Auf dem Weg in die Abseitsstadt

Hohe Mieten Ein angemessener Mietspiegel, angemessene und bezahlbare Wohnimmobilien sowie bezahlbare Lebens- und Arbeitsbereiche sind starke Schutzräume für Individuen und Familien.

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Geht es um hohe, teils nicht finanzierbare Mieten, so tritt das Thema Gentrifizierung auf den Plan – die Problematik der Ausdifferenzierung sozialer Schichten und Ghettoisierung bestimmter Stadtteile. Auf Deutsch: Reiche wohnen in teuren, tollen, attraktiven Stadtteilen, ärmere Menschen und Studenten oder finanziell wenig potente Bürger müssen in unattraktiven Stadtteilen wohnen. Attraktiv heißt viel Grünflächen, saubere Häuser, gepflegte Straßen, attraktive gastronomische Angebote und zahlreiche Geschäfte. Unattraktiv heißt: Dreckige, ungedämmte Wohnbaracken, kaputte Straßen im Wohngebiet, fehlende Einkaufsmöglichkeiten jenseits von Aldi und Lidl, höhere Kriminalität oder Angst davor.

Sozialer Wohnungsbau erliegt

Problem ist: Der soziale Wohnungsbau in Deutschland ist zum Erliegen gekommen, die Zahl der Sozialwohnungen in Deutschland ist laut Spiegel seit 2002 offenbar um rund ein Drittel auf weniger als 1,7 Millionen zurückgegangen. Über 800.000 Wohnungen fehlen nach Ansicht des Deutschen Mieterbundes (DMB) in diesem Bereich bis 2017, aktuell fehlen 250.000 Mietwohnungen in Deutschland, vor allem in Großstädten, Ballungszentren und Universitätsstädten und private Investoren müssen das Feld „Immobilienmarkt“ beackern. Und Investoren wollen einen Return on Invest, eine satte Verzinsung. Schöne Häuser mit toller Ausstattung kosten Geld, das Geld gibt es vom Mieter zurück samt angenehmer Verzinsung, die höher sein muss als das Geld von der Bank. Im Gefolge der solventen Mietern kommen gastronomische und sonstige Anbieter, die mit attraktiven Angeboten den neuen Bewohnern das Geld aus der Tasche ziehen wollen.

Extreme Mietforderungen

Während sich die Zahl der Fertigstellungen nach wie vor auf niedrigstem Niveau bewegt – ca. 65.000 bis 70.000 Mietwohnungen – und der Bestand der noch 1,5 Mio. Sozialwohnungen jährlich um 100.000 Einheiten schrumpft, wächst die Zahl der Haushalte in Deutschland, vor allem in den Städten, weiter. Zwischen 2002 und 2010 stieg die Zahl von 38,7 Mio. auf 40,3 Mio. Haushalte. Nach Zahlen des Bauministeriums werden im Jahr 2025 rund 41,1 Mio. Haushalte eine Wohnung benötigen. Die Folge sind hier drastisch steigende Mieten, insbesondere Neuvertragsmieten. Preissprünge von bis zu 10 Prozent innerhalb eines Jahres oder Mietforderungen, die mitunter 30 oder über 40 Prozent und mehr über den Mieten in bestehenden Mietverhältnissen liegen, sind für einen Großteil der Mieterhaushalte nicht bezahlbar. Beim Abschluss eines neuen Mietvertrags wird von neuen Bewohnern bis zu 44 Prozent mehr Miete als von Bestandsmietern verlangt, wie der Deutsche Mieterbund mitteilt.

Weitere Beispiele: In Regensburg liegt der Unterschied zwischen Bestands- und Neuvertragsmieten den Angaben zufolge bei 36 Prozent, in Heidelberg bei 35 Prozent, in Mainz bei 31 Prozent. In Frankfurt am Main müssen neue Mieter ebenfalls fast ein Drittel mehr Miete zahlen als alteingesessene. In München beträgt der Unterschied 26 Prozent. Dort ist der Durchschnittswert für Neumieten mit 12,30 Euro pro Quadratmeter bundesweit am teuersten. Bestandsmieter zahlen dort schon durchschnittlich 9,75 Euro - also fast so viel wie neue Mieter in Konstanz.

Mieten in beliebiger Höhe

Bei einem Mieterwechsel könne der Vermieter die Miete „in nahezu beliebiger Höhe festsetzen", kritisierte DMB-Geschäftsführer Ulrich Ropertz. Leidtragende seien Verbraucher, die aus beruflichen Gründen umziehen müssten, junge Familien oder Studienanfänger. Damit auch sie eine "Chance auf dem Wohnungsmarkt" hätten, müsse eine Obergrenze für Neuvertragsmieten festgelegt werden, forderte Ropertz. Diese dürften die ortsübliche Vergleichsmiete nicht mehr als zehn Prozent übersteigen.

Entweder Städte investieren mehr in sozialen Wohnungsbau, oder die Mieten steigen wegen fehlender Angebote bei hoher Nachfrage weiter. Und die Gentrifizierung schreitet voran. Perfidie ist auch zur Stelle: Berlins regierender Bürgermeister Wowereit spricht gegenwärtig von einem Zeichen von neu gewonnener Attraktivität für seine Stadt, wenn die Mietpreise anziehen – es stellt sich die Frage, für wen die höheren Preise attraktiv sind und ob man in einer solchen Bestandsaufnahme überhaupt ein Problem und Handlungsbedarf sieht.

Soweit die offizielle Version.

Gewaltige Geldflussprozesse

Inoffiziell stellt sich die Sache anders dar:

  • Es handelt sich eigentlich nicht um teure oder steigende Mieten in Städten oder Ballungszentren inklusive teurem Leben und hohen Kosten. Sondern um eine gigantische Geldumverteilungsveranstaltung von vielen Gebern zu wenigen Empfängern.
  • Auch geht es um Lebenswertqualität auf Basis von möglichen Sparpotentialen für Mieter durch günstigere Mieten: Bürger, die weniger für Miete ausgeben, haben mehr Geld für eigene Zwecke bis hin zum Vermögensaufbau. Und mehr für den Konsum benötigter oder erwünschter Produkte oder Dienstleistungen oder für andere Statussymbole bis hin zu Dingen, die die Lebenswertqualität subjektiv steigern helfen. Konkret: Bürger, die viel Geld für Miete aufwenden, haben weniger für andere Ausgaben. Werden hohe Mieten fällig, fließt also weniger Geld in viele Kassen bis hin zum Staatssäckel zurück, dafür viel Geld in wenige Taschen.
  • Auch geht es um einen vermeintlichen Vermögensaufbau von Immobilienbesitzern auf Kosten der Allgemeinheit. Die Kapitalgeber des Wohnungsmarktes lassen sich durch Mieter ihr Vermögen beliebig – in einigen Fällen dramatisch hoch − verzinsen. Und im Falle von Sozialtransferleistungen, die Mieter erhalten, durch die Allgemeinheit. Und dies seit einigen Jahren immer höher.

Im Ergebnis sorgen die Städte und Gemeinden mit ihrer Wohnungspolitik dafür, inwieweit Menschen das Einkommen an andere wieder abgeben müssen und inwieweit dieser Rückfluss einen altruistischen Charakter einnehmen kann oder nur wenigen Investoren zugutekommt. Insofern beeinflusst die Wohnungsbaupolitik ein Stück weit, wie das zur Verfügung stehende Einkommen der Allgemeinheit zugutekommt. Je mehr Stadtteile entstehen, deren Bürger viel Miete zahlen müssen, desto mehr sorgen diese Städte oder Gemeinden dafür, dass der Gesellschaft weniger zurückfließt.

Die Attraktivität einer Gemeinde oder Stadt als Förderer eines hohen Rückflusses der Einnahmen, die einer breiten Masse und auch dem Staat zugute kommt, kann zukünftig als entscheidender Standortfaktor kultiviert werden.

Grundgesetz schützen

Noch weitere Faktoren sind hier zu erwähnen:

  1. Grundsätzlich ist Wohnraum mehr als ein banales Renditeobjekt. Es ist der geschützte, zuweilen intimste Bereich des eigenen Lebens. Es ist ein Raum des Rückzugs für Familie und das Individuum, ein Ort, an dem man zurückgezogen ist, unbeobachtet, der Geborgenheit vermittelt und dadurch Sicherheit. Der Staat muss auch diesen Bereich schützen. In Artikel 13 des Grundgesetzes ist dies auch mit der Unverletzlichkeit der Wohnung dokumentiert. Wer also Wohnraum lediglich als banalen Aufenthaltsort sieht, „verletzt“ insofern diesen grundgesetzlich eingeräumten Schutzbereich. Dem Gesetzgeber ist dies durchaus bewusst, denn diesem eigentlich banalen Grundsatz folgen 6 lange Absätze, in denen umständlich staatliche Einschränkungen in diese „Unverletzlichkeit“ gerechtfertigt werden. Und bereits in Artikel 2 des Grundgesetztes steht, dass „[j]eder […] das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ hat.

    Diese Entfaltung ist nur möglich, wenn es einen Entfaltungsraum gibt, in den die Bestimmung als Person und die Entfaltung der Persönlichkeit ungestört und frei möglich ist. Selbst Artikel 8 mit der Versammlungsfreiheit, „friedlich und ohne Waffen“, bedeutet unter Einbeziehung des zweiten Absatzes (Beschränkung dieser Freiheit unter freiem Himmel), dass die eigene Wohnung oder das eigene Haus auch die Möglichkeit von Treffen im Schutze dieser Intimität und Freiheit ermöglicht.

    Eine clevere Stadt oder Gemeinde kann gerade hier für einen hohen Attraktivitätsfaktor sorgen. Durch günstiges Bauland, durch Verzicht auf viele Zusatzkosten, die das Leben vor allem für junge Familien erschwert, durch Bereitstellen von günstigen Wohnungen oder den Bau und günstigen Verkauf moderner Immobilien. In Kombination mit den technischen Voraussetzungen für mobiles Arbeiten oder Heimarbeitsplätze und entsprechenden Kooperationen mit ansässigen Firmen oder Betriebe im weiteren Umkreis, wird ein solcher Attraktivitätslevel zusätzlich erhöht.

  2. Bedenkt man, dass beispielsweise in Frankfurt im Schnitt über 22 % Prozent des erwirtschafteten Einkommens an den Vermieter gehen, so unterstützt der Staat den Geldzufluss an Menschen mit Kapital, wenn er hohen Mieten nicht gegensteuert. Hier geht es also um Geldflussprozesse. Demgegenüber steht, dass innerhalb der Stadt üblicherweise auf den ÖPNV zurückgegriffen werden kann, was die Lebenshaltungskosten erheblich senken hilft: Ein Auto kostet monatlich selbst als Kleinstwagen mehr als 300 Euro, wie der ADAC 2012 festgestellt hat. Ein Skoda Fabia 1.2 kostet bei 15.000 km Fahrleistung, die auf dem Land entstehen, zwischen 352 und 372 Euro im Monat. Muss das Auto finanziert werden, kommen noch zusätzliche Kosten wie Zinsen obendrauf.

    Wenn auf ein Auto verzichtet werden kann und wenn die Kosten für den ÖPNV geringer sind als die für den Unterhalt von Autos, dann erhöht sich das verfügbare Einkommen der Bürger, unabhängig von Mietzinszahlungen.

    Im Ergebnis bedeutet das: Es kommt nicht so sehr darauf an, wie viel Miete jemand zu bezahlen hat, sondern auf das zur Verfügung stehende Einkommen, welches „ausgegeben“ werden kann. Dem Staat ist es durchaus möglich, erheblich in die Geldflussprozesse verschärfend oder abfedernd einzugreifen, die im Umfeld von Mietzinszahlungen eine Rolle spielen. Der ÖPNV ist nur ein weiteres Beispiel dafür.

  3. Andererseits erhalten Familien mit Kindern einen ordentlichen Rabatt durch Freibeträge bei Steuern. Und zudem durch ein ordentliches Kindergeld einen satten Bonus, so plant der Staat alleine für 2013 Kindergeldzahlungen von knapp 33 Milliarden Euro. Dadurch fällt die Belastungsgrenze von Familien, die auf einen geschützten Wohnraum auch vor dem Hintergrund des Artikel 6 des Grundgesetztes angewiesen sind („Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“), weiter ab und das zur Verfügung stehende Einkommen wird erhöht. Bedauerlich, wenn dieses Einkommen dann nur wenigen durch hohe Mietzinsbeiträge zufließt. Eine Stadt, in der gesellschaftliche Separation und eine Wohnbaupolitik betrieben wird, die zu wenigen und teuren Wohnungen führt, stellt somit auch die Familie und eine kinderreiche Zukunft in Frage und sich und das Grundgesetz ins Abseits.

  4. Verkannt wird, dass die Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt und die Probleme bei der Wohnungsfindung für junge Familien, für Familien mit vielen Kindern, für Studenten, aber auch für Berufstätige mit niedrigerem Einkommen oder Senioren, die durch Luxussanierungen aus jahrzehntelang bewohnten Wohnungen vertrieben werden, auch gegen das Grundgesetz in anderer Hinsicht verstoßen: Artikel 14, Absatz 2 beschreibt deutlich, dass „Eigentum verpflichtet“. Und weiter: „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“. Ein alter Hut, natürlich. Aber es gibt wohl keine Bereiche des täglichen Lebens, wo Eigentümer einer Immobilie nicht mehr oder weniger dem Wohl der Allgemeinheit dienen als durch das zur Verfügung stellen bezahlbaren Wohnraums auch abseits von Mondmietzinssätzen.

    Eine nur moderate Verzinsung der Immobilieneigentümer, die deren Vermögen ebenfalls mehren hilft, dient wohl mehr dem Allgemeinwohl als ein sich aufheizender Wohnungsmarkt, der immer mehr Menschen ins Abseits drängen lässt und sicherlich nicht „der Allgemeinheit“ dienlich scheint.

  5. Ein Innenstadtbereich, der durch Spekulationen beim An- und Verkauf und durch sich stetig erhöhende Mietzinssätze in seiner Bevölkerungszusammensetzung innerhalb weniger Jahre verändert wird, wird auf diese Weise zu einem Freilichtmuseum für Besucher aus dem Umland respektive zu einem quasi touristischen Ausflugsziel für Besucher aus anderen soziokulturellen Bereichen. Dies ist nichts anderes als eine Ghettoisierung im eigenen Land, die zwangsläufig zu einer Entfremdung der Bürger gegenüber diesen Stadtteilen führt und zu einer stetig geringeren Identifikation mit der Stadt oder der Kommune.

    Im Ergebnis sinkt das Interesse dieser entfremdeten Schichten für die Belange der Kommune und deren Probleme. Chancen sieht man lediglich in fremden, weit entfernten Welten, für die man wegen des emotionalen und geographischen Abstands kein Verständnis aufbringt.

  6. In anderen Ländern wie Amerika gibt es bereits Gebiete, die von anderen nicht betreten werden können: Sicherheitsdienste sorgen dafür, dass man nur unter persönlicher Befragung diese eigentlich öffentlichen Wohngebiete betreten kann, polizeiähnliche Privatkräfte verfolgen Besucher, die dies tun. Und ebenso, wie sich Ausgestoßene wenig mit dem Stadtteil identifizieren und diese eher als Fremde betreten, fühlen sich die Ansässigen durch beobachtende Besucher zunehmend gestört und belästigt. Eine Separation innerhalb eines Stadtteils wird forciert.

    Das Problem ist, dass die Anziehung derjenigen, die sich die Behausung in einem teuren Stadtteil leisten können, eher durch das von anderen sozialen Schichten ungestörte Klima und die gewollte Separation stattfindet, aber wenig mit der Stadt oder Kommune und seiner Geschichte zu tun hat, wenig mit gewachsenen Emotionen und sich entwickelten Klebeeffekten. Ändern sich wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die mit der Stadt oder Kommune nichts zu tun haben, so besteht die Gefahr, dass die neuen, aber bindungsschwachen Bewohner den Ort ebenso schnell wieder verlassen, wie sie gekommen sind. Zurück bleibt Ödnis.

  7. Es ist eine Perspektivenfrage, die die Politik auch ehrlich diskutieren muss: Will man eine Gesellschaft, deren einzelne Teile sehr weit voneinander entfernt sind – finanziell, kulturell, bildungstechnisch, arbeitsintegriert? Möchte man Wohnbereiche, die die Entfremdungen einzelner Gesellschaftsschichten voneinander dokumentieren und dadurch auch verstärken?

Stärkung des Grundgesetzes

Somit ist ein angemessener Mietspiegel, sind angemessene und bezahlbare Wohnimmobilien, sind bezahlbare und schöne Lebens- und Arbeitsbereiche und sind starke Schutzräume für Individuen und Familien nicht etwa Ausdruck fehlender Attraktivität – wie man in Umkehr der Aussage des Bürgermeisters Wowereits vermuten könnte. Sondern Stärkung der Heimatbindung, Stärkung geschützter Lebensräume, in denen Bürger ihre Persönlichkeit entwickeln können.

Es bedeutet Wohlstandsmehrung, die Stärkung gesellschaftlicher Bindungen untereinander, die Stärkung familiärer und erzieherischer Prozesse und zum anderen Erhöhung stattlicher Einnahmen durch höheren Konsum. Und letztlich die Stärkung des Grundgesetzes. Alle, die sich über hohe Mieten freuen – auch die Eigentümer–, sollten dies wissen.

Artikel aus aktuellem HessenHORN, Ausgabe August, Edition 2013. http://www.hessenhorn.de

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Hörner

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