„Autist“ ist keine Beleidigung!

Diskriminierung Ist der Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst Autist? Wer oder was ist eigentlich ein Autist? Wider dem Gebrauch des Begriffs "Autist" als Schimpfwort!

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Dass Kinder Fehlleistungen ihrer Altersgenossen oft mit der rhetorischen Frage kommentieren „bist du behindert?“, ist für wirklich behinderte Menschen diskriminierend. „Der ist behindert“, wird in der Jugendsprache abwertend für jeden gebraucht, der von der vermeintlichen Norm abweicht. „Behindert“ ist ein Schimpfwort und die Gesellschaft stellt sich taub. Denn während andere Schimpfwörter wie „Kannake“ oder „Neger“ inzwischen tabuisiert sind, geht „behindert“ meistens durch, ohne dass Eltern, Lehrer und Erzieher sanktionierend eingreifen.

Aber warum sollten es die Kinder auch besser wissen. Erwachsene, ja sogar die Medien, leben es ihnen ja vor. Wer wurde da nicht zuletzt alles als „Autist“ oder als „autistisch“ bezeichnet. Immer wenn ein Mensch oder sogar eine ganze Gruppe sozial unsensibel und auf sich zentriert agiert, wurde ihr das Etikett „Autist“ angeklebt. Zuletzt war es der Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst, der im Verdacht stand, irgendwie krank oder gar ein Autist zu sein. Der Bruder des Bischofs dementierte dann von Bild bis Spiegel, dass Tebartz-van Elst nicht unter dem Asperger Syndrom – einer besonderen Form des Autismus – „leide“.

All dies zeigt nur eines, dass die Gesellschaft der Neuronormalen, so die Bezeichnung für Menschen ohne neurologischen Befund, erhebliche blinde Flecken hat und dass die Gesellschaft als Ganzes noch längst nicht dort ist, wo sie sich wähnt. Denn während seit einiger Zeit Schulen selbstverständlich behinderte inkludieren sollen, ist das Wissen über Behinderungen, speziell über den Autismus, zurückgeblieben.

Autisten werden in der Mehrheitsgesellschaft meist als „Sensation“ wahrgenommen. Bekannt sind unter den Autisten einige wenige „Stars“, die mit weit überdurchschnittlichen Inselbegabungen wie Rechenkünsten oder Gedächtnisleistungen ihr Publikum faszinieren können. Der Film „Rain Man“ hat hier leider ein völlig falsches Bild über Autisten verbreitet, welches schwer zu korrigieren ist. Natürlich ist es diesem und anderen Filmen zu verdanken, dass „Autismus“ heute nicht mehr nur einem kleinen Fachpublikum bekannt ist. Dennoch haben alle diese Filme etwas gemeinsam: Der Autist ist fast immer ein Held mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten, der etwas Besonderes leistet.

Die meisten Autisten – und es leben einige Tausend unter uns – haben mit diesen Stars nichts zu tun. Nicht wenige unter ihnen fallen im ersten Moment gar nicht auf. Erst durch ihre „spleenige“ Art der Kommunikation, oder wenn sie in Krisen kommen, wird man auf sie aufmerksam. Dies gilt insbesondere für die leichteren Formen vom Typ „Asperger“ oder „frühkindlicher Autismus“. In den extremeren Ausprägungen können die Betroffenen oft nur eingeschränkt oder auch gar nicht sprechen und kommunizieren.

Autisten wird durch ihre besondere Art unterstellt, sie seien in sich eingeschlossen, introvertiert und nur auf sich zentriert. Ihre Umwelt und ihre Mitmenschen würden sie nicht interessieren. Durch ihren Ich-Bezug würden Autisten ihre Mitmenschen nur als Werkzeuge und Instrumente für ihre Interessen wahrnehmen und sich daher ständig antisozial verhalten.

Dies alles sind Vorurteile, die zeigen, wie wenig die komplexe Welt der Autisten wahrgenommen wird. Autisten können nämlich ungeheuer sensibel sein. Vielleicht ist es sogar gerade ihre Sensibilität und ihre Unfähigkeit, sich gegen äußere Reize und die permanente Reizüberflutung abzuschotten, die sie zu eigenartigen, oft zum Rückzug neigenden Menschen macht. Genaues weiß man nicht, denn eine schlüssige Theorie, wie Autismus entsteht und was im Nervensystem bei Autisten anders läuft als bei Neuronormalen, gibt es noch nicht. Vieles, was Wissenschaftler dazu in den letzten Jahren veröffentlicht haben, ist immer noch Theorie, und wartet auf Überprüfung.

Was man aber ganz sicher heute sagen kann ist, dass Autismus weder durch kaltherzige Eltern entsteht, noch dass Autisten egoistische Monster sind, die sich nicht in die Gesellschaft integrieren lassen, wie man vor noch gar nicht so langer Zeit annahm.

In diesem Sinne ist es eine Unverschämtheit, die Persönlichkeitsdefizite eines abgehobenen Bischofs, der ganz offensichtlich den Bezug zur Realität in der Gesellschaft verloren hat und der sich Kritik- und Beratungsresistent zeigt, mit einem Menschen zu vergleichen, der von Autismus betroffen ist. Ja betroffen! Denn Autisten „leiden“ zumeist nicht an ihrem Autismus, wenn die Umstände unter denen sie leben und arbeiten und die Menschen, mit denen sie zu tun haben, auf ihre besonderen Bedürfnisse eingestellt sind.

Die Öffentlichkeit muss lernen, egoistisches, rücksichtsloses und selbstbezogenes Handeln von Politikern und anderen Personen als solches zu benennen und nicht sofort das Etikett „Autismus“ zu verwenden. Die wirklichen Autisten können nun so gar nichts für das Fehlverhalten dieser Leute!

Der Autor ist Vater einer Tochter mit Asperger-Syndrom.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Saltadoros

Olaf Schäfer: Pädagoge, Musiker...

Saltadoros

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden