Talkshow und Demokratie - zwei Gefühle

Individualdemokratie Befördern Talkshows insgeheim das Bedürfnis nach stalinistischer Meinungsdiktatur?

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Eine Talkshow zur Lage der Arbeitswelt vom diesjährigen Bloggertreffen "re:publica" in Berlin - dem Kirchentag der Netzgemeinde - , die kluge Leute zu einem wichtigen Thema der Gegenwart fundiert: - aneinander vorbeimonologisieren lässt. Der eigentliche Talk beginnt erst ab Minute 15, vorher polemisiert die Moderatorin ausgiebig gegen ihren Kollegen Günther Jauch - nur um, mit Verlaub, es anschließend nicht viel besser zu machen als dieser.

Wie immer bei politischen Talkshows fühle ich mich von der unstrukturierten Fülle interessanter Gedanken, nachvollziehbarer Analysen und authentischer Erfahrungen überfordert. Das übliche, dreiteilige After-Talkshow-Gefühl stellt sich zuverlässig ein:

  1. Auf Ihre Art hatten alle Recht. Auf ihre Art hatten alle Unrecht.
  2. Mein Gott, wie dumm und inkompetent ich doch bin.
  3. Das Sachgebiet ist viel zu komplex, als dass ich mir darüber wirklich jemals eine Meinung bilden könnte.

Regelmäßig beschleicht mich anschließend ein sinistres Bedürfnis nach stalinistischer Meinungsdiktatur, nach einem zwar sicherlich unterkomplexen, aber operablen (und ebenfalls dreiteiligen)

  1. So ist das Problem zu analysieren.
  2. So ist es zu lösen.
  3. Ende der Diskussion

Wie spannend waren dagegen die Schlichtungsgespräche Stuttgart 21 vor nun auch schon 3 Jahren!

Aber warum?

Vielleicht, weil die Beteiligten klare Rollen hatten (Bauherr, Bahnhofsgegner, Sachverständiger etc.) und erst gar nicht der Anschein erweckt wurde, man würde "auf Augenhöhe" miteinander reden. Das Macht- und Kompetenzgefälle zwischen den grinsenden Granden der Deutschen Bahn und den unbeholfen bis schratig wirkenden Bahnhofsgegnern wurde durch den Schlichter Heiner Geißler gerade nicht wegmoderiert - und eben das wirkte paradoxerweise demokratisch.

Ein "Demokratiegefühl" stellt sich für mich demzufolge dann ein, wenn kontingente Subjekte mit heterogenen Interessen über eine ernsthafte Angelegenheit streiten müssen, das "Talkshowgefühl", wenn homogene Individuen ihre jeweilige Sicht eines Themas sequentiell in Szene setzen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Hetzel

Bürger, Publizist, Komponist (autonom, aber vernetzt)

Stefan Hetzel

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