Spontan verwarf sie ihr Standardprogramm, ging auf die Bühne und sagte: „Good evening. Hello. I have cancer. How are you? Hi, how are you? Is everybody having a good time? I have cancer.“ (Guten Abend. Hallo. Ich habe Krebs. Wie geht es Ihnen?)

Einige Sekunden Pause. Das Publikum, das sie laut klatschend begrüßt hatte, kicherte nervös. Langsam dämmerte es den Leuten, dass das hier kein geschmackloser Witz war, Notaro erzählte die Wahrheit. Sie hatte wirklich Krebs. In einer gut rhythmisierten, klaren Sprache berichtete sie dem Publikum in den folgenden 28 Minuten, was ihr wiederfahren war.

„Jetzt tut es mir fast Leid, dass ich nicht noch mehr Horrorerlebnisse hatte“

Alles begann mit einer schweren Lungenentzündung. Während des Krankenaufenthaltes fing sie sich ein schlimmes, multiresistentes Bakterium ein, das den Dickdarm von innen auffrisst. Sie verlor 15 Kilo in 10 Tagen. („Eine Ärztin fragte mich anerkennend, was das Geheimnis meines flachen Bauches sei, ich antwortete ihr: Ich liege im Sterben“). Eine Woche, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen war, starb ihre Mutter bei einem Unfall. Dann ging ihre langjährige Beziehung in die Brüche. Dann entdeckten Ärzte bei einer Routineuntersuchung metastasierenden Brustkrebs. Und das alles innerhalb von vier Monaten.

Während der 30-Minuten-Show brachte Notaro keinen einzigen echten Gag. Und trotzdem lacht man. Und staunt. Und kämpft mit den Tränen. Ihr Programm ist im Prinzip eine komödiantische Fortführung von Susan Sontags brillantem Essay Krankheit als Metapher, in dem sie den so brutalen wie falschen Glauben an die positive Psychologie anprangerte, der behauptet, jeder Mensch sei seines eigenen Glückes Schmied. Notaro hadert mit sich, mit Gott, mit ihren Freunden, mit dem Publikum. Irgendwann fragt sie: „Ist es zu viel? Soll ich lieber meine Standardwitze machen?“ – „Nein, mach weiter“, ruft einer aus dem Publikum. „Oh, danke“, sagt Notaro. Und dann: „Jetzt tut es mir fast Leid, dass ich nicht noch mehr Horrorerlebnisse hatte.“

Sie ist schonungslos und liebenswert und bissig und so hoffnungslosvoll, dass man nicht anders kann, als an die eigene Sterblichkeit zu denken. Und sich zu wünschen, dass man dereinst bei seiner eigenen Krebsdiagnose eine ähnliche Haltung hinkriegt.

Es gibt keine Filmaufnahmen von dem Auftritt, nur einen Audio-Mitschnitt. Man kann ihn auf der Website der Stand-Up-Legende CK Louis herunterladen, der nach dem Auftritt twitterte: „In 27 years doing this, I’ve seen a handful of truly great, masterful standup sets. One was Tig Notaro last night.“ (In 27 Jahren habe ich einige große, meisterliche Standup-Auftritte gesehen. Das war einer davon).

Die Audio-Datei kostet fünf Dollar, ein Teil der Einnahmen geht an die Krebsforschung.

Hier ein kurzer Audio-Mitschnitt des Abends:

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