Den Nihilismus hinter sich lassen

Rezension Rund um den Globus reihen sich Revolten von Menschen, die nicht mehr Ausgeschlossene sein wollen. Wie wird aus den Erhebungen eine gesellschaftliche Alternative?

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Die Geschichte, die zum Gründungsmythos des Arabischen Frühling gehört, ist schon oft erzählt worden, weshalb hier eine skizzenhafte Erinnerung genügt: Vor drei Jahren, am 17. Dezember 2010, zündete sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid, einer Kleinstadt im Süden von Tunesien, aus Protest gegen seine elende Lage an und starb wenige Tage danach an seinen Verbrennungen. Der symbolische Funke dieses Feuers sprang über und wurde zum Steppenbrand eines Volksaufstandes, der den diktatorisch regierenden Präsidenten Ben Ali zur Flucht zwang und eine Revolution auslöste. Dieses Fanal verstanden auch viele andere Unterdrückte in der arabischen Welt und erhoben sich gegen ihre Herrscher.

Seither scheint die Kette der Proteste, Revolten und Aufstände nicht mehr abzureissen, auch wenn die einzelnen Bewegungen in den meisten Fällen so schnell von der Bildfläche verschwinden wie sie dort aufgetaucht sind. Haben sie die Kraft, etwas zu verändern, oder sind es vergebliche Versuche des Aufbegehrens? Können sie die herrschende Ordnung untergraben und geht etwas Neues aus ihnen hervor? Und was wäre überhaupt dieses Neue? Eine Demokratie nach westlichem Vorbild? Würden die an den Rand Gedrängten und Ausgeschlossenen dort überhaupt einen Platz finden?

Den Blick erweitern

Viele Fragen – und kaum Antworten: Das ist die geistige Lage, in der wir uns gegenwärtig vorfinden. Alain Badiou, der radikale Philosoph aus Frankreich, hat eine Analyse der aktuellen Entwicklungen versucht. Mit seinem Buch weitet er den Blick auf die tumultuösen Bewegungen der Gegenwart, indem er sie in den Zusammenhang der Emanzipationsgeschichte stellt, die nicht zuletzt die Geschichte revolutionärer Ideen ist. Seine These lautet: Wenn Aufstände nicht mit einer Idee zusammenwirken, dann kommt in ihnen auch kein Erwachen der Geschichte zum Ausdruck. Die von einem staatlichen Mord im Sommer 2011 in London hervorgerufene Eruption jugendlicher Gewalt blieb ohne dauerhafte Wahrheit, weil in jenen Tagen ohne Begriff zerstört und geplündert wurde. Der Gewaltausbruch wütete gegen sich selbst und führte zur Vermischung mit dem kleinen oder grossen organisierten Verbrechen, das Badiou als «eine wichtige Form der Korruption der Volkssouveränität durch die herrschende Ideologie des Profits» nennt.

Trotz dieser Kritik verfällt der Autor nicht in eine Denunziation solcher Revolten, sondern er fragt danach, wie aus dem «unmittelbaren» ein «geschichtlicher Aufstand» werden kann. Als geschichtlich wird ein Aufstand verstanden, der sich vom Nihilistischen ins Vor-Politische transformiert. Was heisst das? Der Aufstand muss einen zentralen Ort finden, er muss über die unmittelbar Beteiligten – zumeist Jugendliche – möglichst viele Kreise des Volkes erreichen und er muss sich in gemeinsamen Forderungen artikulieren können. Die Revolten in den arabischen Ländern haben diese Bedingungen erfüllt. Dies ist, wie die Entwicklung der vergangenen drei Jahre gezeigt hat, allerdings noch kein Garant für ihren Erfolg. Dazu bedarf es der politischen Organisation, dem «Kreuzungspunkt einer Idee und eines Ereignisses».

Ereignis und Wahrheit

Doch zunächst einmal stellt sich die Frage, wer es ist, der aufsteht. Badiou meint, es sei der in der bisherigen Welt Inexistente, der sich da erhebt: «Man lag am Boden, geknickt, man steht auf, man erhebt sich.» Erst wenn dies geschieht, wird eine Weltveränderung real – nämlich dadurch, dass «ein in der Welt Inexistenter beginnt, in eben dieser Welt mit maximaler Intensität zu existieren». Auf diese Inexistenten hat Papst Franziskus unlängst in einem Apostolischen Schreiben hingewiesen: Diese würden als überflüssig gelten und wie Abfall behandelt. Die «ungewöhnlich harsch und polemisch vorgetragene Kapitalismuskritik des Papstes» (NZZ, 27. November 2013) bestätigt viele Analysen, die sonst vor allem in linken Kreisen zu finden sind. Badiou geht einen Schritt weiter als der Papst: Die Ausgeschlossenen dieser Welt lassen sich nicht alles gefallen. Manche von ihnen stehen auf, wenn auch nur für einen Moment. Das ist der Augenblick eines geschichtlichen Ereignisses.

Gelingt es, durch Organisation etwas von den Impulsen dieses Moments festzuhalten und weiterzutragen, können daraus politische Wahrheiten entstehen. Eine politische Wahrheit besitzt man nicht, indem man behauptet, im Recht zu sein. Wahrheiten entwickeln sich im Prozess des Ringens um politische Neuerungen und Revolutionen. Wir scheuen uns, von «Wahrheit» zu sprechen und reden lieber von Meinungen – von denen allerdings immer noch gilt, dass die herrschenden Meinungen die Meinungen der Herrschenden sind. Badiou hingegen hält am Wahrheitsbegriff fest. Bei diesem geht es darum, das Gemeinsame der Menschheit herauszuarbeiten: die Fragen nach Gerechtigkeit, Gleichheit und Universalität.

Das Gemeinsame (französisch «commun») hat für Alain Badiou mit dem Kommunismus zu tun. Damit ist aber nicht der Partei- und Staatskommunismus des 20. Jahrhunderts gemeint, welcher aus dem autoritären Geist von Armeen und Sturmabteilungen geboren wurde. Badiou macht sich vielmehr für Marx‘ These vom notwendigen «Absterben des Staates» stark, mit dem eine den Interessen des Kapitals verpflichtete Bürokratie die Gesellschaft umklammert hält. Darüber müsste wieder einmal vertieft diskutiert werden.

Alain Badiou: Das Erwachen der Geschichte. Aus dem Französischen von Richard Steurer-Boulard. Wien: Passagen Verlag 2013, 135 S., € 17.50

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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