Porträt M.I.A. prangerte schon vor Jahren die Online-Überwachung an und verstört mit politischer Gewalt in Musikvideos. Ihr neues Album beschäftigt sich mit ihrer Herkunft
„Ich könnte ein Genie oder eine Schwindlerin sein“
Foto: Daniel Sannwald
"Ich bin keine Verschwörungstheoretikerin", sagt M.I.A, deren bürgerlicher Name Mathangi Arulpragasam lautet. Sie ist die große Nonkonformistin des Pop, und dennoch wird sie beinahe wütend, wenn man ihre Aussagen auf diese Weise hinterfragt. "Was ich vor drei Jahren über das Internet gesagt habe, passiert jetzt gerade. Es steht auf den Titelseiten aller Zeitungen."
2010 veröffentlichte M.I.A. ihr bisher letztes Album Maya. Der erste Track darauf erzählt von Social-Media-Firmen, die mit staatlichen Behörden zusammenarbeiten, um die Bevölkerung auszuspähen. Viele haben ihr damals politische Naivität oder leichte Paranoia vorgeworfen. Jetzt, nach Edward Snowdens Enthüllungen, wirkt es, als habe sie nur das Offensichtliche erzählt
tliche erzählt. Fühlt sie sich bestätigt? „Ja, insofern finde ich es großartig“, sagt sie und grinst.Nach Maya beschloss M.I.A., dass es erst mal genug sei. Die Musik langweilte sie. Sie zog sich mit ihrem Sohn Ikhyd nach Indien zurück. Jetzt ist sie mit einem neuen Album zurück. Wir treffen uns im Osten Londons, wo sie nun wieder lebt. Mit 38 wirkt sie immer noch mädchenhaft – hübsch, grell, laut. Und sie hat Ikhyd dabei, einen vierjährigen Jungen mit großen braunen Augen. Erst seit Kurzem ist ein Sorgerechtsstreit beendet, der für einige Medienaufmerksamkeit sorgte und bei dem es zwischendurch so aussah, als würde M.I.A. Ikhyd an ihren Ex-Verlobten verlieren, wenn sie nicht bereit sei, ihren Sohn in den USA großzuziehen. Ruhe, sagt sie, sei in ihrem Leben immer "die Ruhe vor dem Sturm".Schreck über den HitSie ist stolz darauf, trotz allem normal geblieben zu sein. Ihr Agent erzählt, sie gehöre zu den wenigen Stars, die allein zu ihren Terminen gehen, ohne Brimborium. Aber das ist eine arg weitgefasste Definition von Normalität. Sicher, wir treffen uns in der Nähe der Sozialwohnung, in der sie aufwuchs. Das Interview findet aber in einem schicken Club statt, zu dem nur Mitglieder Zutritt haben. Auf dem Dach gibt es einen Pool, auf Sonnenliegen langweilen sich Hipster. M.I.A. passt perfekt hierher: blumenbedruckte Seiden-Shorts, große Sonnenbrille, jede Menge Armreifen, jede Menge Selbstbewusstsein.Ikhyd fängt an zu weinen. Ihm wurde versprochen, er könne im Pool spielen, aber das Becken ist für die Erwachsenen reserviert, die dort ihre Bahnen schwimmen. M.I.A. wischt seine Tränen ab und macht mit ihm aus, dass er etwas Schönes machen darf, während wir so lange über Verschwörungen, Terrorismus und Musik reden.Als M.I.A. Mitte der Nullerjahre in der Musikszene auftauchte, war sie das perfekte Gegenstück zum Konfektionspop. Ihre Stücke sind eine ungewohnte, oft geniale Mischung aus Rap, Kinderliedern, indischer Bhangra-Musik, Electronic Dance und Punk. Und sie schreibt sie selbst. Musikkritiker schufen ein eigenes Lexikon, um ihren Sound und seine Schattierungen zu beschreiben. Aber M.I.A. haderte mit dem Erfolg. Als sie mit der Single „Paper Planes“ einen weltweiten Hit hatte, erschrak sie.Für Schlagzeilen sorgte sie dennoch weiterhin. Zum Beispiel als sie 2009 bei den Grammys hochschwanger mit einem weitgehend durchsichtigen Kleid auftrat. Oder als sie in der Halbzeitshow beim Super Bowl 2012 dem Publikum den Mittelfinger zeigte. Sie ist so sehr der perfekte Anti-Popstar, dass manche Musikkritiker nörgeln, ihre Geschichte sei zu gut, um wahr zu sein. Auf ihre Weise sei M.I.A. genauso eine durchgestylte Marke wie Madonna.Immer habe man ihr vorschreiben wollen, was sie machen dürfe und was nicht, sagt M.I.A.: als Mädchen, als Kind einer alleinerziehenden Mutter, als Musikerin, als Produkt. „Wenn du Musik machst, darfst du nicht über Politik reden! Wenn du über Politik redest, darfst du keinen Lippenstift tragen! Wenn du in einem Club tanzt, rede nicht über Sri Lanka!“ Scheiß drauf, dachte sie: „In Wahrheit kann man die Idee der Meinungsfreiheit mit Rap gut verbinden – und das wiederum mit meinem Vater, einem Unberührbaren, den die Leute als Terroristen bezeichnen.“Und genau das macht sie: alles miteinander verbinden. Auf ihrem ersten Album, das nach ihrem tamilischen Vater Arular benannt ist, gleitet ein Song über Flüchtlinge in den sozialistischen Dancetrack "Pull Up The People" über, dann in den prahlerischen Rap "Bucky Done Gun". Auch ihre Videos verraten künstlerischen und politischen Anspruch. Sie sind oft cineastisch. Bei "Bad Girls" mit schnellen Verfolgungsjagden führte Romain Gavras Regie. Mit ihm hatte M.I.A. schon für das Video zu "Born Free" zusammengearbeitet, in dem es um ethnische Säuberungen ging. Rothaarige Menschen werden darin von Polizisten zusammengetrieben, in eine Wüste gebracht und erschossen. Youtube weigerte sich, den 9-Minuten-Clip zu zeigen.Wirklich große Hits hatte M.I.A. bis auf "Paper Planes" eigentlich nicht. Dennoch wollen Künstler wie Jay Z, Kanye West und Madonna unbedingt mit ihr zusammenarbeiten. Wohl in der Hoffnung, dass ein wenig ihrer Credibility auf sie abfärbt.Auf der Dachterasse sprudelt es ohne Unterlass aus M.I.A. heraus: Sie erzählt von anstrengenden Gerichtsterminen im Sorgerechtsstreit, vom Malen, von ihrer Selbstfindung in Indien. Sie berichtet davon, wie sie anfing, sich für Hinduismus zu interessieren und die Ursprünge ihres Namens erforschte. Bei ihrer Musik ging es schon immer stark um Familie. Ihr zweites Album nannte sie nach ihrer Mutter Kala, das dritte hieß Maya. Das ist der Name, mit dem sie in Großbritannien aufwuchs und den sie noch immer trägt, weil er für Engländer einfacher auszusprechen ist. Das neue Album heißt Matangi, ihr Geburtsname.Geboren wurde M.I.A. 1975 in Hounslow, im Südwesten von London. Als sie sechs Monate alt war, zog ihre Familie nach Sri Lanka in die tamilische Stadt Jaffna. An ihren Vater kann sie sich kaum noch erinnern. Gelesen hat sie aber viel über ihn. Er verließ die Familie, um sich dem Kampf für die Unabhängigkeit der Tamilen anzuschließen. Die Mutter musste die drei Kinder allein großziehen. Sie versteckten sich vor der sri-lankischen Armee und gingen schließlich nach Indien. Kurz vor M.I.A.s elftem Geburtstag flüchteten sie nach England, wo ihre Mutter als Näherin für die königliche Familie arbeitete.Wenn M.I.A. heute besonders kämpferisch auftritt, dann auch deshalb, weil sie das Gefühl hat, ihr ganzes Leben kämpfen zu müssen. Als sie sich an einer renommierten Londoner Hochschule für ein Kunststudium bewarb, wurde sie abgelehnt. Doch sie ließ nicht locker und erklärte den Verantwortlichen, wenn sie nicht aufgenommen werde, würde sie als "crackrauchende Prostituierte" enden. Die Geschichte geht so, dass sie nur dank dieser Chuzpe den Platz bekam.Erinnerung an ihren CousinZu M.I.A. wurde sie, als sie nach Sri Lanka ging, um einen Dokumentarfilm über ihren verschollenen Cousin Jana zu drehen. "Am Tag, an dem ich mein Studium abschloss, hörte ich von Jana. Man sagte mir, er sei gestorben. Ein anderer behauptete, er lebe, vegetiere aber nur noch vor sich hin. Wieder ein anderer sagte, er sei M.I.A. – Missing in Action. Wenn in Sri Lanka jemand der Bewegung beitritt, weiß man nie genau, was mit ihm passiert. Jana war wie mein Zwillingsbruder." Aus dem Film wurde eine Ausstellung, schließlich entwickelte sich daraus ihr erstes Album.Als sie daran arbeitete, nahm sie Kontakt mit ihrem Vater auf und erzählte ihm, dass sie das Album nach ihm benennen würde. Er verbot es ihr. Warum? „Keine Ahnung.“ Was hat sie geantwortet? „Der Name ist das Einzige, was du mir gelassen hast und ich werde ihn verdammt nochmal benutzen.“Sie klingt aber auch ehrfürchtig, wenn sie von ihrem Vater erzählt. Er sei als Teenager aus Sri Lanka zum Studium in die Sowjetunion geschickt worden und habe sich dort unter schwierigsten Bedingungen durchsetzen müssen. „Mein Vater ist in einer Lehmhütte aufgewachsen und lernte bei Kerzenlicht. Er war 14, als er ein Stipendium für Russland bekam. Er war unglaublich schlau, der Schlaueste. Als er ankam, lag der Schnee zwei Meter hoch, und er war ganz auf sich allein gestellt. Er studierte dann Naturwissenschaften und Ingenieurswesen. Er hatte kein Bett und schlief auf dem Tisch.“ Es klingt wie ein Märchen. „Er war zäh, denn er war arm. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es in den Sechzigern und Siebzigern in Russland keine Vorurteile gegen Menschen mit dunkler Haut gab. Es war kein Sonntagsspaziergang.“Doch manchmal scheint sie ihren Vater auch zu verachten. In einer Dokumentation über M.I.A. sind Aufnahmen der jungen Maya zu sehen, die anklagend in die Kamera spricht: "Das wird aus einem Kind, dessen Vater fortging und ein Terrorist wurde. Und so hat er die Familie zerstört. – Er war einer der fünf Leute, die die äußerst gewalttätige Terrororganisation Tamil Tigers gegründet haben." Anderen, die ihren Vater als Terroristen bezeichneten, hat sie später aber widersprochen: Er sei ein Freiheitskämpfer in Sri Lankas friedlich-revolutionärer Studentenbewegung Eros gewesen. Welche Version entspricht der Wahrheit? Tatsächlich weiß sie es selbst nicht genau. Innerhalb revolutionärer Gruppen gibt es oft keine eindeutige Trennung zwischen friedlichem und gewaltsamem Protest.Aber egal, fährt sie fort, das Fazit sei, dass er die Familie zerstört habe. In Sri Lanka sei ihr gesagt worden, aus ihr würde nichts werden, weil ihre Mutter alleinerziehend sei. In Großbritannien ging es dann so weiter. „In der Schule meinten die Lehrer: ‚Du wirst im Supermarkt Regale einräumen, weil du keinen Vater hast.‘ Uns Geschwistern wurde also klar, dass wir zehnmal härter würden arbeiten müssen.“ Ist sie heute wütend auf ihren Vater oder stolz? „Weder noch. Ich bin einfach neugierig.“ Und wie sieht sie die Unabhängigkeitsbestrebungen der Tamilen? „Natürlich unterstütze ich das tamilische Volk. Das habe ich immer getan.“ Hat sie noch Kontakt zu ihrem Vater? „Nein, ich bin wie er wohl ein wenig einzelgängerisch. Ich mache gerne mein eigenes Ding und ziehe dann weiter.“ Überhaupt, sagt sie noch, sei das Ganze keine allzu große Sache. „Wir kommen nicht aus einer Kultur, in der man erst mal eine Gruppentherapie macht. Wir sind einfach eine sehr dysfunktionale moderne Familie.“Die Ironie bei dem Sorgerechtsstreit mit ihrem Ex-Verlobten sei, dass sie nach 9/11 aufgrund ihrer Unterstützung für die Tamilen Probleme bei der Einreise in die USA gehabt habe. Und dann, nach der Trennung, konnten sie und ihr Sohn nicht mehr ausreisen. Angeblich bestand das Risiko, sie würde ihn entführen und er müsse ebenfalls ohne Vater aufwachsen. Die Erleichterung darüber, dass sie den Prozess vor ein paar Monaten gewonnen hat, ist ihr auch jetzt noch deutlich anzumerken.Und hält sie sich eigentlich für eine gute Sängerin? „Natürlich nicht. Ich bin im Prinzip gar keine Sängerin. Ich weiß nicht, was ich bin.“ Ist sie Musikerin? „Nein, ich bin Künstlerin.“ In der Dokumentation gibt sie eine gute Definition ihrer selbst: „Ich könnte ein Genie sein oder eine Schwindlerin. Die Linie ist dünn und ich spiele damit.“Und wie fände sie es, wenn ihr neues Album auf den ersten Platz der Charts kommen würde? „Matangi lebt an den Rändern des Mainstream. Es wird nie in die Charts kommen.“ Und wenn doch, fände sie das schrecklich? „Auf jeden Fall.“
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