Für einen verantwortungsvollen Liberalismus

Zukunft der Grünen - Der Parteitag der Grünen in Berlin war einer des personellen Umbruchs. Die substanziellen Debatten über die Zukunft der Partei stehen dieser noch bevor. Von Robert Zion

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Jede geschlossene Ideologie tendiert zu autoritären Systemen. In harten Worten ausgedrückt ließe sich sagen, dass demgemäß der Sozialismus zum Stalinismus und der Kapitalismus zum Faschismus tendieren. Darum auch nannte der damalige Generalsekretär der FDP Karl-Hermann Flach, von dem diese harten Worte stammen, den Liberalismus eine „politische Relativitätslehre“: „Wo der Liberalismus in den Bereich anderer Geisteshaltungen eindringen konnte, hat er sie enttabuisiert, relativiert, humanisiert“. Nun haben die Grünen auf ihrem Parteitag nach der Wahlniederlage unter anderem einen sehr erstaunlichen Satz beschlossen: „Wir wollen zeigen, dass der Deutsche Bundestag mit der FDP nur eine neoliberale Partei verloren hat, nicht aber eine Kraft für einen verantwortungsvollen Liberalismus. Selbstbestimmung und Liberalität sind bei uns Grünen zu Hause.“

Solch ein Bekenntnis, den Liberalismus als Substantiv für sich zu reklamieren, war für die Grünen lange überfällig. Dem Liberalismus geht es um Freiheit, Selbstbestimmung, Pluralität und Toleranz. Toleranz gegenüber abweichende Ansichten; um die Pluralität der Gesellschaft wie sie tatsächlich ist – und nicht eines Bildes, das man sich von ihr konstruiert -, um Selbstbestimmung und um die Arbeit daran, die Menschen zu dieser auch zu befähigen; um die Freiheit der größtmöglichen Entfaltung des Individuums und eben nicht der größtmöglichen Herabsetzung oder Verdrängung des jeweils anderen. Und natürlich hebt Freiheit die Notwendigkeit nicht auf, sie setzt sie voraus.

Über den Liberalismus und die Freiheit redet man nicht mal eben so in naheliegenden Kurzschlüssen. Weder ist dies eine Frage der Technologie und der Verfahren, in der sich die Piraten allzuschnell veroberflächlicht und verfangen haben, noch ist dies nur eine Frage eines Bekenntnisses zu den Menschen- und Bürgerrechten. Der Liberalismus verlangt daher zunächst eine Ordnungslehre, deren oberstes Ziel die Vermeidung von Vermachtung und Zwang ist – in der Wirtschaft, im politischen System und in der Gesellschaft. Denn Freiheit ist nicht die Freiheit derjenigen, die sich durchgesetzt haben oder die Freiheit einer kleinen Schicht, auch nicht die Freiheit der Obrigkeiten - Freiheit ist die Freiheit der größtmöglichen Zahl von Menschen.

Jede Gesellschaft braucht daher Institutionen, die die Menschen zu einer solchen Freiheit und Selbstbestimmung befähigen, Institutionen der Bildung, der Kultur, der Wirtschaft, des Rechtsstaates und der sozialen Sicherheit. Mit ungleichen Startchancen, in materieller Not und mit Existenzängsten, mit Bevormundung und Obrigkeitsdenken, mit wirtschaftlichen Machtgebilden und vereinheitlichenden kulturellen Hegemonievorstellungen gibt es keine Freiheit für die größtmögliche Zahl.

Der Liberalismus arbeitet daher immer wieder und erneut an gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen die Abwesenheit von Zwang erst die Räume für eine humanere Gesellschaft ermöglicht. Für die Schlüsselfrage einer ökologischen Transformation unserer Gesellschaft und Wirtschaft ist daher der Befund für einen „ökologischen Humanismus“ (Ludger Volmer) eindeutig und klar, er setzt andere „gesellschaftlichen Verhältnisse voraus. Solange sie fehlen könnte der Zusammenbruch nur mittels Restriktionen, Rationierungen, autoritären Zuteilungen von Ressourcen verhindert werden, wie sie für eine Kriegswirtschaft charakteristisch sind“, so André Gorz, der Erfinder des Begriffs der „politischen Ökologie“. Überhaupt: „Insofern ist der Liberalismus kriegsfeindlich. Krieg zwingt jede Partei zu derart konzentrierter Gewaltsteigerung, dass auch die Freiheit der Freiheitsverteidiger in Gefahr gerät. Das Gleiche gilt für die Gewaltanwendung überhaupt“ (Karl-Hermann Flach).

Als politische Relativitätslehre kennt der Liberalismus nur ein ethisches Grundpostulat: Dass der Zweck niemals die Mittel heiligen darf. Bezüglich der gewaltigen Aufgabe einer ökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft ist dies vielleicht noch die Aufgabe, an dem wir Grüne am intensivsten zu arbeiten haben: Nicht den Zweck einer nachhaltigen Lebensweise unter allen Umständen und mit allen nur denkbaren Mitteln erreichen zu müssen, sondern eine nachhaltige Gesellschaft bauen zu müssen und eben nicht die Menschen mit ökologisch-ethischen Vorschriften beherrschen zu wollen. Die Achtung vor dem Leben und das Vertrauen in dessen Potenziale ist daher der spezifische ethische Kern eines Grünen Liberalismus, denn: „Leben verspricht Freiheit. Wo kein leben ist, kann sich auch keine Freiheit mehr entwickeln“ (Karl-Hermann Flach).

Darum auch ist die Frage der Ökologie nicht in erster Linie eine, die sich an uns als nachhaltige Konsumenten richtet, sondern an uns als selbstbestimmte Wirtschaftsbürger und Produzenten; darum ist die Frage nach der Abwesenheit von materieller Not und Existenzängsten keine des Vorschreibens, Kontrollierens und Umsorgens, sondern einer wirklichen sozialen Garantie; und darum ist die Frage nach der Freiheit unter Gleichen keine nur formale, sondern eine der tatsächlich gleichen Start- und Lebenschancen. Der Liberalismus misstraut daher dem Kapitalismus zutiefst – und er würde ihm keine Träne nachweinen, wenn es uns nicht gelingen sollte, ihn grundsätzlich und tiefgreifend zu humanisieren und zu ökologisieren.

Unter der fortlaufenden Entwicklung von sich zunehmend bei einigen wenigen konzentrierender Vermögenszuwächse „vermachtet unsere Wirtschaft“ (Walter Eucken) und damit unserer Gesellschaft immer mehr. Das quälende Nichtstun oder zu wenig Tun beim ökologischen Umbau droht uns immer mehr in regulatorische Zwänge und Verteilungskämpfe zu treiben. Ein ausgrenzendes statt einschließendes Bildungs- und Sozialsystem zementiert unserer Zwei-Drittel-Gesellschaft. Ein vollkommen aus allen Fugen geratener Sicherheitsbegriff zerstört rasant unserer bürgerlichen Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte. Europa, die Wiege des politischen Liberalismus, renationalisiert sich nach innen und schottet sich nach außen ab. Unsere Freiheit ist daher in sehr großer Gefahr. Die politische Relativitätslehre des Liberalismus ist daher wichtiger den je. Geben wir ihr als Grüne noch eine Chance.

Darum stehen wir als Partei die nächsten Jahre eben nicht vor der Aufgabe mit diesen oder jenen Regierungsbildungen zu ermöglichen. Wir stehen vor der Aufgabe, jetzt substantiell herausarbeiten zu müssen, dass es im Grunde für die Grünen um eine Richtungsentscheidung geht. Um die Erneuerung des Sozialstaates, um die Erneuerung Europas, um die Erneuerung unserer Wirtschaft. Damit diese unter gänzlich anderen Bedingungen ihre alten Versprechungen wieder erfüllen: frei von Existenzängsten, frei von Krieg und Ressentiments und frei von materiellen, d.h. auch ökologischen Überlebenskämpfen zu sein. Wir stehen vor dieser Rechtungsentscheidung als eine Partei, deren Mitglieder und Wähler soziografisch aus der Mitte dieser Gesellschaft kommen. Darum sollten wir nicht jetzt auch noch fälschlicherweise den Eindruck vermitteln, wir müssten erst noch dorthin. Die Wertkonservativen bei uns Grünen sind keine "Tea Party". Ihre Haltung entspringt einer tief empfundenen ethischen Haltung für die Bewahrung unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Aber auch sie müssen sich der "politischen Relativitätslehre" des Liberalismus stellen.

Es geht daher nun darum, welche gesellschaftlichen und politischen Bündnisse wir für unseren Weg für notwendig erachten und nicht darum, für wen wir jetzt eine Mehrheitsfunktion erfüllen könnten. Der Niedergang des wahren Liberalismus bei der zur Funktionspartei und zum Mehrheitsbeschaffer gewordenen FDP sollte uns daher eine Mahnung sein. Ebenso wie der abzusehende weitere Niedergang der SPD. Sowohl die FDP der siebziger Jahre als auch die SPD waren einmal ernstzunehmende progressive Programmparteien, die sich nicht scheuten intensiv an ihren Gesellschaftsanalysen und Wertesystemen zu arbeiten. Sie schöpften ihre Kraft nicht zuletzt auch aus ihrer Widerständigkeit gegen den in Deutschland traditionell hegemoniellen Konservativismus. Und immer begann der Niedergang dort, wo sie nicht mehr primär um gesellschaftliche Mehrheiten sondern um schlichte Regierungsbeteiligungen gekämpft haben, wo die Personen in den Vordergrund traten und nicht mehr das Programm.

So zeichnet sich im Jahr 2013 ab, dass es nur noch wir Grüne sein könnten, die in dieser Gesellschaft einen sozial-ökologisch Interessenausgleich konzeptionell und machtpolitisch zu organisieren imstande sind. Den Preis dafür bestimmen nur wir selbst. Noch ist bei uns kein Ausverkauf und es muss auch nicht dazu kommen. Wenn wir denn den Mut haben, widerständig und eigensinnig genug zu bleiben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Robert Zion

Gruenen-Politiker, Publizist

Robert Zion

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