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Individualdemokratie Ein ebenso nüchterner wie brillanter Dokumentarfilm kontrastiert Thilo Sarrazins zentrale Behauptungen mit dem Stand der Wissenschaft. Da bleibt nicht viel übrig.

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Vor zwei Tagen sendete 3sat die bemerkenswerte Doku "Dumm geboren" des Deutsch-Afrikaners John A. Kantara (momentan hier noch in der 3sat-Mediathek anzusehen). Er kontrastiert darin populäre Behauptungen des Publizisten Thilo Sarrazin mit den Aussagen von Wissenschaftlern. Die folgenden, direkt dem Film entnommenen Zitate wurden sprachlich geglättet. Dabei habe ich peinlich genau darauf geachtet, den originalen Satzsinn nicht zu entstellen.

Sarrazin bei 3'40'':

98 Prozent aller Wissenschaftler sind der Meinung, dass die gemessene Intelligenz zu 50 - 80 Prozent erblich ist. Ich persönlich tendiere eher zu 80 Prozent.

Vgl. hierzu den Evolutionsbiologen Diethard Tautz bei 7'30'':

Intelligenz hat zweifellos eine genetische Komponente. Sie ist aber durch viele Gene mitbestimmt, was die Evolutionsbiologie "polygenes Merkmal" nennt. Die Regeln der Vererbung solcher Merkmale hat die Wissenschaft noch nicht vollständig verstanden.

Sarrazin bei 4':

Wenn Gruppen unterschiedlicher Intelligenz unterschiedliche Geburtenraten haben, wirkt sich das langfristig auf die Durchschnittsintelligenz der Bevölkerung aus.

Vgl. hierzu den Sozialpsychologen Richard E. Nisbett bei 19'40'':

Für die obere Mittelschicht lässt sich der IQ in sehr starkem Maß durch die Gene erklären. Warum? Nun, dort sind die Umweltbedingungen sehr homogen. [...] Auf der anderen Seite des sozialen Spektrums ... gibt es diesen Zusammenhang praktisch nicht. Warum? Nun, in der Unterschicht sind die Umweltbedingungen extrem heterogen, von Verhältnissen, die denen in der oberen Mittelschicht vergleichbar sind, bis zu in jeder Hinsicht chaotischen und zerstörerischen Einflüssen. Wenn es so riesige Unterschiede gibt, wird die Umwelt zur wichtigsten Einflussgröße des IQs. Gene zählen dann so gut wie überhaupt nicht.

Kantaras Dokumentation enthält noch eine Menge weiterer Aussagen von Wissenschaftlern, die Sarrazins zentrale Behauptungen zumindest dubios erscheinen lassen. Allein die beiden eben erwähnten belegen aber zumindest:

  1. Die Wissenschaft weiß (noch) nicht, in welchem Maß Intelligenz erblich ist.
  2. Je besser Kinder gefördert werden, desto besser kann sich der Anteil an ihrer Intelligenz, der vererbt ist (wie groß dieser auch immer sein mag), entfalten.

Nimmt man Tautz' Aussage hinzu, dass ein Zusammenhang zwischen Hautfarbe bzw. "Rasse" und Intelligenz genetisch nicht nachweisbar ist (bei 6'55''), lässt dies nur folgenden Schluss zu:

Sarrazin versucht (ob wider besseres Wissen oder nicht, weiß ich nicht), zweifellos vorhandene soziale Probleme zu biologisieren. Wer ihm darin folgt, muss wissen, dass er dabei einer pseudo-wissenschaftlichen Argumentation auf den Leim geht. Wenn man Kantaras Film gesehen hat, dürfte man daran eigentlich keinen Zweifel mehr haben.

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Geschrieben von

Stefan Hetzel

Bürger, Publizist, Komponist (autonom, aber vernetzt)

Stefan Hetzel

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