Der Neoliberalismus macht uns krank. So könnte man es zusammenfassend sagen. In seinem aktuellen Buch "Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft" kritisiert der in Gent lehrende Psychoanalytiker Paul Verhaeghe unser Wirtschaftssystem scharf und zeigt auf, welche Folgen die Unterwerfung unter das Diktat der Ökonomie für den Einzelnen hat.
Auf den ersten einhundert Seiten seines neuen Buches beschreibt Verhaeghe erst einmal, was Identität eigentlich ist, nämlich eine Konstruktion, die schon ab der Geburt durch den Umgang der Eltern mit dem Neugeborenen beeinflusst wird und keinesfalls unveränderlich. So wird unsere Identität auch im späteren Leben von außen geprägt.
Und ebenso wie uns unser Umfeld positiv beeinflussen kann, wirken sich äußere Einflüsse, etwa aus der Werbung, dem Bildungswesen und so weiter auch negativ auf unser Selbstbild aus. Zwischen Jugendlichkeitswahn, Konsumentenfreuden und der Vorstellung, jeder sei seines Glückes Schmied sei eine Gesellschaft entstanden, in der viele Menschen sich unzulänglich fühlen, in Identitätskrisen fallen und psychisch krank werden.
"Noch nie, heißt es, ging es uns so gut - doch nie haben wir uns so schlecht gefühlt."
Die Diagnosen Angstleiden, Depression, Burnout, aber auch ADHS haben eklatant zugenommen. Das weiß Verhaeghe aus der eigenen Praxis und belegt es durch seriöse Studien. Eine Frage, die sich hierbei stellt, ist, inwiefern gewisse Abweichungen von der Norm heute vorschnell als psychische Erkrankung definiert werden.
Im heute herrschenden neoliberalen Wirtschaftssystem, das sich in jegliche Winkel des Lebens ausbreitet, fehle es vor allen Dingen an Gemeinschaftsgefühl. Der Mensch steckt in der Zwickmühle zwischen seiner Suche nach Identifikation innerhalb einer Gemeinschaft und Individualisierung. Was ehemals die Freiheit war, sich selbst zu erschaffen, ist gemündet in einen Zwang, sich permanent selbst zu optimieren. Unsere Freiheit, so Verhaeghe, sei an die Bedingung geknüpft, Erfolg haben zu müssen.
Zum Schluss des Buches ruft Verhaeghe dazu auf, wieder ein politisches System zu schaffen, "das die stets schwierige und notwendige Balance von Übereinstimmung und Verschiedenheit herstellt, von Gruppe und Individuum, von diktierter Gleichheit und freier Wahl." Er plädiert für mehr sinnstiftende Tätigkeit, für intrinsische Motivation statt rein finanziellen Anreizen. Wie aber der Weg dorthin aussieht, verrät er leider nicht. Eines aber ist klar, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Umstruktierung wird keine leichte Aufgabe. Aber ganz gewiss eine lohnenswerte.
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