Wer das Denken von Wikileaks-Gründer Julian Assange verstehen will, sollte mit einer Geschichte beginnen, die er in seinem aktuellen Buch erzählt. Sie handelt von ihm selbst, dem Opernhaus in Sydney und einer Wasserratte. Assange berichtet, dass er sich einmal in das Theater geschlichen hatte, um Goethes’ Faust zu sehen. Nach der Aufführung wartete er vor dem bombastischen Bau, schaute durch ein Fenster zurück – und erblickte eine Wasserratte, die sich über die Reste des Buffets hermachte. Sie hatte es – wie zuvor er selbst – ungesehen ins Innere geschafft.
So frei wie diese Ratte, sagt Assange, seien bald nur noch Menschen, die die Unentrinnbarkeit der elektronischen Überwachung verstanden haben. Nur eine „Elite von High-Tech-Rebe
-Tech-Rebellen“ könnte sich im auf Hochglanz polierten, aber total kontrollierbaren Internet noch autonom bewegen und es für politische Zwecke nutzen.Auf fast 200 Seiten hat Assange ein Gespräch mit drei Hackern im Wortlaut aufgeschrieben, das er für seine Interviewsendung im russischen Auslands-TV-Sender RT geführt hat. Mit dabei: der Deutsche Andy Müller-Maguhn, langjähriger Sprecher des Hackervereins Chaos Computer Club, der US-amerikanische Internetaktivist Jacob Appelbaum sowie Jérémie Zimmermann von Frankreichs Digitalrechtsorganisation Quadrature du Net. Obwohl die englische Version des Buchs in Online-Tauschbörsen kostenlos zu haben ist (bit.ly/UaYUux), hat sich der Campus-Verlag entschlossen, die deutsche Übersetzung nun konventionell zu vermarkten.Ein Grund für diesen Schritt liegt wohl in der Geldnot Assanges, der nach einigen teuren Prozessen in der Londoner Botschaft Ecuadors Asyl gefunden hat. Zum anderen erklärt sich die Entscheidung wohl daraus, dass der Band Leser ansprechen soll, die keine Technikfreaks werden wollen und trotzdem Eingriffe in die Bürgerrechte via Netzwerkkabel fürchten.Für all jene erklärt etwa Andy Müller-Maguhn wie günstig die Überwachung elektronischer Kommunikation für Sicherheitsbehörden inzwischen geworden ist. So koste etwa die Aufzeichnung aller deutschen Festnetzgespräche eines Jahres gerade einmal 30 Millionen Euro – und damit nur den Bruchteil des Anschaffungspreises eines Düsenjets. Oder Jacob Appelbaum berichtet darüber, wie US-amerikanische Geheimdienste Google zwangen, Daten über seine Kommunikationspartner auszuhändigen. Insofern seien selbst „nicht-öffentliche“ Informationen, die Firmen wie Facebook, Twitter und Co. über ihre Nutzer sammeln, potenzielle Erweiterungen staatlicher Datenbestände über die Bürger.Es sind alarmierende Szenarien, die alle in einen Satz münden: „Das Internet ist eine Gefahr für die menschliche Zivilisation.“ Die Autoren scheuen sich jedenfalls nicht vor großen Worten. Und selbst wenn viele der Aussagen fragwürdig oder nur schwach belegt sind, am Ende versteht der Leser, was gemeint ist: dass die Verantwortung des Einzelnen mit der Ausbreitung des Internets gewachsen ist. Assange und seine Gesprächspartner sind überzeugt, dass die meisten Netznutzer dieser Verantwortung derzeit nicht gerecht werden.Guckt nur her, ihr seht nichtsDabei hat die Cypherpunk-Bewegung schon Anfang der neunziger Jahre eine Antwort entwickelt. Ihr Name leitet sich von den Wörtern cipher (chiffrieren), cyber und punk ab: Damals machte eine weltweit vernetzte Gruppe von Informatikern den Programmcode für Kryptografie-Software öffentlich. Die davon verschlüsselten Botschaften können selbst von den stärksten Superrechnern der potentesten Geheimdienste erst nach Jahrzehnten geknackt werden. Seither ist Bürgern und Aktivisten möglich, was früher nur staatlichen Stellen vorbehalten war: absolut private Kommunikation.Die Cypherpunks erhofften sich von der Verbreitung der Kryptografie die Befreiung der Massen vom allgegenwärtigen Auge der Großen Brüder in Polizeibehörden und Geheimdiensten. Und zumindest technisch wurde die Utopie wahr, zum Beispiel im Tor-Netzwerk – einem Teilnetz des Internets, in dem Menschen mit geringem Aufwand anonym surfen und Daten austauschen. Das Problem: Bis heute verwenden die meisten das Netzwerk nicht. Auch gegen diesen Umstand will das Buch ankämpfen.Julian Assange mag selbstgerecht und paranoid sein. Auch seinen pessimistischen Nerd-Elitismus, wie er sich etwa in dem Ratten-Vergleich zeigt, wird nicht jeder sympathisch finden. Falsch werden seine Warnungen dadurch aber nicht. Der Band gibt eine verständliche Einführung in die Gedankenwelt vieler, die für digitale Bürgerrechte eintreten und den Schutz der Anonymität im Netz hochhalten. Das ist angesichts der Komplexität dieser Themen eine Leistung. Und es macht klar, was im täglichen Hickhack der Piratenpartei, in den Debatten um Netzsperren und das Urheberrecht untergeht: dass Fragen der Netzpolitik stets Freiheitsrechte betreffen, ohne die weder nationale noch weltweit vernetzte Bürgergesellschaften denkbar sind.