Ob im Libanon, im Irak, im Iran oder in Algerien – wo immer derzeit Straßen und Plätze zu Schauplätzen des Aufruhrs werden, gibt es neben schwerem sozialen Unrecht besonders den einen Anstoß: Die ganze Gesellschaften zermürbende Niedertracht der Vetternwirtschaft. Sie ist nicht nur Kennern der Länder aus persönlicher Erfahrung bekannt, sondern wird seit Jahrzehnten in verlässlichen empirischen Untersuchungen ergründet.
Jahr für Jahr legt die NGO Transparency International (TI) einen ländervergleichenden „Korruptionswahrnehmungsindex“ vor, der ein Staaten-Ranking zur Folge hat. Aus dem Urteil von mindestens zehn unabhängigen Institutionen, die TI zusammenführt, ergibt sich ein Index von 0 bis 100. Verzeichnet
rzeichnet ein Land einen Wert zwischen 80 und 100, so wird ihm geringe „Wahrnehmung von Korruption“ angezeigt – es gilt als „integer“ bis „hochinteger“, wie Dänemark, Schweden und Neuseeland, denen 2018 als den Spitzenreitern der TI-Skala 85 bis 88 Punkte zuerkannt wurden (Deutschland 80). Von den 180 untersuchten Ländern blieben im Vorjahr mehr als je zuvor, zwei Drittel nämlich, unter der Marke von 50, was sie vom Prädikat her zwischen „korrupt“, „besonders korrupt“ und „hoch korrupt“ schwanken ließ. Auf lediglich 10 bis 13 Punkte brachten es Somalia, Syrien und der Südsudan und damit Länder, die seit Jahren von bewaffneten inneren Konflikten heimgesucht werden.Altes System, neue SpielerWomit sich die Frage stellt: Wie aussagekräftig ist der Index? Wird er Kontexten gerecht, in denen Länder wie Letztere nun einmal existieren? Die Ursachen und Arten von Korruption variieren. Es steht nicht fest, wo sie anfängt und wieder aufhört. Und sind die beispielsweise in der EU als legal geltenden Aktivitäten von Wirtschaftslobbyisten gegenüber Regierungen oder die von Parteien getroffene Sonderzusagen an bestimmte Wählergruppen nicht ebenso Korruption? Schließlich, findet die folgenreichste Korruption nicht auf internationaler Ebene statt? Gerade die Länder, von denen sie ausgeht, halten sich in der Regel für nicht korrupt.Normalerweise geht es beim Label Korruption um Praktiken, die Bürgern zu schaffen machen, wenn Dienste im Bildungs- und Gesundheitswesen – wie in Ägypten oder im Irak – nur gegen illegale Zuzahlungen gewährt werden. Oder wenn administrative Leistungen nur gegen ein Bakschisch zu haben sind. Dafür kann eine prekäre personelle und technische Ausstattung der Grund sein, ebenso gelenkte staatliche Repression. Beides ist in den angeführten Staaten nicht selten der Fall.Nach wie vor gilt der Norden Afrikas als korruptionsverseucht. Mit einem Positiv-Index von jeweils 43 Punkten lagen Tunesien und Marokko 2018 knapp unter dem Durchschnitt weltweit. Algerien und Ägypten standen mit je 35 Punkten klar schlechter da, Libyen mit 17 am schlechtesten (siehe Übersicht). Aber weder diese Bewertung noch der jeweilige Durchschnittsverdienst sagen viel aus. Wie Lebensqualität von unterschiedlichen Sozialleistungen abhängt, so auch vom Treiben korrupter Behörden.Respekt nötigt augenblicklich der energische Widerstand ab, der sich vorrangig im Libanon und Irak, in Algerien und Tunesien gegen grassierende Korruption formiert. Er richtet sich nicht allein gegen Alltagsformen, sondern ein System, in dem sich Spitzen der Wirtschaft und Politik Vorteile zuschanzen. Häufig geschieht das im Zusammenspiel mit internationalen Eliten, die davon profitieren, dass der Verzicht auf protektionistische Gesetze für ein neoliberales Wirtschaftsmodell von Vorteil ist. Chawki Habib – unter dem Regime des 2011 gestürzten Autokraten Ben Ali einst Präsident der tunesischen Anwaltskammer – meint rückblickend, die Korruption zu drosseln, sei ein Grundmotiv des Arabischen Frühlings vor acht Jahren gewesen. Seitdem führe er die nationale Instanz, die den Sumpf der Klüngel austrocknen wolle. An der Fassade seines Bürohauses prangt der Spruch: „Wir mussten korrumpieren, um einen Organismus zu bekommen, der die Korruption bekämpft“. In einem Interview verwies Chawki Habib schon 2017 darauf, dass 52 Prozent der tunesischen Ökonomie eine rein informelle Basis hätten, was der Verwaltung anzulasten sei und vier Prozent Wachstum koste. Subventionierte Produkte würden nach Libyen, Mali und in den Sudan verschoben. Terrorismus, Korruption und Schwarzhandel mit Zigaretten und Medikamenten gehörten zusammen – das seien „kommunizierende Röhren“.Schnelle VerjährungTatsächlich wagten es die in Tunesien seit dem Arabischen Frühling Regierenden nicht, das mafiotische System anzugreifen. „Die Korruption hat sich demokratisiert. Das alte System wurde durch neue Spieler regeneriert, die totale Straffreiheit genießen“, so Chawki Habib. Als bei der Präsidentenwahl Ende 2014 von 70 Bewerbern 20 einen wirtschaftskriminellen Hintergrund hatten, sei die Gesellschaft alarmiert gewesen, so Habib. Nur, was habe sich getan? Nicht viel. Wenigstens habe Staatschef Youssef Chahed 2016 Antikorruptionsgesetze erlassen, die Kläger gegen korrupte Praktiken besser schützen sollten. Andererseits scheute Chahed das Risiko, gegen Direktoren von Staatsfirmen oder gegen Zollbeamte als den schwärzesten Schafen unter 600.000 Staatsbediensteten ermitteln zu lassen. Dass er damit Versprechen brach, bescherte ihm prompt einen Misserfolg bei der Präsidentschaftskandidatur 2019. Dass er einen der Korruption angeklagten chancenreichen Mitbewerber, den Medienmogul Nabil Karoui, kurz vor der Abstimmung in Untersuchungshaft beförderte, nährte den Verdacht, er diene damit eigenen Interessen.Genau das unterstellen in Algerien die weiter andauernden Freitagsproteste der Armeeführung. General Gaïd Salah, der sich innerhalb der alten Staatsspitze zum unerbittlichen Korruptionsjäger aufgeschwungen hat, will sich offenbar selbst und eine Entourage hoher Militärs schützen. Mancher davon hat es verstanden, die Privatisierungswelle der 1990er Jahre dazu zu nutzen, um über Strohmänner oder Familienmitglieder profitable Geschäftsnetze aufzubauen. 2018 – noch unter Präsident Bouteflika – wurde Abdelghani Hamel, Ex-Chef der Polizei, samt seinen Söhnen festgenommen, weil man im Hafen von Oran eine Schiffsladung Kokain entdeckte. Die gab es nur, weil Hamel seine Dienstmacht dazu missbraucht hatte, um einen solchen Frachter lange unbehelligt zu lassen.Halim Feddal, Generalsekretär des Nationalen Vereins zur Korruptionsbekämpfung in Algier, glaubt nicht an durchschlagende Erfolge. Was es an Gesetzen gab, sei unzulässig gelockert. Statt nach zehn würden Korruptionsvergehen schon nach drei Jahren verjähren, was die Anzahl der anhängigen Fälle 2019 von 10.000 auf 6.000 verringert habe. Feddal macht die Armeeführung für einen „Missbrauch der Justiz“ verantwortlich. Deren Ziel sei es, bei der Geißel Korruption, „eben jenen Volkswiderstand zu desorientieren, der einen radikalen Wandel des Systems, seiner Symbole, Institutionen und Regularien will“.
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