S 21: Demokratie oder Technofaschismus? Ein Versuch

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Ich kapituliere. Seit Wochen laufe ich der Desinformationsmaschinerie von Politik, Wirtschaft, Medien und Bahn hinterher und schaffe es nicht mehr. Das Lesen bewältige ich noch einigermaßen mit Mühe. Von Recherchieren kann keine Rede mehr sein. Und von einigermaßen ordentlichem, durchdachtem, strukturiertem und belegtem Schreiben auch nicht. Und das, obwohl ich mich auf teilweise exzellente Vorarbeit stützen kann. In meinem Fall vorzugsweise auf die von den Parkschützern regelmäßig zusammengestellten Medien-Links (1), auf die Trüffel, die dk1839 fortlaufend auf seiner Seite präsentiert (2), auf Politblogger (3), die Nachdenkseiten (4) u.v.a.m.

Aber der Unverfrorenheit, mit der die Desinformationsmaschinerie in immer höherem Tempo ihre Vernebelungen, Null- und Desinfomationen, ihre Halb- und Unwahrheiten und zunehmend auch Verleumdungen ausschüttet bin ich arbeitsmäßig nicht mehr gewachsen. Also bleiben all die Entwürfe, die sich im Laufe der Zeit auf meinem Schirm angesammelt haben weiter unvollendet. Es geht nur noch mit provisorischem Stückwerk.

Denn wichtig ist mir das Thema. Je länger es mich beschäftigt, desto mehr. Es passiert vieles, worüber man sich auseinandersetzen müsste. Es leiden auch persönliche Themen, die mir am Herzen liegen. Aber bei S21 geht es nicht nur um Bahnhof. Es geht um diese Demokratie und ihre Zukunft. Es geht darum, ob wir auch ohne alliierte Aufsicht und Belehrung in diesem Lande demokratie- und grundgesetzfähig sind. Oder ob in den Strukturen von Wirtschaft, Verwaltung, Justiz, Medien und Politik die autoritären Strukturen von Kaiserreich, Weimar und Nationalsozialismus unterschwellig überlebt haben wie Herpesviren, die lange Zeit verschwunden scheinen, um dann, in Phasen des Systemstress oder der Abwehrschwäche plötzlich voll zuzuschlagen. Und unsere Abwehrschwäche zeigte sich in vollem Umfang während des „neoliberalen“ Rollbacks, das längst nicht überwunden ist.

Es gibt in unserem System und seiner Verfassung von Anfang an einen ungelösten Grundkonflikt zwischen Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip. Wäre es nur ein Spannungsverhältnis zwischen zwei notwendigen Polen, zwischen denen wir uns, je nach Lage, immer wieder neu einpendeln, es wäre in Ordnung und ein Zeichen eines lebendigen, flexiblen, zukunftsfähigen Systems. Wenn aber, und das vermute ich, Rechtsstaat gleichgesetzt wird mit der unbegrenzten Vorherrschaft wirtschaftlicher Interessen einer polit-industriellen Nomenklatura und Sozialstaat völlig zur Disposition dieser Nomenklatura steht, dann wird die bürgerliche Demokratie zu dem, wofür Marx sie gehalten hat und der Staat zum geschäftsführenden Ausschuss des Kapitals.

Und in Stuttgart 21 scheint eine Eiterbeule aufgebrochen zu sein, aus der eben das zunehmend ausströmt. Sichtbar wird eine Technokaste, die Demokratie, Rechtsstaat und Parlamentarismus nur mehr als Werkzeugkästen betrachtet, aus denen man sich bedient, um seine eigenen Partikularinteressen legitimiert zum machen. Unabhängig von der Frage, ob sie dies auch tatsächlich sind. Als in Stuttgart klar wurde, dass den Bürgern das Herz ihrer Stadt von dieser Nomenklatura enteignet und zerstört werden sollte, weil sie das in ihrem Interesse fand, und obwohl es nicht im Interesse der Bürger und der Stadt war, platzte der demokratisch-rechtsstaatliche Schein und das Bürgertum explodierte.

Und plötzlich wurde auch sichtbar, welches antidemokratische Gift sich in dieser Nomenklatura mittlerweile angesammelt hatte. Dem Volk, das seine Souveränität einfordert wird Missachtung von Demokratie und Justiz vorgeworfen. Ein Vorwurf, dessen Perfidie darin liegt, dass er eine Schmähung von Demokratie als reines Formelwerk zum Austricksen des Souveräns beinhaltet. Und dass er Justiz ganz selbstverständlich als willfährigen Büttel der Wirtschafts- und Regierungsinteressen sieht. Dass sie das gelegentlich aus freien Stücken auch ist, macht die Sache nur noch schlimmer, ist aber nicht das, wofür unsere Verfassung steht.

In grotesker Umkehrung der Tatsachen wird von einer Herrschaftskaste, die ihre egoistischen Minderheitsinteressen notfalls mit Gewalt durchpeitschen will, einer bürgerlichen Mehrheit, die für das Gemeinwohl in Form einer lebenswerten Stadt kämpft, egoistisches Beharren auf Einzelinteressen vorgeworfen.(5)

Der Gipfel ist schließlich erreicht, wenn ausgerechnet der Präsident des Verfassungsgerichts auf die Würde seines Amtes pfeift und sich solchen zweifelhaften Argumentationen anschließt.(5) Eine Parteinahme, die an den Grundfesten des politischen Zusammenhalts in einem Staat rührt, in dem die Verfassung an die Stelle einer Zivilreligion getreten ist und das Verfassungsgericht vatikanische Züge trägt, wenn es seine Wahrheiten quasi ex cathedra vorträgt.

Und hier wird dann auch sichtbar, welche verheerenden Langfristwirkungen die Grundlüge dieser Republik zeitigt, nämlich, dass es der dumme Pöbel gewesen sei, der die Nazis an die Macht gebracht habe und nicht mächtige Wirtschaftsinteressen, ein willfähriges Beamtentum nebst ebensolcher zu allem bereiten Justiz; eine autoritäre Politikerkaste; ein Militär, das weder seine Niederlage, noch die neue Demokratie akzeptieren wollte; und Parteien schließlich, die zu verantwortlichem Handeln nicht fähig waren. Und das alles auf der Grundlage von wirtschaftlichem Chaos und sozialem Elend. Das Volk kam zuletzt. Gedemütigt, verführt, manipuliert. Und dennoch mehrheitlich zunächst nicht bereit, die Nazis demokratisch an die Macht zu bringen.

Aber dann marschierte es doch mit. Und gab den wahrhaft Schuldigen damit in der neuen Republik den willkommenen Vorwand, sich selbst zu entschulden und dem Volk die volle Verantwortung für das Naziregime aufzubürden und die volle Demokratie zu verweigern.

Das war lange nicht erkennbar. Im Streit der Verfassungsversammlung um Rechts- und Sozialstaatsprinzip flammte der Grundwiderspruch des gesamten Systems zwar kurz auf, endete aber in einem Scheinkompromiss, der zugestanden wurde, weil man für den Wiederaufbau Kooperation und Solidarität brauchte. Und dann war da ja auch noch die reale Bedrohung durch das konkurrierende System des Sozialismus.

So konnte der Sozialstaat lange wachsen und das System stabilisieren. Selbst in der Wirtschaft war Demokratisierung durch Mitbestimmung möglich. Am chronischen Totschweigen und Nichtbeachten des Art. 14 (2) GG („Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“) (6) aber konnte man ablesen, dass die herrschende Nomenklatura nie voll hinter dem Grundgesetz gestanden war.

Was das mit Stuttgart21 zu tun hat? Nun, es sieht ganz so aus, als ob die Bahn, obwohl NOCH Bundesunternehmen und damit im Besitz des deutschen Volkes, von ihren Managern aus der Privatwirtschaft – vorwiegend denen aus dem Daimlerkonzern – konsequent auf Gewinnmaximierung getrimmt wird und ihren Gemeinwohlauftrag fundamental verletzt. Und dabei offenbar auch ganz und gar un-marktwirtschaftlich ihre Marktmacht ausspielt.(7)

Auch und gerade in Stuttgart, wo nicht nur das Gemeinwohl, sondern auch die körperliche Unversehrtheit von Demonstranten mit Füssen getreten wurde, um eine illegale Baumfällung vorzunehmen, bevor sie gerichtlich gestoppt werden konnte. Während der mitverantwortliche Herr Grube auf Biographie macht und Weinerlichkeit pflegt, anstatt wenigstens ein Minimum an menschlichem Anstand zu zeigen und sich bei den Opfern persönlich zu entschuldigen. (8) Mitverantwortlich deshalb, weil es ja auch noch eine politische Verantwortung gibt. (9) Aber auch deshalb, weil mir der Mann im Hintergrund, Hany Azer, allzu sehr im Hintergrund bleibt, obwohl ich – neben dem Herrn Andriof - vor allem ihm die Legal.illegal-scheißegal-Postition und das Durchpeitschen ohne Rücksicht auf Verluste zutraue. Deshalb hat man ihn und seine Mannen schließlich an die Stelle des ursprünglichen Teams gesetzt. Da würde mich zum Beispiel schon interessieren, wieweit die Erfahrung des ägyptischen Demokratie-Modells sich im politischen Bewusstsein festgesetzt hat. (10)

Soviel zu den Artikeln 14 (2), 2 (2) und 20 (3) GG. (11) Blieben noch Demokratie und Volkssouveränität, die ebenfalls im Art. 20 GG festgehalten sind. Wie es darum bei Stuttgart 21 bestellt war und ist, ist nun hinreichend öffentlich gemacht worden, so dass ich es bei den zwei wichtigsten Links dazu belassen möchte. (12) Und mit einem zentral entlarvenden Ausspruch des damaligen Bahnchefs Dürr in einem Interview mit den Stuttgarter Nachrichten vom 14.02.1995 möchte ich diesen Beitrag schließen:

Die Art der Präsentation damals im April 1994 war ein überfallartiger Vorgang. Gegner und Skeptiker sind nicht imstande gewesen, die Sache zu zerreden. Ein Musterbeispiel, wie man solche Großprojekte vorstellen muss.“ (Zitiert nach einer Rede von Hilde Mattheis,SPD, am 25.10.2010)

Zerreden“. Das ist das Synonym der Technokaste für Demokratie. WIR, die Manager und unsere Ingenieure, wissen, was das Beste ist. Politik und Justiz haben gefälligst dafür zu sorgen, dass es demokratisch und juristisch legitimiert wird. Und der Bürger hat gefälligst das Maul zu halten. Soll das die Zukunft unserer Demokratie sein? Oder zeigen wir solchem Technofaschismus jetzt endlich die Rote Karte?

(1) www.bei-abriss-aufstand.de/2010/11/06/medienberichte-6-11/

(2) stuttgart21.blog.de/

(3) www.politblogger.eu/

(4) www.nachdenkseiten.de/

(5) www.focus.de/politik/deutschland/stuttgart-21/interessenskonflikte-stuttgart-21-weckt-furcht-vor-dominoeffekt_aid_560601.html?utm_source=twitterfeed&;;;utm_medium=twitter

www.scribd.com/doc/38161775/Spiegel-Aufbruch-nach-Bratislava

www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2685353_0_6719_-lobbyismus-fuer-ece-das-nuetzliche-netzwerk-des-herrn-otto.html

(6) www.sueddeutsche.de/politik/schlichtug-bei-stuttgart-vosskuhle-es-muss-ein-schlusspunkt-gesetzt-werden-1.1012669

(7) www.gesetze-im-internet.de/gg/art_14.html

(8) railomotive.com/2010/11/uber-stuttgart-21-guterverkehrsmagistralen-und-kasse-machen-mit-planungskosten/

www.fr-online.de/wirtschaft/bahn-profitiert-von-projekt-stuttgart-21/-/1472780/3210096/-/index.html

www.sueddeutsche.de/politik/bahn-chef-grube-im-interview-stuttgart-ich-falle-nicht-um-1.1007360

www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2669360_0_8321_-baumfaellaktion-im-schlossgarten-bahn-ignoriert-order-der-aufsichtsbehoerde.html

www.bei-abriss-aufstand.de/2010/10/14/bund-pm-von-heute-baumfallarbeiten-waren-rechtswidrig/

(9) www.zeit.de/2010/45/Bahnchef-Grube?page=all

(10) www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2697324_0_9223_-s-21-untersuchungsausschuss-mappus-wusste-von-wasserwerfern.html

www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2689897_0_2234_-tanja-goenner-die-achse-der-macht-in-stuttgart.html

(11) www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2678068_0_5496_-ex-chefplaner-der-bahn-projektbeschluss-in-gutsherrenmanier-.html

de.wikipedia.org/wiki/Hany_Azer

www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2407345_0_6768_-stuttgart-21-projektleiter-hany-azer-der-vollstrecker.html

Außerordentlich aufschlussreich und mehr im Detail der Leserbrief eines Ex-Bahnmitarbeiters:

www.s21.siegfried-busch.de/page23/page68/page78/page78.html

(12) www.gesetze-im-internet.de/gg/art_2.html

www.gesetze-im-internet.de/gg/art_20.html

(13) www.sueddeutsche.de/politik/umstrittenes-bahnprojekt-stuttgart-und-der-unheilbare-mangel-1.1013415

www.zeit.de/2010/39/Bahnprojekt-Stuttgart-21?page=all

Links ergänzt am 07.11.2010, 16:25 h

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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