Die Kommune vom Gezi-Park

Istanbul Im Gezi-Park ist ein neues Biotop demokratischer Kultur entstanden, das durch die Reduktion der Berichterstattung auf Polizeigewalt bisher kaum bekannt wurde

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Die Kommune vom Gezi-Park

Foto: Uriel Sinai/Getty Images

Nach der Landung mache ich mich am Dienstag sofort auf dem Weg zum Taksim-Platz. Je weiter ich den Berg hochsteige, desto voller sind die Gassen mit jungen Leuten mit ihrer Ausrüstung: Helme, improvisierte Gasmasken. Mehr und mehr spüre ich das Tränengas. Es gibt ein Stop and go. Angekommen auf der größeren Siraselviler brennt es bereits heftig in den Augen. Ich mache einen entschiedenen Versuch, auf den Taksim zu kommen, habe aber keine Chance. Das Gas ist zu stark. Die Augen brennen so sehr, dass ich beim zurücklaufen kaum etwas sehen kann. Doch sofort sind Helfer da und besprühen meine Augen mit Zitronenwasser, 5 Minuten später ist alles wieder in Ordnung.

Die Gewalt dieses Tages überschattete die Berichterstattung. Die Polizei hatte tagsüber den Platz überfallartig attackiert und sich dann wieder zurückgezogen. Am Abend versammelten sich wieder bis zu 30.000 Menschen und die Staatsmacht versuchte es auf die griechische Methode: wie der Syntagma in Athen wurde Taksim einfach stundenlang permanent unter Tränengas gestellt, während Wasserwerfer die Seitenstraßen attackieren.

Der Gezi-Park nördlich vom Platz wird angeblich verschont. Die Regierung versuchte, die Proteste zwischen den „guten Parkschützer“ und bösen Randalierern auf dem Taksim zu spalten. Aber auch der Park wurde mit vielen Kattuschen beschossen, stand unter Tränengas und die vorderen Zelten wurden zerstört.

Am Mittwoch liegt zwar immer noch ein bisschen Tränengas in der Luft, aber im Park herrscht wieder überall ein buntes und lebendiges Treiben. Gezi ist ein recht großes Areal, und ich schätze, hier sind deutlich mehr Zelte als auf dem voll besetzten Tahrir, vielleicht sogar doppelt soviele.

Politisch findet man hier eine unglaubliche Mischung – Aktivisten von der kemalistisch-nationalistischen CHP mit ihren Fahnen neben dem Bereich von kurdischen Gruppen, in dem auch eine große Ocalan-Fahne hängt. Eigentlich Todfeinde. Unzählige linke Kleingruppen, die nie miteinander geredet hätten, zelten jetzt nebeneinander. Das Bild bestimmen aber unorganisierte Protestanten. die allermeisten sind sehr jung, gebildet und mit Smartphones. Alle sind mit irgendetwas beschäftigt, und es gibt für alles mögliche ein Zelt: von einer Gruppe auf deren Fahne Atatürk neben Lenin hängt, der speziellen Verteilerstationen für Wasser und Medizin bis hin zu einem Zelt für die Rechte der Homo- und Transsexuellen – oder „Das Cafe für unverhältnismäßige Liebe“.

Die Struktur der Zeltstadt ist am Tag nach der Schlacht völlig intakt. Es sind Straßen markiert, die meisten nach Namen von bekannten Figuren aus der Geschichte des Widerstands. Auf dem zentralen Platz gibt es eine Bühne der „Gezi Solidaritätskampagne“, eine parteiübergreifende Gruppe, die koordinierende Aufgaben übernimmt. Alle, die Fragen haben, gehen hinter die Bühne, wo Aktivisten der Kampagne diese geduldig beantworten. Es gibt lange Menschenketten, die große Tüten transportieren – Müll wird herausgebracht, Versorgungsgüter kommen rein.

Im Gezi-Park ist übrigens alles umsonst! Medizin versteht sich von selbst, aber auch Essen und Trinken. Es sind auch Kleinhändler da, aber sie sind gebeten, außerhalb des Parks zu verkaufen. Sogar Zigaretten werden gesammelt und umsonst weitergegeben. Auch passive Bewaffnung, also Helme, kleine Masken, Schwimmbrillen und Regenjacken werden an Verteilerzelten ausgeteilt. Alles für alle ist das Prinzip. Finanziert wird Gezi über Spenden, und die kommen reichlich.

Am frühen Abend gibt es eine Versammlung vor der großen Bühne. Die Parkbewohner tauschen sich aus. Mehrere reden über ihre Überlegungen, wie der Park demokratisch organisiert werden kann. Der Vorschlag steht im Raum, dass die jeweiligen Zelt-Straßen Delegierte wählen, die sich dann in einem Park-Parlament treffen. Ein anderer fragt, wie die Leute, die hier nicht schlafen, in die Entscheidungen eingebunden werden können. Und was ist mit der Bevölkerung? Was machen wir gegen die staatlichen Medien, die nichts oder Lügen über den Park berichten?

Und zu guter Letzt werden die Vorbereitung für die Angriffe der Polizei diskutiert. Kaum einer der Diskutanten macht den Eindruck, ein geübter Redner zu sein. Die meisten, die ich kennenlerne, sind vor zwei Wochen zum ersten Mal überhaupt auf eine Demo gegangen. Umso beeindruckender sind ihre Fragen, die man genauso auch auf dem Tahrir, Placa del Sol, der Wallstreet oder Syntagma hätte stellen können. Es sind wohl die Grundfragen der neuen globalen Revolte: wie organisiert sich die aktive Menge demokratisch als Gegenmodell zum autoritären Staat, wie beziehen wir uns auf die anderen Teile der Bevölkerung, die weniger oder gar nicht aktiv sind, und wie wehren wir uns gegen die Repressionen des Staates.

Am späteren Abend wird die Stimmung immer angespannter. Die internationalen Medien berichten über den Dialog von Erdogan mit von ihm ausgewählten Symbolfiguren der Bewegung – die übrigens hier niemand als Repräsentanten sieht – und das mögliche Referendum über den Park. Doch hier macht sich eher die Nachricht über seine Ansage breit, „binnen 24 Stunden alles zu beenden“. Er habe den Innenminister beauftragt, alle nötigen Maßnahmen zu treffen. Alle deuten dies als eine Ansage für eine anstehende brutale Räumung. „Vielen Dank, dass Du da bist“ sagt Embre, den ich beim Handyaufladen kennenlerne, „dass Du in dieser letzten Nacht bei uns bist“.

Auf der östlichen Seite des Platzes sind seit späten Nachmittag auch wieder Spezialkräfte der Polizei mit Kampfmontur aufgestellt. Doch die Menge ist immens gewachsen, es sind jetzt weit über 20.000 Leute im Park. Überall bereiten sie sich vor. Wir werden angehalten und unser Gesicht wird mit Wick-Salbe beschmiert, das hilft angeblich gut gegen Tränengas. Andere geben uns Zitronen. Die Schwimmbrillen werden festgezurrt, nasse Decken ausgeteilt um die Kattuschen zu überdecken, die in den Park reinfliegen. Nirgendwo entdecke ich, entgegen meiner Erwartung, offensive Waffen, keine Steinlager, keine Molotov-Cocktails. Das Prinzip ist hier das der passiven Bewaffnung zum Schutz.

Mich erfasst ein Druck von Trauer tief in meinem Bauch. Diese starke Energie, diese Kreativität an diesem besonderen Ort der Aktivität und Begegnung, wird alles wirklich gleich unter Gaswolken und Schlagstöcken zerquetscht? Als wir herumlaufen, entdecke ich nirgends Angst in den Gesichtern. Alle sind sehr ruhig. Ich lasse mich von dieser Ruhe anstecken und vergesse schnell den Trauereinschlag. Wir scouten die Polizei links und rechts, hinten am Park sind gar keine. Als wir um Mitternacht wieder nach vorne zum Taksim-Platz gehen ist die Lage völlig verändert: Tausende sind auf dem Platz geströmt, und die Polizei hat die Kampfmontur wieder abgesetzt. Der Platz ist wieder besetzt, Taksim re-occupied! Auf den Treppen zum Park ist ein großer Flügel gebracht worden und jemand spielt ein Klavierkonzert. Hunderte sitzen davor auf den Treppen und lauschen in absoluter Stille den klassischen Stücken und singen die bekannten Songs mit. Gänsehaut pur, meinem Begleiter kullern die Tränen über das Gesicht.

Diese Treppen führen nicht einfach in einen Park mit seinen Besetzern. Die Zeit zum Träumen hat wieder begonnen. Chiapas und Madrid, ihr seid nicht allein! Auch hier, am Scheidepunkt zwischen Europa und Orient, hat die rebellierende Menge instinktiv eine Kommune gegründet. Jeden Tag erwarten sie, zermalmt zu werden. Doch bis dahin leben sie, singen sie, kämpfen sie. Die Erfahrung dieser Tage wird dieser Generation niemand mehr nehmen können.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Pedram Shahyar

Blog aus den Metropolen des globalen Aufstandes

Pedram Shahyar

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