Taksim ist überall! Überall ist Widerstand!

Globale Proteste Was mit den Protesten in Istanbul begann, hat sich inzwischen zu einer globalen Protestbewegung ausgeweitet. Der Ruf nach mehr Demokratie ist weltweit zu hören

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Demonstrierende in Kreuzberg am 16 Juni
Demonstrierende in Kreuzberg am 16 Juni

Foto: David Gannon/ AFP/ Getty Images

Michael Hardt und Antonio Negri sprechen in ihren Büchern von der geschichtsträchtigen Multitude, den Singularitäten (Individuen), die auf globaler Ebene gemeinsam handeln.

Während der Ausweitung der Proteste in der Türkei entstand das Motto „Her yer Taksim, her yer direnis“ -– Überall ist Taksim, überall ist Widerstand. Die von der Alevitischen Gemeinde Deutschland e. V. am 22 Juni auf dem Kölner Heumarkt organisierte Demonstration übernahm das Motto der türkischen Demonstranten*. Die Übernahme des Mottos nimmt sowohl die Idee der Multitude auf und lässt darauf schließen, dass diese mehr sind als ein theoretisches Konstrukt.

Am 28. Mai begannen die Proteste im Gezi-Park. Auch wenn sich die Proteste an dem Abriss einer Mauer und der Entwurzelung einiger Bäume im Istanbuler Gezi-Park entzündeten, ging es dabei nie um diese Objekte, sondern immer schon um den Schutz und der Ausweitung der Demokratie.

Generell sind öffentliche Plätze und Parkanlagen Orte der Demokratie. Seit der antiken griechischen Agora bilden sie den Raum und den Rahmen für die freie Meinungsäußerung. Dies zeigt die Demonstration auf dem Kölner Heumarkt und es gilt insbesondere für den Gezi-Park.

Auf dem Gelände des Gezi-Parks soll die im osmanischen Stil erbaute und 1940 abgerissene Topçu-Kaserne wieder aufgebaut werden. Die Nutzung des Gebäudes scheint dabei relativ unwichtig zu sein. Zunächst war geplant, dort ein Einkaufszentrum zu errichten, später Hotels und Luxuswohnungen. Auch ein Stadtmuseum war im Gespräch. Der Wiederaufbau der Kaserne ist dabei in doppelter Hinsicht ein Schlag gegen die Demokratie. Zum einem wurde der Park in der damals noch jungen türkischen Republik als ein Ort erdacht, an dem das öffentliche Miteinander von Frauen, Männern und Kindern erprobt werden sollte. Damit ist der Park direkt mit der demokratischen Geschichte und Entwicklung in der Türkei verbunden. Zum zweiten weist der historisierende osmanische Stil einen immensen Symbolgehalt auf, der von einer großen undemokratischen Vergangenheit der Türkei als osmanisches Reich zeugt. Diese Symbolik passt sehr gut zu Erdogans Demokratieverständnis, das eher dem eines beliebten Monarchen als eines gewählten Präsidenten gleicht.

Inzwischen haben sich die Proteste sowohl innerhalb der Türkei als auch weltweit ausgeweitet. In der Solidarität mit den Protestierenden in der Türkei zeigt sich aber auch die globale Mulititude. Im Willen, aber vor allem im aktiven politischen Handeln, artikulieren die Menschen ihren Wunsch nach mehr Demokratie. So sagte ein Teilnehmer der Demonstration am Kölner Heumarkt, dass sich Erdogan langsam zu einem Diktator entwickeln würde und dass diese Demonstrationen wichtig für die Demokratie im Allgemeinen sei.

Die Medien und vor allem das Internet sind dabei ein wichtiges Instrument der Organisation der Proteste. Während die klassischen Massenmedien und ihre digitalisierten Abbilder wie die Online-Ausgaben wichtiger Zeitungen die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit erregen, leisten Blogs und Nachrichten über soziale Netzwerke auf der Seite der Informationsproduzenten eine tiefere Auseinandersetzung mit der Thematik und ermöglichen auf der Seite der Öffentlichkeit eine kritische Auseinandersetzung mit der etablierten Berichterstattung. Diese ist nicht nur in einem Regime, dass die Pressefreiheit wie die Türkei einschränkt notwendig – sondern auch in einem Land wie Deutschland, in dem über die Diktatur der Reichweite, Einschaltquote und der Befindlichkeit der Menschen die Medieninhalte bestimmt werden.

In dem globalen Ausmaß der Proteste und der großen Beteiligung an der Demonstration in Köln zeigt sich deutlich, wie sich freie Meinungsäußerung und der Aufruf zu Demonstrationen im Internet weltweit politisches Handeln initiieren kann.

* Eine Version des Artikels mit Bildern von der Demonstration gibt es hier.

Auf meinem Blog habe ich eine offene Linksammlung über die Proteste in der Türkei begonnen. Inzwischen bietet sie einen guten Überblick über den Verlauf der Proteste, politische Reaktionen und weitere Themenbereiche wie dem EU-Beitritt der Türkei. Wer sich an dem Aufbau und der Pflege der Sammlung beteiligen möchte, ist dazu herzlich eingeladen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Philipp Adamik

Philipp Adamik war wissenschaftlicher Assistent am soziologischen Seminar der Universität Basel. Er ist Herausgeber des Blogs thedigitalisedworld.org.

Philipp Adamik

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