Eine Berliner Linie

Zwangsräumung Heute wurde mit einem polizeilichen Großaufgebot die fünfköpfige Familie Gölbul unter dem Protest von 1000 AnwohnerInnen und DemonstrantInnen auf die Straße gesetzt

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Eine Berliner Linie

Foto: der Freitag

"Um 9 Uhr kommt die Gerichtsvollzieherin" - eine notwendige Parteiergreifung

Die Bilder kenne ich bisher nur aus Spanien, und auch die Geschichte dazu. Hunderte verhindern – oder versuchen es zumindest – Zwangsräumungen. In einem Volksbegehren forderten ganz aktuell 1,4 Mio. SpanierInnen per Unterschrift das sofortige Aussetzen sämtlicher Zwangsräumungen. Der Gesetzentwurf wurde am Dienstagabend vom Parlament angenommen und hat durchaus Aussicht auf Erfolg. Mit den Protestbewegungen für mehr Demokratie kamen auch die Proteste gegen die alltäglichen Zwangsräumungen im kriselnden Spanien. Doch die Schraube drehte sich weiter. Zuletzt wurden in Spanien Fälle von Selbstmorden von meist älteren MieterInnen bekannt, deren Reaktion auf anstehende Mieterhöhungen der Suizid war. Die Nebensächlichkeit, als die das Wohnen gerne abgetan wird, hier wird es deutlich, wie existenziell sie ist. Auch in unserem Nachbarland Polen kennt man die Probleme in der Hauptstadt Warschau. Auch dort formte sich Protest gegen exorbitante Mietsteigerungen und mafiös anmutenden Entmietungs- und Einschüchterungsversuche. Dort wurde im März 2011 die verbrannte Leiche der Mieteraktivistin Jolanta Brzeska in einem Wald gefunden. Die Hintergründe des Mordes blieben ungeklärt. Alles weit weg?

In den Innenstadtbezirken Berlins gilt: Zieh bloß nicht um! Um Mietsteigerungen zu entgehen, wohnen Menschen oft mit den Verträgen der VormieterInnen – ich erlebe es im eigenen Umfeld. Ein paralleler Tauschmarkt. Die Verdrängung und die steigenden Quadratmeterpreise sind dennoch uferlos. Von einem „werdenden Problem“ kann angesichts der Mietexplosionen seit mehreren Jahren und den beständigen Rückgang der Sozialwohnungen – von über 162000 im Jahr 2011 auf 113000 im Jahr 2013 – nicht mehr gesprochen werden. In den heutigen Tag gab es durchaus Hoffnung, einen (kleinen) Wendepunkt erreichen zu können, die Abwärtsspirale zu durchbrechen.

Bereits am Vorabend ließ es sich auf der Homepage der Berliner Zeitung noch wie ein Aufruf lesen: „Gegen Zwangsräumung in Kreuzberg“. Die Kampagne Zwangsräumung verhindern hat ein beachtliches Medienecho ausgelöst und die MieterInnen-Bewegung voran gebracht. 1000 Menschen auf der Straße wegen der Zwangsräumung einer Familie, die seit 30 Jahren im Kiez lebt. Das hat es zuvor nicht gegeben in Berlin. Die Mietenbewegung ist damit auf dem Level angekommen, auf das sie seit Jahren hingehört – weg von der symbolischen Parole zum konkreten sozialen und solidarischen Agieren in der Gesellschaft: „Ob Nuriye, ob Kalle, wir bleiben alle“, so eine der zentralen Parolen unter den NachbarInnen und MietaktivistInnen. Dass es nicht gereicht hat die Räumung zu verhindern, ist tatsächlich bitter, und zwar ganz real für die Familie Gölbul.

Massivität rechtstreuer Ignoranz

Ganz ehrlich: Beim Lesen der Kommentarspalten beispielsweise des Tagesspiegels hinsichtlich der heutigen Geschehnisse wird mir schlecht. Die Hantierung mit dem Rechtsbegriff dient augenscheinlich jeder nur erdenklichen Beugung des menschlichen Empfindens für „Gerechtigkeit“. Ich frage mich, ob es dieselben Menschen sind, die sich echauffieren wenn – wie zuletzt ehemalige Strafgefangene der JVA Tegel – sich Entschädigungen erstreiten, weil ihre Haftbedingungen offensichtlich menschenunwürdig und damit nicht rechtmäßig waren. Das Recht liegt wohl im Auge des Betrachters. Frei dem Motto „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Akzeptanz zur Pflicht?“

Es ist 7:37 als via Twitter die erste Meldung einer Festnahme gemeldet wird. Nicht die Letzte. Zu diesem Zeitpunkt sind schätzungsweise schon über 600 Menschen auf den Straßen unterwegs, über 1000 werden es im Laufe des Vormittags. Die Polizei war schon sehr früh in großer Zahl an Sammelpunkten wie der Oberbaumbrücke postiert. Dann geht es meist sekundenschnell bis die Einsatzkräfte eintreffen.

Angesichts der Dimension des Einsatzes in Anbetracht der Fakten wird die Forderung nach der „Durchsetzung des Rechts“ zur Farce einer begünstigten Schicht, die unfähig geworden ist simples Unrecht als solches anzuerkennen. Die Massivität rechtstreuer Ignoranz gegenüber dem legitimen Anliegen, nicht aus seinem Lebensumfeld verdrängt werden zu wollen, und die „Lösung“ des Konflikts durch die einfache und kühle Härte der Vollstreckung sind ein Sinnbild für einen alltäglichen ignorierten Gewaltkorridor im demokratischen Rechtsstaat, in dem Demokrat ist, wer die Einsatzhärte der Polizei verteidigt, in der auf der Seite des Rechts steht, wer es sich leisten kann.

Auch die Kampagne Zwangsräumung verhindern äußert sich, "dass hohe Mieten, Verdrängung und Zwangsräumung vom Berliner Innensenat nicht als soziale Frage, sondern als reine Sicherheitsfrage" behandelt werden. In den vergangenen Monaten gab es auf die immer größer werdenden Probleme der Mieterinnen und Mieter nur eines: Die ständige rechtliche Stärkung für Vermieterinnen und Vermieter und Ignoranz für die existierenden Probleme auf Bundesebene insbesondere durch unionsgeführte Länder. Die Verhinderung des Aufkaufs von veräußerten Bundesimmobilien durch eine linksparteinahe Genossenschaft, die einer Mietsteigerung entgegenwirken wollte, erscheint in dieser Linie schon als Ehrensache.

So ein Aufwand wegen einer nicht fristgerechten Zahlung? Die Erwägung der Verhältnismäßigkeit hätte eine Undurchführbarkeit einer – gerade in diesem Einzelfall absolut fragwürdigen – Zwangsräumung für einen noch viel fragwürdigeren Eigentümer Andre Franell ergeben müssen. Generell ist eine Zwangsräumung keine Antwort auf das allgemeine Problem.

Der Berliner Abgeordnete der Piratenpartei Philip Magalski formulierte ein passendes Fragment für den heutigen Sieg der Idiotie: „Allein dieser unsinnige Hubschraubereinsatz übersteigt die Kosten einer Jahresmiete“.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sebastien Nekyia

freier journalist www.twitter.com/s_nekyia

Sebastien Nekyia

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