Der Jurist als Verfassungsfeind?

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Das Diktat der Wutbürger“ werde „vom Grundgesetz geschützt“ lässt, nein, nicht die National- Zeitung, sondern Springers Welt am 7. Dezember 2011 meinen. Und Meinen darf diesmal ein Andreas Thomsen, der als „Fachanwalt für privates und öffentliches Baurecht [sic!], Medienrecht sowie Handels- und Gesellschaftsrecht“ vorgestellt wird und in Berlin „Politikberatung sowie spieltheoretisch fundierte Strukturberatung“ betreiben soll, was immer das auch sein mag. Klingt jedenfalls mächtig modern.

www.welt.de/debatte/kommentare/article13755773/Das-Diktat-der-Wutbuerger-vom-Grundgesetz-geschuetzt.html

Und Herr Thomsen spielt mit dem Grundgesetz. Genauer gesagt mit den Artikeln 8 Absatz 1 und 5 Abs. 1 aus denen sich das sogenannte Demonstrationsrecht zusammensetzt. Der angesehene Politologe Wolf-Dieter Narr umreißt die Sache so:

Demonstrationen.....sind das Mittel, mit dem Gruppen ihre unterdrückten oder der etablierten Herrschaft und ‚Ordnung‘ entgegenstehenden Interessen äußern. Dem lateinischen Wortsinn gemäß wird in Demonstrationen auf etwas hingewiesen, etwas nachgewiesen, etwas öffentlich und damit kenntlich gemacht. Demonstrationen ….. werden von kleineren oder größeren Gruppen von Menschen unternommen. Sie wenden sich an andere Menschen, nicht selten an die Vertreter einer etablierten Ordnung, denen vorgeworfen wird, Missstände zu übersehen, zuzulassen oder selbst herzustellen. Demonstrationen schaffen also dort, wo sie stattfinden, Unruhe. Sie ärgern. Sie stellen geordnete Zustände und die Ruhe als erste Bürgerpflicht in Frage.“

Narr zitiert dann den Verfassungsrichter beim dafür zuständigen 1. Senat, Wolfgang Hoffmann-Riem, der im Zusammenhang mit der Frage des Verbots von Demonstrationen der NPD klarstellt, dass die Versammlungsfreiheit "eine Fundamentalnorm einer demokratischen Gesellschaft" sei. „Sie stelle "nicht nur ein Abwehrrecht der einzelnen Bürgerinnen und Bürger gegen Eingriffe des Staates" dar, sondern enthalte "auch den Schutzauftrag an den Staat, konkret also an Polizei und Gerichte". Daraus folge: "Der Schutz des Grundrechts gilt für alle Versammlungen, und zwar ohne inhaltliche Bewertung des Anliegens oder gar seiner gesellschaftlichen Wünschbarkeit. Schutz besteht damit grundsätzlich auch für Rechtsextremisten, aber nicht unbegrenzt."

www.cilip.de/ausgabe/72/demo.htm

…...Sehen wir einfach mal darüber hinweg, dass dieser Schutz für S21-Demoinstranten nie wirklich galt, vielmehr die Profitinteressen von Bahn, Bau- und Immobilienbrache stets als höherwertig betrachtet wurden. Bis hin zum Schutz von kriminellen Handlungen durch die Polizei....

stscherer.wordpress.com/2011/11/06/stuttgart-21-hat-die-polizei-eine-straftat-ermoglicht-und-dabei-rechtswidrig-burgerrechte-missachtet/

Wenn hinter dieser Aussage kein politisch rechter oder rechts-konservativer Hintergrund steckt, sondern ein Wissen um das, was die Verfasser des Grundgesetzes als Lehre aus einer Geschichte zogen, die weit hinter das sogenannte „Dritte Reich“ zurückreicht, von diesem aber in unvorstellbarer Weise auf die Spitze getrieben und pervertiert wurde, dann zeigt sie mit kaum mehr zu überbietender Deutlichkeit, wie fundamental dieses Grund- und Menschenrecht einzuschätzen ist, das nicht zuletzt Minderheiten eine Stimme geben soll – gegen die Mächtigen und gegen die Mehrheit. Und deswegen ist tunlichst zu vermeiden, hier mit Ausgrenzungen zu beginnen, und sei es eine Minderheit, die sich offen zu einer Tradition bekennt, die die dieses Recht nicht nur mit Füssen getreten hat, sondern gegen Minderheiten bis zum Äußersten gegangen ist, nämlich bis zu deren industrieller Ausrottung.

Umgekehrt darf man vielleicht annehmen, dass jeder, der leichtfertig mit diesem Grundrecht hantiert, sich – gewollt oder nicht - in genau solche Traditionen stellt. Und Thomsen ist nicht irgendein besoffener Stammtischbruder irgendwo hinterm Wald. Er ist auch kein Politiker mit erhöhtem Ruhebedürfnis, weil mit erhöhtem Dreck am Stecken. Er ist Jurist, einer, der sich offenbar einmischt, und es ist schwer vorstellbar, dass er noch nie etwas vom Grundgesetz gehört hat. Wenn so einer aber Töne anschlägt, wie in der Überschrift der Welt, dann stellt sich erstens die Frage, wie werden Juristen hierzulande eigentlich ausgebildet. Und als zweite Frage schließt sich an: Was für Charaktertypen dulden wir eigentlich in den juristischen Berufen?

Natürlich - und das an euch, ihr linken Zyniker - sind diese Fragen mehr als naiv. Aber wenn es in einem politischen System niemanden mehr gibt, der solche naiven Fragen stellt, dann ist die ganze Juristerei korrupt, diese Korruption wird allgemein als normal toleriert, der Rechtsstaat ist insgesamt am Ende und es gilt längst das unverhüllte Recht des Stärkeren. Und selbst wenn es denn schon soweit wäre, gälte es immer noch, den Anspruch auf Verfassung und Recht zu erheben (siehe dazu auch meinen letzten Beitrag zu S21: www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/s21-nach-der-schlacht-2-demokratie-kaputt-verfassung-kaputt ).

Die zitierte Überschrift ist aber erst der Anfang. Wes Geistes Kind dieser „Jurist“ ist und welcher Art Weltbild er huldigt, offenbart er ohne jede Scham und ohne jede Kosmetik roh und unverblümt in seinem Beitrag – den man, bitteschön, nicht ohne Gedanken an den gerade erst aufgeflogenen rechten Terrorismus sehen sollte. Denn irgendwoher müssen diese Terroristen ja das Gefühl her haben, im richtigen Auftrag das Richtige zu tun.

Baden-Württemberg hat abgestimmt. Dort, wie auch in Stuttgart selbst, hat sich die Mehrheit der Bürger für den Fortgang des Bahnhofsprojektes "Stuttgart 21" entschieden“, beginnt der Herr Jurist seine Ausführungen und stellt damit schon mal klar, dass für ihn Dichtung allemal vor Wahrheit rangiert. Sich darüber kundig zu machen, worüber genau abgestimmt wurde, hat so jemand nicht nötig. Man beginnt zu ahnen, wie die „Fachjuristen“ des Herrn Mappus – gestellt vom Jura-Konzern Gleiss Lutz - zu der Ansicht gekommen sein mochten, der ENBW-Deal sei verfassungsmäßig. Und man macht sich auch so seinen Kopf über die Qualifikation des juristischen S21-Durchboxers Dolde, der das Land vor dem Staatsgerichtshof vertrat und die Ohrfeige der Verfassungswidrigkeit am Ende kassierte.

www.fr-online.de/politik/enbw-aktien-gutachter-belasten-mappus,1472596,7175740.html

www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.gleiss-lutz-kanzlei-im-strudel-des-enbw-skandals.f63d2f87-8d19-41ec-bbb7-d058bb5c0bd8.html

Richtig interessant aber wird es, wenn Thomsen schildert, wie er sich die spielerischen inneren Abläufe einer Demokratie – bzw. einer sozialen Marktwirtschaft innerhalb einer Demokratie – so vorstellt:

In einer hoch arbeitsteiligen und deshalb wohlständigen Welt, in der Zahnräder passgenau ineinandergreifen, hat eine gut organisierte, sich selber das Recht und die Moral zusprechende Minderheit immer die Macht, die Mehrheit zu dominieren. Sie muss sich nur auf einen kleinen Bereich konzentrieren, dann kann ein Stein an der richtigen Stelle eines Zahnrades das ganze Uhrwerk zum Stehen bringen. Dies ist ein Spiel, bei dem nur die Einzelinteressen gewinnen können und das Gemeinwohl und das Mehrheitsprinzip verlieren müssen.“

Kein Gedanke wird darauf verschwendet, zunächst einmal deutlich zu machen, dass hier zuvörderst angespielt wird auf ein Druckmittel der Gewerkschaften, mit dem diese – allgemein anerkannt – versuchen, aus ihrer Ohnmacht gegenüber der Macht der Besitzer von Produktionsmitteln wenigstens auf eine halbe Augenhöhe zu kommen, um der Lohnwillkür nicht völlig ausgeliefert zu sein und in der sogenannten Tarifautonomie über mehr als nur einen Papiertiger zu verfügen.

Und kein Hauch von Zweifel oder gar Erinnerung an jene Filme von Fritz Lang oder Charlie Chaplin scheint hier zu stören, in denen in solcher Art von industrieller Zahnrad-Organisation bereits die Struktur des späteren faschistischen Staates als verlängertem Bereich offen kapitalistischer Herrschaft aufschien.

de.wikipedia.org/wiki/Metropolis_%28Film%29

de.wikipedia.org/wiki/Moderne_Zeiten

Da hat der Anti-S21-Blogger Siegfried Busch als Ex-Konservativer mehr unabhängiges Hirn bewiesen, als er seinen Blog Metropolis21 nannte.

www.siegfried-busch.de/

Offenbar muss man schon ziemlich rechts ideologisiert sein, um bei Gedankengängen wie den Thomsenschen keine Gänsehaut zu bekommen. Und um auch erst gar keine Missverständnisse über die ideologische Verortung aufkommen zu lassen, baut er vor der Gesellschaft ineinandergreifender Rädchen einen unmissverständlichen ideologischen Wegweiser auf:

Eine Gruppe von zehn vermögenslosen Wutbürgern kann – ohne gegen Strafrecht zu verstoßen – durch Behinderung eines komplexen Bau- oder Transportvorhabens einen Schaden von mehreren Millionen Euro anrichten. Ein Staat oder ein Unternehmen kann aber nicht von zehn Vermögenslosen den Ersatz dieses Schadens erreichen. Von dieser Asymmetrie wissen sowohl der Ministerpräsident als auch die Bahn – aber auch die Organisatoren der Wutbürger.“

Vielen Dank, Herr Thomsen, für diese Richtigstellung des zentralen Marxschen Missverständnisses, in der gesellschaftlichen Asymmetrie seien die Habenichtse die Ohnmächtigen und Unterdrückten. Nein, es sind die armen Reichen und Mächtigen. Oh Gott, wie konnten wir das nur so lange übersehen und diese armen Menschen so ungerecht behandeln und unterdrücken!

Und nun fügt sich auch alles, was wir bisher nicht verstanden haben so leicht und logisch zusammen: die Habenichtse – hier dem Zeitgeist entsprechend Wutbürger genannt – haben ein, vom Grundgesetz auch noch eigens geschütztes, „Machtmonopol“:

Die dürfen dann alles, und alle anderen dürfen nichts. Insofern bleibt nur zu sagen: Ihr Wutbürger habt die Macht. Und wer sich eurer Unterstützung versichert, muss nicht mehr diskutieren. Stuttgart 21 hat gezeigt, dass es vollständig egal ist, welche Formen von demokratischer Legitimation die Mehrheit wählt. Am Ende wird mit dem Satz "Ich respektiere aber auch das Demonstrationsrecht" die Angelegenheit auf die faktische Ebene verlagert. Wo die Legitimationsdebatte nicht mehr weiterführt, übernimmt die faktische Verhinderungsmacht.“

Mein Gott, wie konnten wir nur so lange so blind sein und dies nicht erkennen? Wie konnten wir nur vergessen, dass der Führer nicht nur die Juden ausrotten ließ, sondern auch so viel Gutes für die armen Reichen und Mächtigen tat? Wie konnten wir nur zulassen, dass fremde Mächte uns dieses schändliche, „Grundgesetz“ genannte, Besatzungsrecht aufzwangen, das dem Pöbel ein Machtmonopol über die armen Kapitalisten sichert und sie daran hindert, nur das Allerbeste für uns alle zu wollen und zu tun?

Nein, Herr Thomsen, das alles haben Sie natürlich nicht gesagt. Und natürlich sind Sie auch kein furchtbarer Jurist. Ich habe den Titel auch nur deshalb so gemein formuliert, damit mich in diesem linken Saustall hier endlich mal jemand liest. Ehrenwort!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

seriousguy47

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