Über Velten?

Berliner Umland Was soll man über einen Ort schreiben, der sich nicht in die Gegenwart traut, auch wenn sein Marketing ihn in einem "regionalen Wachstumskern" verortet?

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Schon seit Wochen trage ich mich mit dem Gedanken, einen Text über Velten zu schreiben. Ich habe Freunde und sogar lockere Bekannte zugeschwallt mit unreifen Metaphern und halbgaren Vergleichen und bin doch nicht weitergekommen und habe nicht eine Zeile geschrieben. Aber vielleicht will ich den Text ja auch eigentlich gar nicht schreiben, vielleicht weigert sich mein Unterbewusstsein, weil ihm die offenbare Tristesse dieser Kleinstadt vor den Toren Berlins zu nahe geht, und sagt mir mein Gewissen, dass man nicht schreiben soll über Dinge, die man nicht fühlend versteht.

Es wäre ja auch schon diese Phrase unzutreffend, denn erstens liegt noch Hennigsdorf zwischen Velten und Berlin, und vor dessen Toren liegen zweitens Städte wie Strausberg oder Teltow, aber Velten? Da lässt der erste Blick einen eher an Brandmauern denken, hinter denen zivilisierte Menschen ihren Sperrmüll abwerfen und nach dessen Beseitigung einen Spielplatz anlegen mit viel Sand für Klein-Hendryk und ein paar Klettergerüsten für Lale in tollen bunten Farben, die natürlich leicht verdaulich sein müssten, weil sonst die makrobiotische Erziehung zum Deibel wäre. Das wäre auch tatsächlich ein Argument, denn was ist schon berichtenswert an gesichtslosen Industriebetrieben und Lagerhallen, auch wenn die mit noch so tollen bunten Dächern daliegen und sich der Brachen zu erwehren versuchen, die sie umgeben? Was wäre erwähnenswert an zugewachsenen Gleisen, die einst ihren heldenhaften Weg gefressen haben von Lärm und Schmutz zu Dreck und Krach und jetzt nur noch lästig rumliegen zwischen irgendwoher und nirgendwohin und darauf warten, dass sie jemand wegräumt? Normalerweise verpuppt sich solch ein Gleis und erwacht neu als Radweg, doch den gibt es hier schon, auch wenn nie jemand darauf fährt und auf dem Fußweg nie jemand geht. Eine Straße zweigt im rechten Winkel ab. Sie führt an einer toten Lagerhalle entlang und endet im Nichts. ”Zur Erinnerung" heißt sie.

Einmal stündlich fährt von Süden her ein Bus an ihr vorbei, nachdem er zuvor eine sinnlose Runde durch ein ”Businesspark” genanntes Ensemble hässlicher Gebäude gedreht hat. Sehenswert ist dort nur eins, nämlich die gründlich missratenen Laternenmasten: stählerne Wurzelzeichen mit Schnörkeln, platzgreifende Frakturhäkchen hinter den Punkten einer Agenda. Lale würde sich vermutlich halbtot lachen, führte eine Radtour sie an diesen röhrenen Mutwilligkeiten vorbei, im Gegensatz zu manchen Designern haben Kinder ja ein Gespür für Komik. Und allein mit Mutmaßungen über die manische Originalität dieser Laternenpfähle ließen sich Seiten füllen, aber über Velten? Schamgefühl scheint man zu besitzen, das würde erklären, wieso man den ”Park” im Wald versteckt hat, statt eine der großen Brachflächen dafür zu verwenden, über die die Stadt reichlich verfügt. Aber vielleicht tat die Erinnerung noch zu sehr weh. Öfen hat man einst hergestellt in dieser Stadt; wer immer in Berlin sich einen Ofen bauen ließ, die Kacheln kamen von hier. Das ist vorbei, lange vorbei. Öfen werden heute nicht gebaut, sie werden abgerissen.

Würde ich über Velten schreiben, ich glaube, ich würde mit meinem ersten Eindruck beginnen: Velten ist eine Stadt wie ein Spiegelei. Und zwar nicht von einem frisch gelegten Ei, bei dem das Eiweiß das Dotter fest in der Mitte hält. Das Ei, aus dem Velten geschlagen ist, das hat schon eine ganze Weile gelegen. Der Ort wirkt wie zerlaufen, fängt irgendwo an, hört irgendwo auf, und wenn man nicht aufpasst, hat man das Gelbe durchschnitten, ohne es zu merken. Mir ist das schon öfter passiert, in dem anderen, dichter getakteten Bus, der vom benachbarten Marwitz her, Teil einer Gemeinde mit dem gruseligen Namen Oberkrämer, hereingerumpelt kommt, an einem Super- und Getränkemarkt vorbei und einer fahrbaren Hähnchenbraterei und dann mitunter warten muss, erst vielleicht an der Bahnschranke, dann weil er links abbiegen will. Man hat dann Zeit, den Blick auf der Ruine eines Hauses ruhen zu lassen, die nie abgeräumt zu werden scheint, oder in den schuttgefüllten Hof dahinter. Man träumt vielleicht, was da wohl mal gestanden haben mag, wer dort gelebt hat, als Kind gespielt und sich gezankt und weitergespielt und getobt und gelacht, oder ob es vielleicht nicht spielen konnte, weil da nicht Leben war, sondern Volkseigentum, vor dem man strammsteht, aber keine Bocksprünge macht. Und während man weiterträumt und sich vielleicht fragt, was wohl aus dem Kind geworden sein mag, ob es weiß, dass das Haus seiner Kindheit heute ein Schutthaufen ist, und ob es wohl traurig darüber sei oder schadenfroh - dann geht es einem wie mir so oft, denn dann ist man schon auf der Straße nach Germendorf, wo sich die Stadt in gesichtslosen Häuschen verschlafen verliert, und wieder einmal hat man das Gefühl, etwas verpasst zu haben, wieder einmal fragt man sich, wo in Velten denn nun eigentlich Velten war. In einem dieser Momente kam mir der Gedanke an einen Text: Vielleicht würde ich festhalten können, was so flüchtig scheint.

Ein einziges Mal während meiner vielen, busbewehrten Schnitte durch die Stadt, ein einziges Mal habe ich Leben gesehen in Velten. Es schien aus den Augen eines jungen Mannes, der gemeinsam mit anderen Schülern am Bahnhof zugestiegen war. Er breitete gerade seine Schwingen aus und blickte selbstbewusst in die Welt und neugierig, wohin ihn sein Flug aus dem Nest denn bringen solle. Ich wünschte ihm, es möge am liebsten gleich sein und weit, sehr weit weg, denn ich wusste: Wenn er es nicht bald schafft abzuspringen, werden seine zurückbleibenden Geschwister ihn an den Beinen packen und zu sich herunterziehen, man wird ihm, stolz auf das eigene Weltniveau, Pascal oder eine andere obsolete Sprache beibringen, und dann wird er Programme schreiben für Waschmaschinen, Föhne oder Rasenmäher, eine Modelleisenbahn im Keller haben und seine Kinder schlagen, damit er wenigstens irgendetwas anders macht als seine Eltern. Schönheit auf dem Land ist zum Sterben verurteilt, so oder so. Aber noch während ich darüber nachsann, stieg er auch schon wieder aus und ein paar andere mit ihm, und als ich mich aus dem anfahrenden Bus noch einmal nach ihm umdrehte, waren sie verschwunden, als habe der Erdboden sie aufgesaugt - oder als wären sie überhaupt nie dagewesen, als habe ich sie mir nur eingebildet. Schon das Auftauchen einer Gruppe Jugendlicher in Velten war mir so ungewöhnlich erschienen und hatte mich so überrascht, dass ich durchaus geneigt bin zu glauben, das sei alles nur eine Fiktion, ein Tagtraum gewesen.

Es war also zweierlei, es war der Wunsch, dem verschwundenen Leben wieder zu begegnen, und es war der Gedanke an einen Text über diese ungreifbare Ortschaft, was mich bewogen hat, sie zu Fuß zu erfühlen, ohne die Abschirmung durch Glas und Blech. Außerdem war mir bei meiner letzten Durchfahrt ein Richtungsschild ”Zentrum” aufgefallen, jetzt erst, ich muss es gestehen. Den Ausschlag gab schließlich der Zufall, als ich an einem Donnerstag in Hennigsdorf ankommend auf dem Nachbargleis einen Zug vorfand, der eben genau bis ”Velten (Mark)” fahren sollte, also von einem Bahnhof zum nächsten. Er war recht gut besetzt und es ging durchaus geschäftig zu beim Ausstieg, was mich beides freute: Ich wähnte mich meinem Ziel näher. Wir erklommen die steilen Treppen zu der heruntergekommenen Brücke, die über die Gleise führt und der einzige Zugang zum Bahnsteig ist, stiegen auf der anderen Seite wieder hinab, überquerten eine kleine Fläche festgetrampelten und gefrorenen Lehms, mit dem die Bahn ihr Eigentum von dem städtischen abgrenzt, auf dem Vorplatz schlug ich die Richtung ein, die das erwähnte Schild weist - und war alleine. Von den geschätzt zwei Dutzend Menschen, die der Zug befördert hatte, war ich der einzige, der den Weg fortsetzte in Richtung auf das Zentrum von Velten. Die anderen? Ich beginne mich zu fragen, ob die nicht wirklich der Erdboden verschluckt haben könnte.

Der Weg, den ich gegangen bin vom Bahnhofsvorplatz und wieder zu ihm zurück umschreibt ein Karree von vielleicht einhundert mal sechshundert Metern. Er berührt einen Friedhof, eine Kirche, drei Bankfilialen, davon eine mit Post, einen Lebensmittel-Discounter und einen für Drogeriewaren und ist garniert mit drei Eurasien-Gastrokombinaten (Nudeldöner mit Saladt komplett, Pommespfanne mit Ketchup und Hühne’flei’). In seiner Mitte liegt eine architektonische Missgeburt mit dem Charme eines Wellblechhangars, die wie zum Hohn auch noch den trinomischen Sprachunfall ”Ofen-Stadt-Halle” tragen muss. Mir sind begegnet keine zwanzig Menschen und ein Hund. Und Autos natürlich, aber die sind ubiquitär. Eine Frau schob einen Kinderwagen, aber ob ein Kind darin lag? Ein schönes altes Schulgebäude ziert das Zentrum mit einem liebevoll gestalteten Spielplatz daneben. Aber Lale wäre einsam hier, kein Kind habe ich gesehen, kein Kinderlachen gehört. Überhaupt ist Stille ein auffallendes Merkmal: Als ich husten musste, ertappte ich mich bei dem Impuls zu warten, bis ein Auto vorbeifuhr, aus Angst, ein Fenster könne aufgehen. Donnerstag nachmittags um fünf. Rush Hour.

Die Stadt ist gewiss nicht arm. Die Industriegebiete in ihrem Süden werden zuverlässig Steuern in ihre Kasse spülen, und man gibt sich Mühe in und mit Velten, ohne jeden Zweifel. Die Hauptstraßen und Bürgersteige sind erneuert, die alten Häuser liebevoll restauriert und die Plattenbauten wärmegedämmt und freundlich zartgelb gestrichen, eine große Anzahl Alleebäume hat man neu gepflanzt. Gelegentlich schießt man über das Ziel hinaus, so bei der Restaurierung des Rathauses, dem etwas weniger Possierlichkeit wohl gut tun würde. Auch hat das Leben in den alten Platanen das Chainsaw Massacre vom vorletzten Jahr tatsächlich überstanden; es trieb neue Zweige und ließ die Bäume im Sommer aussehen wie riesenhafte Broccoli und jetzt, gegen Ende dieses Winters, der nicht enden will, wie Sträuße aus etwas zu groß geratenen Rasierpinseln. Das hat durchaus seinen Reiz und man darf gespannt sein, ob die Linden im Stadtgebiet, über die die Vandalen mit der Säge diesmal hergefallen sind, das auch so geduldig hinnehmen werden. Sein Tafelsilber hat man nicht verhökert wie so viele andere Gemeinden und ist jetzt immer noch im Besitz eigener Stadtwerke und eines eigenen Stromversorgers. Aber es sind die kleinen Dinge, in denen Menschen sich äußern. An einem Trafohäuschen dieses Unternehmens stehen folgende aufklärerische Sätzchen zu lesen: ”Local heißt: von hier” und ”Local heißt: Service” - wie selbstunsicher ist jemand, der so etwas an seine Hauswand schreibt? - Velten hat seinen Sinn verloren.

Früher war die Industrie mitten im Ort, da machte sie noch Lärm und Dreck. Heute ist sie sauber und außerhalb. Und im Ort ein Loch aus Stille. Dass man früher hier Öfen baute, erfährt man auf Schritt und Tritt, denn in viele der neu angelegten Bürgersteige hat man alle paar Meter Ziegel eingesetzt, die wie Ofenkacheln aussehen sollen. Dazu gibt es ein Ofenmuseum und ein paar Ruinen ehemaliger Fabriken, ausgeschildert und mit erläuternden Texten versehen. Die Deutsche Tonstraße, was immer das ist, beginnt hier oder biegt nur ab oder was auch immer. Velten hat seinen Sinn verloren.

Und wenn Millionen pensionierter Studienräte die Tonstraße hinaufgepilgert kämen, um im Ofenmuseum ihre Naschlust auf Bildungshäppchen zu befriedigen, sie werden ihn nicht im Gepäck haben. Velten hat seinen Sinn verloren.

Dabei gibt es ein Heute in Velten, und wenn ich einen Text über die Stadt schreiben würde, dann dürfte das auf keinen Fall fehlen. Ich meine den neu gestalteten Bahnhofsvorplatz, denn der ist wirklich das Gelbe, naja: Dunkelgelbe vom Ei. Ich weiß nicht, ob ich so etwas schon einmal woanders gesehen habe, auch würde ich ihn eher einer größeren Stadt zutrauen, Wolfsburg vielleicht. Aber ich mag ihn sehr, und dass die Busse, die sich ihm aus Süden nähern, eine Runde um ihn herum fahren müssen, hat verdient, wer immer ihn sich ausgedacht hat. Der Kontrast aus weißen Gehwegplatten und den rostigen Eisenumfassungen der Pflanzbeete, das Aufnehmen des Kontrastes mit Kies und Mulch, das diskrete Spiel mit der Horizontalen, ich mag diesen Platz. Die Pfähle für die neu gepflanzten Bäume führen Orange als dritte Farbe ein, das wirkt zuerst ein wenig aufgesetzt, aber abends verschwinden sie fast in dem orangen Licht, in das er getaucht, ja wirklich: getaucht ist. Fünf ebenfalls orange Plexiglaswürfel hat man darauf gestellt, die nachts von innen beleuchtet werden. Das alles wirkt heiter und einladend und bei Dunkelheit durchaus anheimelnd. Aber nur ein Gastronom an der Ecke hat das Farbmotiv in seiner Außenbeleuchtung aufgegriffen, sonst traut sich niemand, und der schöne Platz wirkt ungewollt wie ein spielendes Kind in einem Museum. Velten hat seinen Sinn verloren und will keinen neuen.

Es gibt einen See ganz in der Nähe, erfuhr ich, als ich mit der dritten Buslinie, die Velten sporadisch mit dem Umland verbindet, den Ort verließ. Er heißt Bernsteinsee, im Sommer kann man Wasserski auf ihm fahren. Dann ist dort vermutlich viel los, Männer werden angeben und Enten sich überfressen und es werden sich bestimmt Reihen launiger Zeilen darüber finden lassen. Aber über Velten?

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