Victors Welt (3)

Kurzgeschichte Victor konnte es eigentlich nur im bekifften Zustand ertragen, Menschen zu begegnen.

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Victor konnte es eigentlich nur im bekifften Zustand ertragen, Menschen zu begegnen. Wenn er nicht bekifft war, dann konnte er bereits kaum seine Wohnung verlassen.

In seiner Wohnung waren keine schweren Entscheidungen zu treffen. Wenn er Hunger hatte ging er in die Küche, wenn er aufs Klo musste ging er aufs Klo, sonst saß er vor dem Fernseher mit seinem Laptop auf den Knien, schaute fern und surfte im Internet.

Aber wenn Victor seine Wohnung verließ, wenn Victor mit der Außenwelt in Berührung kam, mit seinen Mitmenschen, dann waren die Entscheidungen schwierig, dann wurden sie ihm aufgedrängt, dann wurden bestimmte Entscheidungen von ihm verlangt.

Vor allem diese vermeintliche Alternativlosigkeit bestimmter Entscheidungen trieb Victor beinahe in der Wahnsinn. Zu Schulzeiten ging das noch. Da war das bei ihm, wie das bei den anderen Schülern auch war. Da stellte er es nicht in Frage, dass er um acht Uhr in der Schule zu sein hatte, da war das wie im falschen Film, wenn er sich vormittags, vielleicht wegen eines Arzttermins, fern der Schule herumtrieb.

Aber zu Studentenzeiten änderte sich das. Die Gedanken über die Alternativen, die es ja gab, suchten ihn heim. Die Gedanken über die Alternativen zu den Vorlesungsterminen, zu den Seminaren, zu den Hausarbeiten, zu den Prüfungen. Victor wäre gerne einfach überall hingegangen, hätte gerne diese Termine einfach eingehalten ohne darüber nachzudenken, aber dieses Nicht-Nachdenken, wie in der Schulzeit, war ihm nicht mehr vergönnt.

Vor jeder Vorlesung, vor jeder Prüfung, vor jedem Termin, zu dem er eigentlich hinzugehen hatte, kam der Gedanke an die Alternative, also an das Nicht-Wahrnehmen des Termins, der Gedanke daran, statt dessen über den Kuh-Damm zu spazieren, nicht, weil er so gerne über den Kuh-Damm spazierte, sondern weil ihn die Alternative so sehr reizte, weil ihn die Alternative nicht losließ.

Das war es: Je mehr sich ein bestimmter Termin, eine bestimmte Pflicht als alternativlos darstellte, je dringender musste sich Victor der Alternative vergewissern, sie sich beweisen.

Die Sache weitete sich aus. Am S-Bahn-Hof die Alternative vor die S-Bahn zu springen (als Alternative, nicht weil Victor Lebensmüde gewesen wäre), beim Friseur die Alternative sich die Haare abrasieren zu lassen, im Supermarkt die Alternative zu klauen.

Überhaupt das mit den Straftaten. Diese Verbote, auf die eine Strafe stand, eine Anklage, ein Gerichtsverfahren; es war nur eine Frage der Zeit gewesen, dass diese Verbote Victor heimsuchen, sich seiner bemächtigen würden.

Wenn Victor klaute, dann tat er das weiß Gott nicht um Geld zu sparen oder um Dinge zu besitzen, die er sich sonst nicht leisten konnte. Wenn Victor klaute, dann tat er das, weil das Klauen die Alternative zum Bezahlen war.

Als Victor eines Nachts, um kurz vor Mitternacht, am Einkaufszentrum Alexa vorbeikam, an den Schaufenstern, die sich aneinanderreihten, an den ausgestellten Klamotten, die sich den Passanten darboten und gleichzeitig aber auch hinter Glas versteckten, als Victor dort einen Stein liegen sah, ideal von der Größe her, da nahm er diesen Stein und schleuderte ihn in eines der Schaufenster. Das Schaufenster zerbarst, eine Alarmanlage ertönte schrill, Victor ging weiter, langsamen Schrittes, vielleicht 10 Meter, vielleicht auch 50 Meter, von hinten kamen Wachleute, rufend, eilend, die Alternative zum wegrennen war jetzt einfach weiterzulaufen, oder gar stehenzubleiben, aber Victor rannte, rannte in Panik.

In der Gerichtsverhandlung sagte Victor, dass Schuld freien Willen voraussetzen würde und dass freier Wille Alternativen voraussetzen würde. Dieser Alternativen habe er sich vergewissern müssen.

„Aber dann sind Sie doch schuldig,“ sagte der Richter.

„Ja,“ antwortete Victor.

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