Faktencheck Sitzenbleiben: Auswertung

Bildungspolitik Über 300 Leser haben sich an der Diskussion der Faktencheck-Ergebnisse beteiligt. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Resultate.

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Die Absicht der rot-grünen Landesregierung in Niedersachsen, das Sitzenbleiben abzuschaffen, hat in den vergangenen Wochen für viele Diskussionen gesorgt. Wir wollten wissen: Welche Evidenzen gibt es, auf deren Grundlage der Streit entschieden werden könnte? Über 300 Leser haben sich an der Diskussion der Ergebnisse beteiligt, die unser Autor Christian Füller zusammengetragen hat. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Resultate.

http://www.debattenprofis.de/wp-content/uploads/2013/03/stuehle.jpg (c) alamosbasement auf flickr

Anders als in bisherigen Faktenchecks, sind wir diesmal mit einer These ins Thema eingestiegen:

„Wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Bildungsforschung zeigen, dass Schüler mit schlechten Leistungen noch schlechtere Leistungen erbringen, wenn sie gezwungen werden, die Klasse zu wiederholen“

So jedenfalls könnte man die Behauptung zusammenfassen, die sich implizit durch den Faktencheck zieht, für den wir diesmal den Bildungsjournalisten und taz-Redakteur Christian Füller als Autor gewinnen konnten. Zugegeben: neutral ist ein solcher Einstieg nicht. Einige Leser, die den Faktencheck auf faz.net, Freitag.de und Telepolis verfolgten, haben dies auch bemängelt. Zwei Gründe haben uns bewegt, in diesem Fall eine deutliche Linie vorzugeben. Erstens: Ein Text, der deutlich Position bezieht, liest sich besser als einer, der in ausgewogener Weise das Für und Wider darstellt. Er provoziert auch bessere Kommentare. Zweitens: In diesem Fall haben wir – Redaktion und Leser – schlechthin kaum Untersuchungen namhafter Bildungsforscher gefunden, welche die Einstiegsthese in Frage stellen.

Die Argumentation

Zunächst zur Sachlage. Viele Gründe gibt es, die im Einzelfall für oder gegen das Sitzenbleiben sprechen. Diese Gründe wurden im Forum sehr ausführlich und mit Bezug auf persönliche Erfahrungen diskutiert. Deutlich wurde: nicht immer wird es als Misserfolg gewertet, wenn jemand die Klasse wiederholen soll. Ein Wechsel in einen neuen Klassenverband muss nicht in jedem Fall schlecht sein. Das Sitzenbleiben mag einigen schaden – anderen nutzt die Chance der Wiederholung.

Nun ist es schwer, ausgehend von solchen Einzelfall-Beobachtungen zu gültigen Verallgemeinerungen zu gelangen. (Was nicht heißt, dass ein solcher Schritt gern und häufig gemacht wird.) Wir haben uns deshalb die Frage gestellt: Was können Bildungsforscher, die nicht nur den Einzelfall betrachten, sondern große Gruppen von Schülern, zum Thema Sitzenbleiben sagen?

Natürlich ist es nicht möglich, wie in einer klinischen Studie zur Wirksamkeit eines Medikamentes zwei identische Gruppen von Schülern zu untersuchen, von denen die eine mit dem Mittel „Sitzenbleiben“ behandelt wird und die andere nicht. Am nächsten kommt man dem Ideal eines solchen Versuchsaufbaus immer noch mit der internationalen PISA-Studie. Deren Ergebnisse sind, was die vorliegende Fragestellung betrifft, jedoch immer von etlichen Störfaktoren beeinträchtigt. Denn dass deutsche Schüler im Test schlechter abschneiden als Schüler anderer Länder, kann viele Gründe haben. Das „Sitzenbleiben“ als einen dieser Gründe zu isolieren, ist nicht möglich. Es wäre aber auch kaum zielführend! Denn in der Realität ist es ja gerade die Konstellation verschiedener Faktoren, welche die durch PISA dokumentierten Ergebnisse vorbringt.

Bodensatz-Effekt

Wie in allen Statistik-basierten Untersuchungen, so kommen auch in der Erforschung der Effekte des Sitzenbleibens am Ende ausgeklügelte mathematische Verfahren und allgemeine Plausibilisierungen zum Zuge. Ein Beispiel: Jürgen Baumert vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin ist aufgrund verschiedener Beobachtungen zu der Hypothese gelangt, dass es so etwas wie einen „Bodensatz-Effekt“ gibt: Das Sitzenbleiben führt, im Verbund mit der „Abschulung“ in eine niedrigere Schulform (z.B. von der Real- in die Hauptschule) dazu, dass sich an manchen Schulen besonders schlechte Schüler konzentrieren. Ist eine bestimmte Konzentration an schlechten Schülern erreicht, beginnt die Schule zu „kippen“: die Schüler demotivieren sich gegenseitig. Ein geregelter Unterricht ist nicht mehr möglich.

Faktencheck-Autor Christian Füller, den wir gebeten haben, auf einige Fragen der Leser zu antworten, fasst das wie folgt zusammen: Zum gegliederten Schulwesen gehört das Entstehen guter und schlechter, höherer und niedrigerer Schulen – das ist ja seine historische und gesellschaftliche Idee. Pisa hat das auch eindrucksvoll gezeigt, denn die Unterschiede zwischen den Schul(form)en sind in Deutschland so groß nirgendwo sonst in der OECD. Jürgen Baumert hat insbesondere die Hauptschulen näher untersucht. Das Ergebnis ist erschütternd.

„Der mittlere Anteil von Wiederholern erreicht in Hauptschulen (..) 40 Prozent (…) Diese dramatische Situation ist das kumulative Resultat von Klassenwiederholungen vor allem in der Grundschule und der Abstiegsmobilität im gegliederten Schulsystem.“ (Baumert 2006, S. 142)

Die Hauptschulen, vor allem die besonders gefährdeten unter ihnen, werden so zu einem Sammelbecken für Schulversager. Baumert fand heraus, dass sich in Krisenmilieu-Schulen folgende Komposition von Risikofaktoren ergibt: Fünfzig Prozent der Schüler haben Sitzenbleibe-Erfahrung. Fünfzig Prozent haben Migrationshintergrund. Vierzig Prozent der Eltern verfügen über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Ein Drittel der Eltern ist arbeitslos, vierzig Prozent der Schüler haben in den letzten zwölf Monaten Gewalt gegen Sachen oder Personen angewandt (Baumert 2006, S. 160). - Ende Zitat Füller.

Die Hypothese des „Bodensatz-Effekts“ zeigt also, wie verschiedene Faktoren zusammen wirken können. Hieb- und stichfest beweisen lässt sich die Hypothese, dass der „Bodensatz-Effekt“ für die vergleichsweise schlechten Leistungen der Sitzenbleiber verantwortlich ist, jedoch kaum: Allenfalls lässt sich dafür argumentieren, dass vorhandene Zahlen nicht anders oder nicht besser erklärt werden können als unter Zugrundelegung einer solchen Hypothese. Diesen Weg beschreiten zum Beispiel Tillmann und Meier (2001): Ihrer Ansicht nach legt eine genaue Analyse der Zahlen nahe, dass die im internationalen Vergleich schlechte Leistung deutscher Schüler nicht dadurch erklärt werden kann, dass die Deutschen ihre Kinder später als andere einschulen (oder eingeschult haben), sondern dass einzig das „Durchreichen“ (also das Sitzenbleiben in Kombination mit dem Versetzen in eine niedrigere Schulform) die statistischen Beobachtungen erklären können. Füller:

Zwei Drittel der Verzögerer resultieren aus Klassenwiederholungen und ein Drittel aus verspäteter Einschulung. (Tillmann/Meier 2001: 473) Sitzenbleiben gibt es allerdings in vielen anderen europäischen Ländern auch. Wieso hat das Sitzenbleiben in Deutschland andere Effekte als anderswo? Weil es einen Unterschied macht, ob ein Schüler in einem Schulsystem mit einer Schule sitzenbleibt – also von seinen Schulkameraden nicht getrennt und eine andere Schule verbracht wird. Oder ob er, wie im deutschen System mit mehreren hierarchischen Schulformen, nicht nur aus einer Klasse, sondern sogar aus der (höheren) Schule fliegt. Dann stellen sich die dramatischen Kompositionseffekte ein, die Baumert beschrieben hat. Allerdings: Die Leistungen werden auch dann schlechter, wenn es nicht zur „Abschulung“ kommt, wie das böse Wort hierzulande heißt. Das haben Tillmann und Meier (2001: 474 f.) in einer multivariaten, dreifaktoriellen Varianzanalyse gezeigt.

Bildungsforscher wenig glaubwürdig

Der Untersuchungsgang der zitierten Studien wurde im ursprünglichen Faktencheck nicht im Einzelnen rekapituliert. Ein Manko, vielleicht: So hat es im Forum beispielsweise recht ausgedehnten Rechendiskussionen über im Beitrag zitierte Zahlen gegeben.) Andererseits: Die entsprechenden Experten-Diskussionen dürften für einen Großteil der Leser zu stark ins Detail gehen. Und solange die Fachwelt in den genannten Punkten nicht zerstritten ist, besteht auch wenig Notwendigkeit, die Details nachzuprüfen. Darüber hinaus: Diejenigen Leser und Kommentatoren, für welche selbst der einhellige Konsens der Bildungsforscher kein Beleg dafür ist, dass das Sitzenbleiben eher schadet als nützt, würden auch durch detailliertere Begründungen nicht überzeugt werden können. Beredtes Zeugnis hiervon legen insbesondere die vielen polemischen Stellungnahmen auf faz.net:

Nicht nur das Sitzenbleiben muss man für unsere kommenden "Eliten" abschaffen! Nein, natürlich auch die Schul- und Examensnoten müssen noch weg!

Denn nicht gerade selten sind die Leistungsverweigerer oder Überforderten auch diejenigen, die den Unterricht stören, dafür sorgen, dass in einer normalen Hauptschule die erste Viertelstunde der Unterrichtsstunde damit beginnt, dass Ruhe in den Laden gebracht wird.

Ein Hoch auf das leistungslose Leben, so würde ich dieses Ansinnen einordnen. Es passt zu einem Staat, in dem Gleichmacherei und Durchschnitt zum politisch korrekten Mainstream erhoben werden.

Abitur bereits zur Einschulung......und alle Noten abgeschafft, damit auch ja kein Minderleister negative Erfahrungen macht. Und irgendwann vergeben dann auch die Universitäten das Diplom bereits bei der Immatrikulation.

Pseudomoderner Quatsch von linken Erziehungswissenschaftlern hat auch in der Vergangenheit selten zu besseren Erfolgen und Schulabgängern geführt. Was da nicht schon alles ausprobiert wurde und gescheitert ist…

Die Rolle des Lesers

Welche anderen Rollen als die polemische One-Man-Show haben Leserinnen und Leser in diesem Faktencheck? Zum einen stellt sich immer wieder die Frage, ob die auf statistischem Wege erlangten Erkenntnisse sich mit der eigenen Erfahrung decken. Haben die Forscher etwas übersehen? Bringt der Einzelfall Erkenntnisse, die vielleicht unter den Tisch gefallen sind? Welche Schlüsse sind aufgrund der Untersuchungen der Bildungsforscher für das individuelle Handeln zu ziehen – und welche nicht? ( Der „Kamm, über den alle geschoren werden")

Nicht zuletzt: Welche politischen Empfehlungen können aus den Befunden der Forschung abgeleitet werden? Denn selbst wenn als erwiesen gelten könnte, dass das „Sitzenbleiben“ die Leistung von schlechten Schülern eher mindert als verbessert: viele andere Gründe sind im Spiel, die dennoch dafür sprechen könnten, das Sitzenbleiben beizubehalten!

Großen Raum nimmt die schließlich Frage nach Alternativen ein: Was könnte besser sein, was könnte wichtiger sein, als sich über die Abschaffung des Sitzenbleibens Gedanken zu machen? Wie könnte die Qualität von Lehre – und von Lehrern – verbessert werden? Ausgiebig diskutiert wurde insbesondere der Vorschlag, den Schulunterricht nach dem Vorbild des Kurssystems an der Universität zu organisieren. Anstatt dass alle Fächer im Klassenverband unterrichtet werden, könnte der einzelne Schüler so in jedem Fach auf einem Kursniveau eingestuft werden, welches seiner Leistung entspricht. Wer in Mathematik schlechte Leistungen erbringt, würde nur in diesem Fach zurückgestuft – anstatt auch in Deutsch und Geschichte zum Wiederholen gezwungen zu werden.

Die zusammengestellten Überlegungen und ein guter Teil der Leserkommentare finden sich auch diesmal wieder auf der überarbeiteten Argumentkarte:

http://www.debattenprofis.de/wp-content/uploads/2013/03/sitzenbleiben_gesamt_klein.jpg

Die Karte kann hier als Bilddatei geöffnet (und im Browser mit Hilfe der Lupenfunktion betrachtet werden) oder hier mehrseitiges PDF heruntergeladen werden (etwas schwieriger in der Handhabung als die Bilddatei, aber dafür mit funktionierenden Weblinks).

Links & Literatur: siehe Extra-Seite

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Aufmacherfoto: Ian Waldie/ AFP/ Getty Images

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ralf Grötker

Wissenschaftsautor.Zwischenzeitlich Redakteur der Wissens-Seiten beim FREITAG

Ralf Grötker

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