Klärung der Begriffe

Rezension Der Philosoph Alain Badiou gilt als Vordenker eines erneuerten Kommunismus. Zwei Debatten-Bände geben Einblick in seine Sicht einer Welt, die der Veränderung bedarf

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Europa scheint vor einer Renaissance des Nationalen, möglicherweise auch des Nationalismus, zu stehen. Die knappe Zustimmung der Schweizer Stimmbürgerinnen und -bürger zur sogenannten Masseneinwanderungsinitiative ist bei vielen in Deutschland, Frankreich und anderswo auf fruchtbaren Boden gefallen: Migration gilt als sichtbarster Ausdruck eines globalisierten Kapitalismus, der die soziale Sicherheit und die kulturelle Identität in Frage stellt. Der Protest dagegen gibt sich anti-elitär, doch die Verteidigung des Eigenen richtet sich nicht gegen die Angriffe der herrschenden Kreise, sondern gegen die vermeintliche Bedrohung, die von «unten», von den durch Migration geprägten Randschichten, kommt.

Unter dem Blickwinkel des Rechtspopulismus, der in den vergangenen Jahrzehnten weite Verbreitung gefunden hat, verwandeln sich soziale Konflikte in ethnische Gegensätze. Die Konfrontation der Klasseninteressen verschwindet so hinter der Nebelwand des Nationalen. Viele Herzen werden verstockt und Hirne verdunkelt, weil es an klärenden Kontroversen fehlt. Der französische Philosoph Alain Badiou scheut sich nicht davor, das Feld des ideologischen Kampfes zu betreten. Davon zeugen die Streitgespräche, die er mit Alain Finkielkraut geführt hat und die inzwischen auch in deutscher Übersetzung erschienen sind.

Finkielkraut ist einer der führenden «antitotalitären» Denker Frankreichs, gehört jedoch nicht zum Medienkartell der «neuen Philosophen», das Ende der 1970er Jahre als Reaktion auf jene entstand, welche an den emanzipatorischen Impulsen vom Mai ʼ68 festhalten wollten. Finkielkraut behauptet, Badiou sei gefährlich, weil dessen zunehmende Resonanz in der Öffentlichkeit ein «Symptom der Rückkehr der Radikalität» darstelle. Badiou hingegen nimmt Finkielkraut als einen wahr, der das Geschäft einer konservativen Gegenrevolution betreibt. Trotzdem waren beide bereit, einer Einladung der Journalistin Aude Lancelin zur kontroversen Debatte zu folgen.

Über Widersprüche im Volk

Auch wenn diese Diskussionen bereits Ende 2009 und Anfang 2010 stattfanden – an Aktualität haben sie nichts verloren. Gerade angesichts der bereits skizzierten Renaissance des Nationalen bedarf es dringlicher Erklärung, welchen Weg Europa heute geht. Alain Finkielkraut diagnostiziert mit grossem Bedauern und einem Hauch von Melancholie, dass die französische Kultur im Verschwinden begriffen sei. Was ihn traurig stimmt, ist «die Zerstörung der Erde, die Zunahme der Hässlichkeit, die Zerstörung der Aufmerksamkeitsfähigkeit, das Verschwinden der Stille». Diese Trauer findet ihren tiefsten Grund im Auftreten der Fremden, die sich nichts aus dieser Kultur machen, sie sogar verachten: Muslime aus dem Maghreb und anderswoher, die ihre Frauen und Töchter zwingen, den Schleier zu tragen.

Alain Badiou hält ihm entgegen: Es sei doch viel wichtiger, «den harten Kern der aktuellen Macht» anzugreifen als Migranten, die, «da sie von anderswo herkommen, noch die Attribute dieser Andersheit haben». Für ihn geht es dabei, maoistisch gesprochen, um «Widersprüche im Volk», nicht um «Widersprüche zwischen und uns dem Feind». Man komme heute nicht um die Kategorie des Feindes herum, meint Badiou. Ein solches Denken gilt als anachronistisch und erinnert an Stalinismus und Terrorismus. Will er an diese Tradition anknüpfen, wie ihm Finkielkraut unterstellt? Badiou erklärt, er sei durchaus fähig, «die verheerende Bilanz der staatlichen Kommunismen des 20. Jahrhunderts zu ziehen». Das sei aber kein Grund, die herrschenden Verhältnisse zu tolerieren.

Finkielkraut beharrt darauf, dass muslimische Migranten die «Gastlichkeit» Europas missbrauchen und dass es notwendig sei, die Errungenschaften des Sozialstaats zu verteidigen, indem der Zugang besser kontrolliert werde. Ganz ähnliche Argumente waren und sind im Zusammenhang mit der «Masseneinwanderungsinitiative» zu hören. Badiou befürchtet, solche Begründungen würden den Boden dafür bereiten, dass bei einer verschärften Krisenentwicklung des Kapitalismus die Sündenböcke bereits bereitstehen. Er wirft Finkielkraut vor, sich in einem «falschen Widerspruch» zu verfangen: Kapitalismus oder Islamismus. «Der Islamismus, für mich sind das kleine faschistische Gruppen […] Ich habe keinerlei Sympathie für diese Leute und ich halte sie für absolut schädlich.»

Kommunismus: Totalitär oder vielfältig?

Ein weiterer Themenkreis der Kontroverse zwischen den beiden Denkern befasst sich mit dem Judentum, Israel und dem Universalismus. Darauf gehe ich hier nicht näher ein. Bei der Diskussion über die Folgen des Mai ʼ68 werden noch einmal die Fragen nach dem Niedergang der französischen Kultur aufgeworfen. Badiou kommt Finkielkraut entgegen, indem auch er die Auflösung von Institutionen und Hierarchien, insbesondere die Auflösung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses, beklagt. Er sieht darin allerdings das Wirken eines kapitalistischen Konsumismus: Das ganze System habe die Jugendlichen in den Vorstädten bestärkt, nur noch von Handys und den richtigen Turnschuhen zu träumen.

Die abschliessende Gesprächsrunde dreht sich um «den vergangenen und den kommenden Kommunismus». Alain Finkielkraut hält die kommunistische Idee durch alle Formen des realen Kommunismus für unwiederbringlich «kompromittiert». Diese Idee könne nicht mehr von den «Verbrechen des Kommunismus» befreit werden. Alain Badiou hält die Geschichte des Christentums dagegen: Könne man denn behaupten, dass die spanische Inquisition die 2000 Jahre der Existenz der christlichen Idee zusammenfasse? Man müsse auf den wahrhaften Sinn des Wort «Kommunismus» zurückkommen – nämlich auf «die Hypothese, dass die menschlichen Gesellschaften nicht notwendigerweise vom Prinzip des privaten Eigennutzes geleitet werden».

Die 70 Jahre sowjetischer Erfahrung seien lediglich ein winzig kleiner und mit vielen Fehlern behafteter Anfang einer anderen Geschichte, die sich vermutlich noch über mehrere Jahrhunderte erstrecken werde, meint Badiou. Finkielkraut bleibt skeptisch: Er sieht in Badious Denken zu viele Überbleibsel totalitärer Konstruktionen und lässt sich nicht auf dessen These ein, dass Kommunismus die «Herrschaft der Vielfalt» bedeuten müsse.

Kampf gegen den Nihilismus

Um die «Idee des Kommunismus» geht es auch in einem weiteren Band des Wiener Passagen Verlages, der viele der Bücher von Alain Badiou in deutscher Sprache herausgegeben hat. Der Verleger Peter Engelmann kommt aus der ehemaligen DDR und war dort in den frühen 1970er Jahren aus politischen Gründen zu zwei Jahren Haft verurteilt worden. Im Gespräch mit Badiou bringt er seine Erfahrungen mit dem «realexistierenden Sozialismus» sehr zurückhaltend ein. In einer Notiz zum Gespräch stellt er fest, dass der Dissens über die Bedeutung der realen Geschichte der kommunistischen Bewegung und der auf marxistisch-leninistischer Doktrin basierenden Staaten für die Erneuerung der kommunistischen Idee nicht ausgeräumt worden sei.

Das Gespräch gibt Badiou viel Raum, seine philosophische Konzeption und seine politischen Anschauungen in einer gut fasslichen Form zu entwickeln. Es geht um Grundfragen nach dem Subjekt der Geschichte und seinem Verhältnis zur Unendlichkeit, die bei Badiou nicht im theologischen Sinne zu verstehen ist. Sein A-Theismus grenzt sich allerdings vom gängigen Atheismus ab, den er in den westlichen Gesellschaften vorherrschend sieht. Mit dem Verzicht auf Gott verzichte man zugleich auf alles, was zu ihm gehört hat: «das Absolute, das subjektive Heil, die Fähigkeit, das Gute zu tun und es zu wünschen». Stattdessen gehe es darum, ohne Gott möglichst bequem zu leben.

Die nihilistische Lehre, die aus dem «Tod Gottes» gezogen wurde, sei nicht die von Friedrich Nietzsche, hält Badiou fest. Dieser habe vielmehr versucht, diesen Nihilismus zu bekämpfen, «indem er sagte, dass der Mensch fähig sei, über den Menschen hinauszuwachsen». Nietzsches «Übermensch» könne in faschistischem Sinne verstanden werden – aber man könne ihn auch «als etwas Positives» begreifen. Nietzsches Versuch, in der Lebenskraft die Lösung des Problems dieser Übermenschen zu finden, sei hingegen fehl am Platz. In Wirklichkeit sei die Lebenskraft «ganz und gar blind».

Eine andere Gesellschaft ist möglich

Der weitere Verlauf des Gesprächs dreht sich um Hegel, die Dialektik und Karl Marx als Geschichtsphilosophen, Gesellschaftstheoretiker und politischen Menschen. Gerade in dieser Komplexität stellt Marx für Badiou einen interessanten Bezugspunkt her. So gehe es für Marx beim revolutionären Übergang einer Gesellschaftsformation in eine andere nicht um eine Notwendigkeit der Geschichte, sondern um deren durchaus prekäre Möglichkeit. Der Kommunismus ist so nicht einfach das ausgedachte Ziel des geschichtlichen Prozesses, sondern eine reale Bewegung, welche auf die Emanzipation der gesamten Menschheit ausgerichtet bleibt – und dabei immer wieder scheitern kann.

Getragen wird die Bewegung, so Badiou, von der «Überzeugung, dass ein anderer Organisationstyp der Gesellschaft möglich ist als der, der heutzutage vorherrscht». Er betont, wie bereits im Gespräch mit Finkielkraut, dass Stalin nicht mit dem «Wesen der Kommunismus» gleichgesetzt werden könne. Marx habe genau gewusst, dass es eine «strategische Unvereinbarkeit der kommunistischen Idee mit der Staatsmacht» gebe. Die Erfahrungen mit den sozialistischen Staaten des 20. Jahrhunderts hätten diese Einschätzung bestätigt.

Die Revolutionäre des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts hätten jedoch geglaubt, dass nach der blutigen Niederlage der Pariser Kommune eine militärisch disziplinierte Partei notwendig sei, um der Herrschaft des Kapitals entgegentreten zu können. Das Scheitern dieses Weges sollte zur Einsicht führen, dass Dezentralisierung und Gewaltlosigkeit – «jedenfalls so wenig gewaltsam wie möglich» – die Grundlage jeglicher emanzipatorischen Bewegung bilden, führt Alain Badiou im Gespräch mit Peter Engelmann aus.

Heute gehe es darum, die kommunistische Idee wieder zu rekonstruieren. «Man muss kleine lokale Zentren politischer Erfahrung organisieren, man muss an der grossen Bewegung teilnehmen» und diese praktischen Versuche mit theoretischen Arbeiten begleiten. Alain Badiou liefert dazu fruchtbare Anstösse. Sie machen deutlich, dass es hier nicht um einen Denker im akademischen Elfenbeinturm geht, sondern um einen politischen Menschen, der sich ins Getümmel wirft, um zur Klärung der Begriffe beizutragen, die für politischen Handeln im emanzipatorischen Sinn benötigt werden.

Alain Badiou, Alain Finkielkraut: Klartext. Eine Kontroverse. Eingeleitet und moderiert von Aude Lancelin. Aus dem Französischen von Richard Steurer-Boulard. Wien: Passagen Verlag 2013, 153 S., € 19.90

Alain Badiou: Philosophie und die Idee des Kommunismus. Im Gespräch mit Peter Engelmann. Aus dem Französischen von Erwin Steinbach. Wien: Passagen Verlag 2013, 108 S., € 14,90

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert

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